P. Orlowski: Die Triebkräfte der russischen Revolution [Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 5, 13. Okt. 1917, S. 9-13, Nr. 6, 20. Oktober 1917, S. 10-13, Nr. 8, 3. November 1917, S. 10-14] I. Die Agrarfrage. Die russische Revolution – dieser gewaltige Aufstand der Produktivkräfte gegen veraltete, morsche Gesellschaftsverhältnisse – hat zum Zwecke des Sturzes des Zarenregimes eine Anzahl verschiedener Gesellschaftskräfte vereinigt, die jede ihre eigenen, manchmal gegensätzliche Ziele verfolgt. Manche von diesen Kräften sind bereits in der kurzen Revolutionszeit in Widerspruch zu einander getreten, wie z. B. das liberale Bürgertum und die Arbeiterklasse. Je mehr sich die inneren Triebkräfte der Revolution entwickeln, und die Massen begreifen, dass sie in dieser Umwälzung nicht nur eine eng politische Aufgabe zu erfüllen haben, nicht nur für bessere Herrschaften Kastanien aus dem Feuer herausziehen sollen, sondern im Maße der geschichtlichen Möglichkeit auch ihre eignen Klassenaufgaben verwirklichen, also der „politischen" Revolution einen sozialen Inhalt, geben müssen – wächst die innere Spaltung zwischen revolutionären Bundesgenossen, der Klassenkampf tritt in den Vordergrund und die tiefsten, innersten Ursachen der ganzen Bewegung erscheinen im hellen Tageslichte. Wir werden im Weiteren die hauptsächlichsten revolutionären Klassen näher kennen lernen, ihre Interessen, Ziele und Kampfmittel analysieren. Die größte und zugleich wichtigste ist zweifelsohne die Bauernschaft. Nicht nur ist sie die wichtigste, weil sie die zahlreichste Schicht der russischen Bevölkerung ist, sondern deshalb weil ihre Lebensinteressen die hauptsächlichste wirtschaftliche und soziale Grundlage der russischen Revolution bilden. Während die liberale Bourgeoisie und die Arbeiterschaft die Hindernisse aus dem Wege schaffen wollen, die die freie Entwicklung und den Kampf um ihre Lebensinteressen hemmten, handelt es sich bei der Bauernschaft um etwas größeres: um die Fortschaffung des gutsherrlichen Grundeigentums, um Aneignung des Landes, also, objektiv, um eine soziale Umwälzung in den Agrarverhältnissen. Es soll nicht bloß eine neue politische Verfassung entstehen, es soll zugleich, eine neue Gesellschaftsklasse auf dem Lande gebildet werden: die Klasse der freien Landleute. Russland – dieses Agrarland par excellence – ist gerade in der landwirtschaftlichen Entwicklung am meisten zurückgeblieben. Abgesehen von einigen Gebieten, wo moderner kapitalistischer Betrieb sich eingenistet hat, bleiben die Agrarverhältnisse beinahe auf derselben Stufe wie vor der Reform von 1861. Es sind alte, rückständige Ausbeutungsmethoden im Gange, die eher dem Wucherkapital, als dem Produktionskapital eigen sind. Verpachtung des Bodens an die Bauern, wobei sie in vielen Fällen den Pachtzins nicht in bar, sondern mit der Hälfte (resp. anderem Teil) des Produktes zahlen, oder dafür die Äcker des Gutsherrn mit eigenem Inventar bearbeiten; ähnliche Pachtbedingungen bei Verpachtung von Weide, Waldrechte usw. Es ist im Grunde die alte Leibeigenschaft mit dem Unterschied, dass an Stelle der rechtlichen Abhängigkeit die ökonomische trat. Freilich gab's noch einen Unterschied: der Bauer, der auf seinem Stück Land nicht verhungern wollte, hatte die „Freiheit" es zu verlassen und als Landarbeiter oder als Fabrikarbeiter seine Arbeitskraft zu verkaufen. Von diesem neuerworbenen Rechte hat er auch reichlich Gebrauch gemacht. Es stehen in Russland auf dem Lande zwei große wirtschaftliche Gruppen gegeneinander: der private Grundbesitz, der bis jetzt immer noch vorwiegend dem Erbadel gehört, und das bäuerliche Gemeindeland, unter die ehemaligen Leibeigenen verteilt, unter denen während der letzten ca 60 Jahren eine bedeutende ökonomische Differenzierung eingetreten ist. Wie sich das Land unter einzelnen Gruppen verteilt, zeigen folgende statistische Zahlen: Laut der „Grundbesitz-Statistik für das Jahr 1905" befanden sich im Europäischen Russland: A) im Privatbesitz: 101,1 Millionen Desjatinen1 Land, B) im Gemeindebesitz 138,8 Millionen Desjatinen Land. Von der ersten Kategorie gehören 85,9 Mill. Des. Privateigentümern, 15,8 Mill. dagegen Gesellschaften und Genossenschaften, und zwar: 11,3 Mill. Des. Bauerngenossenschaften (also Kleinbesitz) und 3,7 Mill. Des. industriellen Gesellschaften. Dieses Stück Land von 3,7 Mill. Des. gehört 1,042 Gesellschaften, d. h. im Durchschnitt 3,550 Des. per Gesellschaft. In der Wirklichkeit ist jedoch das Bild bedeutend einleuchtender, da ja von diesen 1,042 Gesellschaften 272 ein Areal von 3,6 Mill. Des. besitzen, also über 13,000 Des. jede. Im Gouvernement Perm z. B. besitzen neun Gesellschaften ca. 1,5 Mill. Des. Das sind Latifundien der alten Fabriken, welche am Anfang ihrer Wirksamkeit kolossale Ländereien mit leibeigenen Bauern als Arbeitskraft von der Regierung erhielten und jetzt durch diesen Grundbesitz die nötige, freilich auch billige, Arbeitskraft an ihre Werke binden. Diese industriellen Unternehmungen haben gewiss vom Standpunkte des Betriebes sehr wenig mit der landwirtschaftlichen Produktion zu tun, dagegen zeigen sie, vielleicht noch krasser als die Landwirtschaft selbst, wie das Monopol auf Grund und Boden in den Händen der Gesellschaftsgruppen, die selber keine landwirtschaftliche Großproduktion treiben, zum Mittel der frühkapitalistischen Ausbeutung des Arbeiters wird Sehen wir uns jetzt an, wie sich der private Einzelbesitz verteilt:
Mehr als die Hälfte der Privatgrundbesitzer besteht aus kleinen Eigentümern, die unter 10 Desjatinen, im Durchschnitt 3,9 Des. Land haben, was man eher Parzellenbesitz als Bauernhof nennen darf. Ein Viertel muss sich durchschnittlich mit 23 Des. – das heißt beim Dreifeldersystem mit für eine Kleinbauernwirtschaft kaum genügendem Areal – begnügen. Nun kommt die nächste Gruppe mit 50 bis 500 Des. per Hof. Es sind zum Teil Großbauern, zum Teil kleinere adeligen Gutsbesitzer. Am Ende kommt der Großgrundbesitz, die Gruppe von 3.7% der Gesamtzahl der Privatgrundbesitzer, der beinahe drei Viertel aller Privatländereien gehören. Und ein Teil von dieser Gruppe, der bloß 0.1% der Gesamtzahl bildet, hat in seinen Händen 24% des ganzen Privatbesitzes, wobei jede Wirtschaft dieses Grüppchens im Durchschnitt über beinahe 30.000 Des. verfügt. Wir ersehen aus der obigen Tabelle, dass die erste Gruppe (bis 10 Des.) und teilweise die zweite sicherlich aus bäuerlich Privatbesitz besteht. Es sind Landstücke, die von Bauern auf privatem Wege angekauft wurden. Die absolute Zahl dieser Besitzer – etwa eine halbe Million – ist verschwindend gering im Vergleich zu der Zahl der Bauern, die auf dem so genannten Gemeindeboden wirtschaften. Daher müssen wir kennen lernen, wie sich die 138,8 Mill. Des. Gemeindeland unter verschiedene Bauerngruppen verteilen. Die obenerwähnte statistische Übersicht gibt uns nähere Angaben betreffend 136,9 Millionen Des. Dieses Areal verteilt sich:
Die Hälfte aller Bauernhöfe im europäischen Russland besitzt höchstens acht Desjatinen, im Durchschnitt 4,8 Des., treibt also ein elendes Halbproletarierwesen. Beinahe ein Drittel von der Gesamtzahl begnügt sich durchschnittlich mit 10,7 Des. per Wirtschaft, – also eine karge Kleinbauernexistenz. Ein Achtel der Höfe bildet den Mittelstand des Dorfes (15 bis 30 Des.) und nur 5 % der sämtlichen bäuerlichen Gemeindegrund besitzenden Höfe steht auf der Stufe des wohlhabenden Großbauerntums. Dabei gehört den beiden letzten Gruppen beinahe die Hälfte (46.7 %) des ganzen Gemeindelandes. Wenn wir die rückständige landwirtschaftliche Technik des russischen Bauers berücksichtigen, werden wir leicht einsehen, dass die drei ersten Gruppen der obigen Tabelle keineswegs genügend mit Land versehen sind um eigne Wirtschaft zu führen und seine Arbeitskraft, wenigstens teilweise, nicht zu veräußern. Reduzieren wir die fünf Gruppen zu drei, bekommen! wir folgende Tabelle:
Diese kleine Tabelle zeigt das ganze Elend der ländlichen Bauernbevölkerung Russlands. Mehr als vier fünftel der Bauernhöfe sind darauf angewiesen, dass sie, um nur nicht zu verhungern, auf eine oder andere Weise sich Nebenerwerbsquellen verschaffen müssen. Und was für Quellen für Nebenerwerb kann es auf dem Lande geben? Vor allem die Arbeit bei dem Gutsherrn. Oder auch der Exodus nach der Stadt. Da jedoch die russische Industrie den kolossalen Überschuss an bäuerlichen Arbeitskräften nicht absorbieren kann, ist die Masse der Bevölkerung gezwungen, doch auf dem Lande zu bleiben und sich an die Großgrundbesitzer zu verkaufen. Es könnte freilich der Zweifel entstehen, ob dem kargen Grundbesitz wirklich auch eine elende Bauernwirtschaft entspricht? Man kann ja mit bestem Erfolg auf einem verpachteten Grundstücke wirtschaften. Dass es in Russland nicht der Fall ist, beweist folgende Tabelle, die die Gruppierung der Bauernhöfe nach der Anzahl der Pferde, also des wichtigsten Produktionsmittels zeigt:
Diese Zahlen beweisen, dass nicht nur der Besitz, sondern auch der Betrieb in der russischen Bauernwirtschaft ein äußerst trauriges Bild aufweist. Wenn mehr als ein Viertel der Bauernhöfe überhaupt keine Pferde besitzt und ein zweites Viertel sich mit einem Stück begnügt, so ist das keine Bauernwirtschaft sondern lediglich eine halb-proletarische Vegetation. Weder Acker noch Arbeitsvieh – das ist die Existenzformel der Hälfte der russischen Bauernbevölkerung. Nehmen wir noch einmal unsere beide Tabellen betr. Verteilung von Privatgrundbesitz und von Gemeindeland und versuchen wir eine einzige Tabelle über Grundbesitz zusammenzustellen. Die Gruppierungen der beiden Tabellen sind verschieden. Nehmen wir aus der Gemeindeland-Tabelle die Gruppen: 1) bis 15 Des., 2) 15 bis 30 Des., 3) über 30 Des. Dementsprechend müssten wir die Gruppe 2 in der Privatgrundbesitz-Tabelle in drei Teile zerlegen, was sich genau nicht machen last. Wir machen es ungefähr folgendermaßen:
Zugleich präzisieren wir die dritte Gruppe, die jetzt anstatt „über 30 Des." – „30 bis 500 Des.," heißt, und fügen noch die vierte „über 500 Des." hinzu. Wenn wie nun entsprechende Zahlen aus beiden Tabellen summieren, erhalten wir die kombinierte Tabelle:
Wenn wir von der verhältnismäßig kleinen Gruppen des Mittelstandes – 15 bis 500 Des. – absehen, haben wir zwei große landwirtschaftliche Gruppen, denen zusammen fast 2/3 des Gesamtlandes gehört und die im schroffsten ökonomischen Gegensatz zueinanderstehen 81,5% mit je 7 Des. Lande und 0,2% mit je 2228 Des. Da tritt uns klar vor die Augen die wirtschaftliche Grundlage der sozialen Kämpfe im Dorfe. Einerseits Landhunger und überflüssige Bevölkerung anderseits Landüberfluss, Land als Mittel der ökonomischen Ausbeutung und des politischen Druckes. Wie sich dieser soziale Gegensatz in Russland politisch äußerte und welche Formen der Kampf um das Land annahm, darüber werden wir weiter reden. (Forts. folgt.) (1. Fortsetzung.) Wir haben im vorigen Aufsatze2 den objektiven Gegensatz zwischen der kleinen Gruppe der Großgrundbesitzer und der kolossalen Masse von über zehn Millionen Kleinbauern geschildert. Dieser Gegensatz genügt, um die Grundlage des historischen Kampfes zwischen Gutsherr und Bauer in Russland zu bilden, eines Kampfes, der seit der sogenannten Bauernbefreiung, also seit 1861, sich wie ein roter Faden durch die innere Geschichte Russlands zieht, und seit 1903 die Gestalt eines echten Bauernkrieges annimmt. Wenn uns aber die objektive, materielle Grundlage dieses Klassenkampfes bekannt ist, so werden dadurch noch keineswegs bestimmte Formen des Kampfes, bestimmte Ziele und soziale Ideale der Kämpfenden bedingt. Um diese Frage zu erörtern, müssen wir die wirtschaftlichen und psychologischen Voraussetzungen dieses Kampfes näher kennen lernen. Der Landhunger, die Konzentration des Landes in den Händen einer Klasse, die selber das Land nicht bearbeitet, wobei der wirkliche Landarbeiter landlos ist oder nur eine Parzelle besitzt – das sind ja Erscheinungen, die Westeuropa in demselben, vielleicht sogar im größeren Maße eigen sind. Und doch erwachsen dort aus diesen Verhältnissen keine besonderen Bauernprogramme und keine Bauernkriege. Westeuropa kennt nur zwei Forderungen der Agrarbewegung: entweder ist das die Forderung der Nationalisation von Grund und Boden, oder es ist dasselbe sozialistische Programm auf dem Lande, welches sonst für die Industrie aufgestellt wird. Weder in Westeuropa, noch in Nordamerika wäre ein Landgramm möglich, das die Übergabe von Grund und Boden der Großgrundbesitzer an kleine Produzenten forderte. Den es ist für jedermann klar, das eine derartige Forderung dort einen Rückschritt, eine Verminderung der Produktivität der Arbeit, also der Produktivkräfte des Landes, hieße. In Russland ist die Sachlage ganz anders. Im Jahre 1861 hatte der russische Adel eine glänzende Möglichkeit die Landwirtschaft nach den besten Mustern umzugestalten. Bei der Bauernbefreiung bekam er das beste Land. Er hatte zahlreiche und billige Arbeitskraft an Ort und Stelle da die Bauern gleich von Anfang auf Nebenerwerb angewiesen waren. Er bekam – last but not least – große Geldsummen für das an die Bauern abgetretene Land. Es waren also alle Vorbedingungen für Rationalisierung der Landwirtschaft vorhanden. Jedoch der korrumpierte, faule, verschwenderische russische Adel hat die Gelder verprasst, und anstatt eine rationelle Wirtschaft einzuführen, zog er es vor, seine früheren Leibeigenen auf räuberische Art auszubeuten Auf der enormen Fläche Land, die in den Händen des Adels blieb, entstanden hie und da, wie seltene Oasen in der Wüste einzelne rationell geführte Wirtschaften, sonst fand man derartige nur noch in den entlegenen Gouvernements wie Cherson, Tauris, usw. Als typische Wirtschaftsform, besonders für das dichtbevölkerte Zentralrussland, gilt die so genante „Kabala"-Wirtschaft (Kabala - mittelalterliche Knechtschaft). Ihr Merkmal besteht darin, dass Mangel an Ackerland bei den Bauern, ebenso Mangel an Weide, Wald, Wiese etc., zum unmäßigen Erhöhen der Pachtpreise benutzt wird. Schon bei der Bauernbefreiung wurden derartige wirtschaftlich wichtige Landstücke von den Grundeigentümern in ihrem Besitz zurückgehalten: auf solche Weise entstand bei den Bauern gleich in den ersten Tagen die Notwendigkeit derartige Länder um jeden Preis in Pacht zu nehmen. Nun was das Ackerland selber anbetrifft, so wurde dasselbe an einzelne Kleinbauern zu den unglaublichsten Bedingungen verpachtet. Die Statistik hat bewiesen, dass in denselben Ortschaften für dieselbe Bodenart, der Pachtzins desto höher ist, je kleiner das verpachtete Grundstück. Da nun diese Kleinbauern das Getreide vor allem für eignen Bedarf brauchten und nicht auf Verkauf und Gelderhalt hoffen konnten, so zogen viele Gutsherren vor, den Pachtzins „in Natur" einzuziehen, wobei der Pächter die Hälfte des Produktes dem Herrn auslieferte, oder mit eigenem Inventar den herrschaftlichen Acker umsonst bearbeitete usw. Die edlen Herren waren darin höchst erfinderisch. Summa summarum, es war eine Wirtschaft, die vollständigen Verfall der Landwirtschaft bedeutete und dabei keine Hoffnung einer Besserung in Aussicht stellte – inwiefern die morsche Gesellschaftsklasse in ihrer Funktion durch eine andere nicht ersetzt würde. Nun sind alle diese Umstände von entscheidender Bedeutung für die Psychologie des russischen Bauern. Man darf nicht vergessen, dass noch bei der Bauernbefreiung die Volksmasse eine – und dabei berechtigte – Empfindung hatte, dass sie ihres eignen Landes beraubt wurde. Denn sie bekam nicht einmal das ganze Land, das sie für eignen Unterhalt früher bearbeitete. Die Volkstheorie lautet: das ganze Land ist unser, der Herr hat nur das grundherrschaftliche Recht gewisse Arbeit oder Geldsteuern zu erhalten; mit der Befreiung sollte also das Land vollständig an den Landmann, den unmittelbaren Arbeiter, übergehen. Die offizielle Theorie antwortete darauf; nein, das ganze Land gehört dem Herrn, und ihr gehört auch dem Herrn. Der Staat, d. h. der Zar-Batjuschka, hat es soweit gebracht, dass ihr persönlich ohne Lösegeld befreit werdet, aber für das Land, das ihr jetzt bekommt, müsst ihr dem Herrn zahlen (NB. das Land wurde bedeutend über dem Marktpreis geschätzt). Es ist also zu merken, dass aus der bauernbeglückenden Reform selbst die Bauern den Eindruck davongetragen haben, dass man sie ihres Landes beraubt hat, dass das so genante herrschaftliche Land eigentlich auch ihnen gehöre. Nun kam dazu der Umstand, dass die Bauern das Land nicht in Privatbesitz, sondern in Gemeinbesitz erhielten. Ursprünglich sollte jede Bauerngemeinde ihr Land alle so-und-so viele Jahre von Neuem umteilen. Auf solche Weise sollte der Bildung des Proletariats vorgebeugt werden, dessen unanständiges Benehmen in Westeuropa den Verfassern der Reform bereits bekannt war. Die Geschichte lässt sich aber nicht so leicht vergewaltigen, und diese Forderung blieb ein toter Buchstabe: die Neuverteilung des Landes geschah noch hie und da in der ersten Zeit, bald aber wurde sie gründlich vergessen, das Land konzentrierte sich tatsächlich in den Händen der allmächtigen Dorfbourgeoisie, das bäuerliche Proletariat strömte nach den Städten, und die Idee einer allgemeinen, gründlichen Neuverteilung des Landes lebte nur noch in den Köpfen einiger Schwärmer – und der Agrarsozialisten, die sie zur Propagande auszunützen suchten. Aber etwas blieb doch im Bauernkopfe von dieser pseudo-kommunistischen Unternehmung. Es blieb eine konfuse Idee – die noch bis jetzt lebt –, dass das Land überhaupt kein Privateigentum sein darf, dass es „Niemand" gehört, dass es „Gottes" sei. Und zweitens blieb dem Bauernkopfe der westeuropäische individualistische Begriff des Privateigentums auf Grund und Boden nicht ganz klar: eine Besitzform hat ihn an solche Ideen gar nicht gewöhnt. Fassen wir das Gesagte zusammen: also, vor allem, der Landhunger, der periodisch durch echte Hungersnot wieder und wieder bestätigt wird, und dann: einerseits die Überzeugung, dass dieser herrschaftliche Grund und Boden, den der Bauer zu hohem Preise pachtet, eigentlich sein Eigentum ist. das ihm vor Jahren geraubt wurde; anderseits – die Tatsache, dass der Gutsherr selber auf dem Lande nicht arbeitet, eine eigne Wirtschaft gar nicht führt, sondern den geraubten Boden an den Bauer zurück verpachtet –. fassen wir das alles zusammen und es wird ums klar, auf welchem Wege der Gedanke des russischen Bauern zu jenem Agrarprogramm kam, das er schließlich allen fortschrittlichen Parteien aufzwang. Denn, wie sehr sich die Agrarprogramme verschiedener politischen Parteien auch unterscheiden mögen, alle sind von einem und demselben Gedanken durchdrungen: wenn wir wollen, dass die Bauernmasse mit uns und nicht gegen uns ist, müssen wir der Übergabe des ganzen Grund und Bodens an die Bauernschaft zustimmen. Die Bauernbewegung hat einen langen und mühsamen Weg durchgemacht Gleich bei der Agrarreform von 1861 entstanden sporadische Bauernrevolten: hie und da versuchten die Bauern sich der Landverteilung zu widersetzen, es kam zu blutigen Zusammentreffen, die selbstredend mit Militärgewalt unterdrückt würden. Dann kam jahrelange Ruhe. Sogar als die volkssozialistische Propagandisten ins Dorf kamen, um das voraussichtlich revolutionäre Volk um die Fahne „Land und Freiheit" zu sammeln, war ihre Arbeit außerordentlich schwer, und die ganze Bewegung endete im tiefsten Misstrauen bei der Volksmasse und im trostlosen Pessimismus bei der volksfreundlichen Intelligenz. Der Grund dieses Misserfolges lag darin, dass in den 60er, 70er und 80er Jahren im Bauernleben ein tiefer Prozess der Zersetzung und Differenzierung stattfand. Das bei der Reform anscheinend unter einen Kamm geschorene Bauerntum zerfiel in verschiedene ökonomische Gruppen – Dorfbourgeoisie (Kulaken, d. h. fauststarke Kerle), bäuerlicher Mittelstand und Landproletariat oder Halbproletariat. Dieser Prozess, der schon lange vor der Agrarreform begann, und durch das Rechtsinstitut der Leibeigenschaft angehalten u. verdeckt wurde, entwickelte sich jetzt frei und ungestört. Man kann ihn in den Werken solcher Schriftsteller, wie Slepzow, Gleb Uspenskij, Lewitow, Reschetnikow u. a. m. leicht verfolgen. Jedoch dieser Zersetzungsprozess, der vorläufig analytisch aus der Masse der Bauernschaft neue Elemente heraus schied, ohne sie jedoch in neue Gesellschaftsgruppen zu vereinigen, blieb dem Forscher immer noch unklar. Es bedurfte einer Erschütterung, die den langjährigen Prozess zur Kristallisation bringen und das im inneren Geschehene an die Oberfläche der Gesellschaft herausziehen könnte. Und diese Erschütterung kam. Es war die Hungersnot vom Jahre 1891. Diese Ereignis bildet einen Grenzstein zwischen zwei Epochen in der neueren (also nach den Reformen) Geschichte Russlands. Die Intelligenz sah auf einmal, dass da unten im Volke ganz andere Verhältnisse und ganz andere Gedanken herrschen, als sie sich vorstellte: anstatt des angeborenen Kommunisten, der für soziale Revolution schwärmt, erblickte man eine hungernde, verkommene Masse, nicht einmal proletarisiert, sondern unendlich pauperisiert, stöhnend unter den doppelten Druck des Wuchers und des Fiskus. Es war ein Jahrzehnt vorbereitender Arbeit und im Jahre 1903 begannen im großen Umfange Bauernrevolten in Südrussland. Es gärte im Lande: Arbeiter-Demonstrationen und Massenstreikes entflammten bald hier bald dort, Studentenunruhen und liberale Proteste wiederholten sich immer öfter, und nun kam das gefährlichste – die Bauernaufstände. Die Regierung unterdrückte sie mit äußersten Grausamkeit: Kosaken plünderten Dörfer, mordeten Männer, schändeten Weiber – ganz wie in einem besiegten Lande irgendwo an der persischen Grenze. Und es blieb stumm. Freilich nur für paar Jahre. Im roten Jahre 1905, dem Jahre der ersten Revolution, brach es wieder los und in viel größerem Umfange. Fast über ganz Russland ging die Welle des Bauernaufstandes: Herrenhöfe wurden verbrannt, Getreidevorräte und Vieh fort getrieben und verteilt, das Land konfisziert. Es kam oft zu blutigen Zusammenstößen, oft zu grausamen Gewalttaten, denn es waren keine „bessere Herren", die jetzt mit ihrer Not und Leiden auf die Straße gingen, sondern jahrhundertelang unterdrücke Sklaven, die nur ein Mittel des Protestes und des Kampfes kannten – dieselbe grobe und grausame Gewalt, die man seit jeher gegen sie selbst verübt hatte. Sie kämpften gegen ihre Unterdrücker ganz so, wie dieselben gegen sie gekämpft hatten. „Ans Ungeheure hast du mich gewöhnt" – dürfte diese Masse ihren Herrschern mit Wilhelm Tells Worten sagen. Der Verlauf und die Einzelheiten dieser Bauernrevolution von 1905 sind allen bekannt und noch so frisch, dass es überflüssig wäre sie zu schildern. Es sind aber ein paar Umstände zu merken, die für diese Periode der Bauernbewegung charakteristisch sind. Vor allem war der Zweck und der Inhalt der ganzen Bewegung: das Land. Nicht politische Umwälzung, nicht etwaige sozialistische Ideale – bloß das Streben nach dem Lande. Zweitens ist bemerkenswert, dass die Bewegung, wo sie entstand, alle Bauern mitriss: man konnte schwerlich behaupten, dass nur die Ärmsten an diesem Kampfe teilgenommen hatten. Auch im öffentlichen Auftreten der Vertreter und Ideologen des Bauerntums hörte man keine Stimmen, die die klare Forderung der Übergabe des Landes an die Bauern auf die oder andere Weise begründeten. Es wurde gewöhnlich die administrative Maschine der Dorfverwaltung in Gang gesetzt, die Dorfversammlung beschloss das Land des Gutsherrn in Besitz zu nehmen, das wurde protokolliert und der Beschluss verwirklicht. Drittens muss man auch den Umstand nicht außer Acht lassen, dass die Bauernbewegung im Jahre 1905 nie ganz Russland umfasste, sondern lediglich in gewissen Distrikten, dabei sporadisch, unorganisiert, auftauchte. Mit einem Worte trat 1905 die Bauernschaft nicht als ein großer Stand auf, der gewisse gemeinsame soziale und politische Interessen hat, und in seinem Auftreten ließ er keine schroffe Klassengegensätze in seinem Innern zu tage kommen. Dies ist wohl zu beachten, da die Bewegung unserer Tage in dieser Hinsicht bedeutende Unterschiede aufweist. (Fortsetzung folgt.) (2. Fortsetzung.) Die Agrarfrage, vielmehr die Bauernfrage, war seit der „großen Reform" von 1861 die Achse, um die herum sich das ganze soziale und politische Treiben der volksfreundlichen radikalen Intelligenz drehte. Man könnte kurz sagen, dass die soziale Frage in Russland vor ungefähr 1890 die Bauernfrage war. Aber solange die Sache nur dabei blieb, dass die deklassierte bürgerliche Intelligenz ihre Wünsche und Hoffnungen auf die Volksmasse projizierte, die Masse selber jedoch sich ruhig verhielt und sogar öfters ihre Propheten steinigte, konnten die Regierung und die bürgerlichen Klassen ruhig schlafen. Nun aber kam das Jahr 1903 mit den ersten großen Bauernrevolten, und man spürte schon das Nahen des Jahres 1905 – da wurden auf einmal die herrschenden Klassen wach und fingen an, Mittel zur Lösung der Bauernfrage zu erfinden. Zwischen den zahlreichen Programmen der zahlreichen politischen Parteien, die während der ersten russischen Revolution entstanden, findet sich kein einziges, das nicht ein spezielles „Agrarprogramm" enthielte. Sogar die „schwarze Rotte", diese Helden der Pogroms, der „Verein des russischen Volkes" hat ein Agrarprogramm. Es würde uns zu weit führen (auch ist es kaum der Mühe wert), alle diese Programme hier näher darstellen zu wollen. Wir werden uns damit begnügen, die vom sozialen und politischen Standpunkt charakteristischen und wichtigen Merkmale dieser Programme hervorzuheben. Und das lässt sich am besten machen, wenn wir diese Programme nach den Zielen gruppieren, die sich die entsprechenden Parteien in ihren Programmen stellen. Demnach hätten wir drei wichtigste Gruppen: I. Parteien, die durch ihre agrarische Forderungen der befürchteten Bauernrevolution entgegenkommen wollen, also die Bauernschaft insofern befriedigen dass sie ruhig sitzt und die Verwirklichung der Klassenziele dieser Parteien nicht verhindert. Zu dieser Gruppe gehören alle ausgeprägt bürgerlichen Parteien, von den so genanten „Kadetten" bis zu den äußersten Reaktionären Ihre Mittel sind natürlich Palliative, da die Interessen aller dieser Klassen, die mit dem Grundbesitz eng verbunden sind, keineswegs eine radikale Lösung der Landfrage gestatten können. II. Zu der zweiten Gruppe gehören Parteien, die – theoretisch oder praktisch – die Interessen der Bauernmasse vertreten. Einige von ihnen, wie die Sozialisten-Revolutionäre oder die Volkssozialisten, gingen in ihren theoretischen Spekulationen immer von den Interessen der Bauern aus und glaubten – ob richtig oder falsch, ist eine andere Sache – in ihren Programmen die Ideologie der russischen Bauernmasse ausgedrückt zu haben. Die anderen, wie die Trudowiki (Partei der Arbeit), sind selber aus dieser spontanen Bauernbewegung empor getaucht. Diese Parteien hatten keine andere Ziele als die Ziele der Bauernbewegung selbst, obgleich das Programm der ersteren von diesen Parteien den Sozialismus verspricht, mit dem die russische Bauernrevolution gewiss nichts zu tun hat. III. Endlich kommen die Parteien, die vom Standpunkte ihres Minimal-Programms die Bauernbewegung unterstützen, in ihren Hauptzielen dagegen weit über alle Forderungen der Bauernmasse gehen. Das sind die sozialdemokratischen Parteien. Ihre Interessen liegen eigentlich außerhalb der Bauernbewegung, und die letzte wird von ihnen vom Standpunkte der Entwicklung der Produktivkräfte beurteilt. Da in Russland, infolge der Umstände, die wir schon auseinandergesetzt haben, die Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern eine Befreiung desselben als Produktivkraft bedeutet, also diese Umwälzung einen gewaltigen Stoß der Entwicklung der Produktivkräfte auf dem Lande geben wird, unterstützen die Sozialdemokraten die Forderungen der Bauernmasse. Wir sehen also, dass von diesen drei großen Gruppen die mittlere mehr oder weniger genau die Interessen der Bauern vertritt. Von den beiden anderen ist die erste den Bestrebungen des Bauerntums feindlich, muss aber dazu gute Miene machen und dafür sorgen, dass sie dabei am wenigstens verliert. Die zweite hat von der Bauernbewegung nichts zu befürchten, ist aber auch weit davon, sie zu idealisieren. Sie unterstützt die bäuerliche Revolution, geht aber dabei ihren eignen Weg und auch in dieser demokratischen Revolution sucht sie ihre Klassenaufgaben zu verwirklichen und für den Sozialismus den Weg zu bahnen. Von den drei Gruppen ist die erste am meisten heterogen. Die anderen weisen keine scharfe Gegensätze auf. Betrachten wir etwas näher jede von diesen Gruppen. I. Unsere erste Gruppe besteht aus bürgerlichen Parteien, von denen die wichtigsten sind: a) Die konstitutionell-demokratische Partei (Ka-de), die sich hauptsächlich aus zwei Schichten rekrutiert, – liberalen Grundbesitzern und bürgerlichen Intellektuellen (Advokaten Ärzten, Staatsanwälten etc.). b) Partei vom 17. Oktober, die teilweise auch Grundbesitz, teilweise große Industrie und höheres Beamtentum vertritt, und c) Verein des russischen Volkes, wo ein Mischmasch von reaktionären Großgrundbesitzern, rückständigen Kleinbürgern und Bauern aus den Provinzen, wo der ökonomische Gegensatz zwischen Bauer und Gutsherr in einen nationalen übergeht, weil der erstere Russe, der letzte ein Pole ist (Podolien, Wolhynien, Kleinrussland), zusammentrifft. Charakteristisch ist es, dass wir Grundbesitzer in allen drei Parteien finden: wir haben nicht bloß Großgrundbesitz, sondern einen liberalen, einen „gemäßigten" und einen rückständigen Großgrundbesitz. Das kommt daher, dass, bei der Mannigfaltigkeit der lokalen Wirtschaftsverhältnisse und der schwachen Entwicklung des politischen Lebens, die gesellschaftliche Differenzierung bis jetzt noch immer im Dunklen vor sich ging und nicht diese klassisch-reinen Formen annehmen konnte, wie etwa in England oder Deutschland. Der russische Großgrundbesitz ist seinem sozialen Charakter nach sehr verschieden: die Eigentümer der technisch rückständigen Wirtschaften, überlastet mit Schulden und Hypotheken, fast nur noch nominelle Besitzer ihrer Güter, wären vollständig ruiniert, wenn sie durch ihre Verbindungen und Verwandtschaften beim Hofe, zwischen der höheren Bürokratie usw. sich nicht fette Sinekuren zu verschaffen wüssten. Natürlich sind diese Großgrundbesitzer höchst loyal und konservativ. Auf dem anderen Pol finden wir ganz modernenen Grundbesitz, der nicht nur an der rückständigen Ausbeutungsmethoden nicht interessiert ist, sondern selbst darunter leidet, da das alte Staatswesen die Handelswirtschaft, wie das Entstehen einer intelligenten, tüchtigen Arbeiterklasse auf dem Lande verhinderte. Solche Leute müssen in ihrem eignen Interesse fortschrittlich sein. Alle Parteien, die zu dieser Gruppe gehören, hatten im Jahre 1905 ihre Agrarprogramme veröffentlicht. Die Programme der Oktobristen. und der Reaktionäre beschränken sich auf gewisse Maßregeln, die alle auf eine unbedeutende Vergrößerung des Landbesitzes der Bauern auslaufen, wobei diese Vergrößerung keineswegs auf Kosten des Besitzes des Adels, sondern hauptsächlich durch rationelle Übersiedlung des Überschusses der Bevölkerung nach Sibirien geschehen soll. Anders steht es mit dem Agrarprogramm der liberalen Partei, der Kadetten: sie haben zwei Programme angefertigt: im Jahre 1905, also während der Bauernrevolte, sind die Herren soweit gegangen, dass sie der Entäußerung alles Grundbesitzes, auch des der Privatpersonen, zustimmten. Es blieb damals auch nichts anderes, als die Notwendigkeit zur Tugend zu erheben. Jedoch die Bauernbewegung hat die Befürchtungen nicht gerechtfertigt. Und siehe, – nach einigen Monaten erschien ein neues revidiertes Agrarprogramm, laut dem das Konfiskationsrecht durch eine ganze Reihe Ausnahmen vollständig entmannt wurde. Wenn man die langen Paragraphen dieses Programms auf ihren sozialen Inhalt prüft, kommt man zu dem Schluss, dass man die rückständigen, also politisch reaktionären Besitze ruhig konfiszieren und an die Bauern verteilen darf; dagegen modern bewirtschaftete Ländereien, politisch: liberale, in den Händen ihrer Besitzer bleiben müssen. Selbstredend müssen die konfiszierten Guter „nach gerechter Schätzung" bezahlt werden. Hier sehen wir ein klassische Klassenprogramm: die Interessen der besitzenden Klasse im Ganzen werden durch Lösegelder bewahrt, die Interessen der liberalen Gruppe werden gegen jeden Angriff beschützt. Die liberale Bourgeoisie ist bereit den Boden von der reaktionären Wirtschaft insofern zu reinigen, wie es, für ihre eigne Entwicklung nötig ist; aber das Prinzip des heiligen Eigentums darf nicht angetastet werden, II. Auf anderem Standpunkte stehen die volksfreundlichen Parteien der Sozialisten-Revolutionäre und der Trudowiki. Die erste von diesen Parteien ist eigentlich eine Organisation der theoretisierenden Intelligenz, die jahrelang fern von einer Massenbewegung die Ideologie der Bauernmasse in ihrem Programm zusammenzufassen suchte. Es war natürlich „der Herren eigener Geist", in dem sich die spontane Bauernbewegung mehr oder minder verdreht bespiegelte. Es ist ein rein utopistisches Programm, das nicht auf den Tatsachen der Entwicklung des modernen Kapitalismus in Russland und auf dem Weltmarkte basiert, sondern von der abstrakten Annahme ausgeht, dass das Bauerntum, frei von Druck und Knechtschaft, aus eigenem Trieb ein eigenartiges, speziell russisches System des Bauernsozialismus verwirklichen wird. Es wird die „Sozialisation von Grund und Boden" eingeführt und jeder, der das Land mit eignen Händen bearbeiten will, soll entsprechendes Grundstück erhalten. Auf solche Weise wird das Kapital und die Bourgeoisie von Bauern ferngehalten, und Russland wird mit einem Sprung in das Reich des Sozialismus kommen. Durch die rosigen Gläser dieser Utopie sieht man zwei reelle Tatsachen durch: das Begehren des Bauern nach dem Lande und den Kampf gegen die Dorfbourgeoisie. Mehr nüchtern sind die Trudowiki. Die schwärmten sehr wenig vom Sozialismus, dagegen die konkrete Landaneignung steht bei ihnen im Vordergrunde: sie standen näher der Bauernmasse was auch natürlich ist, da diese Partei erst in der ersten Reichsduma entstand, als zahlreiche Bauerndeputierte vom ganzen Lande zusammen kamen, die keine besondere Vorliebe für die sozialrevolutionäre Phantastik erwiesen. Diese Bauernpartei hat ganz bestimmt die Übergabe des ganzen Landes an die Bauern gefordert, und zwar ohne Vergütung an den Grundeigentümer. Aber auch im Programm der Trudowiki gibt es utopistische Elemente: sie versuchen durch Beschränkung der zulässigen Größe des Besitzes und der Wirtschaft eventueller Konzentration des Grund und Bodens vorzubeugen und den Kleinbetrieb gegen das Kapital zu schützen. Das ist eine typische bäuerliche Illusion. Die Angst dieser Leute vor dem Drucke des Kapitals ist so groß, dass sie jedem Kurpfuscher gern folgen, wenn er sie versichert, dass sein System sie absolut von diesem Übel garantiert. Daher die Popularität dieses naiven Ausgleichssozialismus mit seinen „Arbeitsnormen" des Grundbesitzes, mit der Brüderlichkeit des Produktivgenossenschaftswesens und selbstständigen Wegen der russischen Entwicklung. Das Wesentliche besteht darin, dass die Bauernmasse in ihrem Drange nach dem Lande eine geschichtlich notwendige and objektiv fortschrittliche Aufgabe erfüllt. Eine Illusion ist es, dass diese Masse nach dem Ausgleichssozialismus schmachtet: sie will nur Land haben, – und die Ungleichheit, die Differenzierung, die seit lange im Dorfe existiert, die wird dadurch nicht verschwinden, sie wird sich Weg bahnen, auch wenn man im Augenblicke des revolutionären Aufschwungs die vollständigste Gleichheit im Landbesitz einführte. Wie verschiedene Körner auf demselben Landstücke verschiedene Gewächse treiben, so wird auch die durch die Geldwirtschaft tief eingewurzelte Ungleichheit neue ökonomische und gesellschaftliche Ungleichheiten erzeugen. III. Die Sozialdemokratie ist eine Partei der Arbeiterklasse. Als solche ist sie nicht direkt mit der Bauernbewegung verbunden: sie,ist daran insofern interessiert, inwiefern, erstens, die städtische Arbeiterklasse in Russland noch mit Tausend Fäden an das Dorf gebunden ist, und zweitens, inwiefern die bäuerliche Bewegung das ganze soziale Leben, also auch die Entwicklung der Produktivkräfte, betrifft. Der letztere Punkt ist der wichtigste. Wäre die objektive Tendenz der Bauernrevolution in Russland ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte, also für den sozialen Fortschritts und die Sozialdemokratie, müsste die Arbeiterpartei dieser Bewegung, als einer reaktionären, feindlich gegenüber auftreten. Tatsächlich ist es aber nicht so. Die Bauernbewegung macht eine große fortschrittliche Arbeit: sie zertrümmert das morsche Gebäude der veralteten Grundeigentums- und Landwirtschaftsverhältnisse, sie ebnet den Boden für den Bau einer neuen Gesellschaftsordnung. – freilich, keiner sozialistischen, im Gegenteil, einer rein bürgerlichen, die aber den ganzen gesellschaftlichen Kampf auf den Boden des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat stellt, – also auf den einzigen Boden, auf dem die moderne Arbeiterklasse für ihre eignen Interessen kämpfen und ihren eignen Sieg erkämpfen kann. Eben diese geschichtlich notwendige und nützliche Arbeit der Bauernbewegung hat seit jeher die russische Sozialdemokratie dazu bewogen, die Forderungen der Bauern zu unterstützen. Dabei hat sich die sozialdemokratische Partei keine Illusionen betreffend der subjektiven Ziele und des sozialen Inhalts der Bauernforderungen gemacht. Sie hat es auch nie versucht dieser Bewegung irgendwelche, ihr fremde, Ziele oder Losungen zu unterschieben. Es gab für sie nur eine Frage: welche reelle – also von jeder Utopie reine – Maßnahmen soll die Partei empfehlen und in ihr Programm eintragen, die die historische Aufgabe der Agrarumwälzung vertiefen und ihren Umfang erweitern könnten. Dementsprechend finden wir drei Grundforderungen der Sozialdemokratie: I) Abschaffung des Privateigentums auf Grund und Boden;* 2) Übergabe des Landes an die Bauern ohne Lösegeld, und 3) Ordnung der Agrarverhältnisse durch lokale Ausschüsse, die demokratisch, d. h. auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählt wären. Den sozialpolitischen Sinn dieser Forderungen könnte man kurz zusammenfassen: a) Abschaffung einer wirtschaftlich und politisch rückständigen Ausbeuterklasse, die der freien Entwicklung des Landes im Wege steht, b) Verzicht auf etwaige Belastung der Bauern oder der Staatskasse durch Lösegelder, die zugleich eine wirtschaftliche Restauration der zu vernichtenden Klasse in anderer Gestalt zur Folge hätte; c) Ordnung der Verhältnisse entsprechend lokalen Forderungen und Bedingungen, ohne Druck seitens der Zentralinstitutionen. Die Geschichte des sozialdemokratischen Agrarprogramms in Russland hat auch manche Stadien durchgemacht, auf die wir hier nicht eingehen können. Der Zweck dieses Aufsatzes war, die sozialökonomische Bedeutung und die politischen Ziele der Agrarprogramme der wichtigsten Parteien zu erläutern, und zwar in der geschichtlichen Periode der ersten russischen Revolution. Wie sich die sozialen Kräfte seitdem verschoben haben und welche Stellung der Frage gegenüber die Parteien im Jahre 1917 einnahmen, – davon werden wie weiter sprechen. (Fortsetzung folgt). [mehr nicht erschienen.] 11 Desjatine = 1,09 Hektar. * Davon 266.929 Höfe gehören den Kosaken. Im europ. Russland gibt es überhaupt 278.650 Kosakenhöfe, von denen also 96% über 30 Des,. Land per Hof besitzen. Es ist also Dorfbourgeoisie, wodurch sich auch die weit bekannte politische Rolle dieser Volksschicht leicht erklärt. 2 Siehe „Bote d r. R." No. 5. * Über die praktische Lösung dieser Frage gibt es verschiedene Meinungen in 4er russischen. Sozialdemokratie. Die zwei wichtigsten Forderungeen sind die Nationalisierung des Landes (N. Lenin) und die Munizipalisierung (P. Maslow). Näher können wir darauf hier nicht eingehen. |