Redaktion 19171128 Die ersten Schritte der Arbeiterregierung

Redaktion: Die ersten Schritte der Arbeiterregierung

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 11, 28. Nov. 1917, S. 3-6]

Von dem Augenblick, wo der Kongress der Arbeiter- und Soldatendelegiertenräte die Übernahme der Staatsgewalt beschließt, stand die junge Regierung der Arbeiter und Bauern vor einer Reihe offener und verhehlter Feinde.

Kerenski entkam, um außerhalb Petrograds Kanonen und Bajonette gegen die Volksregierung aufzusuchen – und hier trat das Gespenst eines Bürgerkrieges, also eines Brudermordens, auf. Es galt entweder vor dieser grauenhaften Perspektive zurückschrecken und die Frucht eines langen Kampfes und glänzenden Sieges, zu denen die ganze Entwicklung der russischen Revolution mit unwiderstehlicher Kraft führte, an die notorischen Verräter der Volkssache abzutreten – dabei mit der tiefsten Überzeugung, dass man dadurch selber einen Verrat an der Demokratie und dem Sozialismus verübt, oder – den begonnenen Kampf mit aller Energie und Konsequenz durchzuführen bis zum endgültigen Sieg, eventuell bis zum eignen Untergang.

Die junge Regierung konnte nicht, durfte nicht schwanken Sie organisierte ihre Kriegskraft, sie übergab das Kommando an Oberst Murawjew, einen Offizier, der sich zu ihrer Verfügung gestellt hat und der über die nötige Energie und Willenskraft zu verfügen scheint. Sein erfolgreiches Auftreten gegen Kerenski, dessen Truppen er bei Zarskoje Selo schlug, ist bereits aus den Telegrammen bekannt. Gleichzeitig übernahm er auch die Sicherung der Ordnung in der Stadt, wobei er in allen Stadtbezirken Militärposten aufstellte und dieselben durch ein Telefonnetz mit der ganzen Stadt und unter einander verband. Strengste Maßregeln traf er gegen etwaige Marode und Gewalttaten. Nach allen Angaben herrscht in Petrograd seit mehreren Tagen vollständige Ordnung, nach der Meinung einiger neutralen Zeugen, sogar bessere Ordnung, als vor dem Aufstande.

Aber nicht nur Kerenski mit seinen Kosaken traten gegen die Arbeiterregierung auf. Der ganze Mechanismus des alten bürokratischen Staates diese Hydra mit Tausend Köpfen, die von dem Zarischen Regime geschaffen, durch die Gutschkow-Miljukowsche Clique sanktioniert und dank der Kerenskischen Pseudodemokratie unangetastet am Staatsmechanismus kleben und wirtschaften durfte, diese seit jeher verhöhnte und verachtete Tschinownikbande erhob sich jetzt gegen die Regierung der Sowjets und versuchte die Staatsmaschine durch Boykott zum Stillstand zu bringen. Alle Ministerium, mit Ausnahme des Kriegs- und Marineamtes, alle so genannten sozialen Institutionen, die durch die Bourgeoisie zur Unterstützung der Regierung and des Krieges gebildet waren, wurden auf einmal leer: von höheren bis zu untersten Beamten erschien kein Mensch zur Arbeit. Freilich erwies es sich bald, dass [es] auch in diesen Institutionen eine Menge Leute gibt, die mit den Sowjets und ihrer Regierung solidarisch sind, sie wurden aber von ihrer Obrigkeit, den höheren Beamten terrorisiert und wagten nicht sich offen zur neuen Regierung zu bekennen.

Gegen diesen Boykott trat der Volkskommissarenrat (so heißt offiziell die neue Regierung) energisch auf. Die einzelnen Minister forderten die Beamten ihrer Ministerien auf am bestimmten Tage die Arbeit aufzunehmen; tun sie das nicht, werden sie als entlassen betrachtet. Gleichzeitig wandte sich die Regierung an Gewerkschaften und an die Vereine der Handels- und Industrie-Angestellten mit dem Aufruf ihr zu Hilfe zu kommen und allerlei Spezialisten, Buchführer, Bankangestellte, Kontoristen, Monteure usw. ihr zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zwecke wurden sofort Anmeldebüros in den Lokalen der Gewerkschaften eröffnet.

Neben diesem Boykott seitens der Staatsbeamten drohte die Gefahr, dass die Bourgeoisie etwas ähnliches auf dem Gebiete des Handels und der Industrie versuchen könnte. Um dem vorzubeugen, beschloss der Verein der Handelsangestellten sich jedem Versuche eines böswilligen Schlusses der Geschäfte zu widersetzen und, wo nötig, den Handel auch wider den Willen der Kaufleute fortzusetzen. Gegen Boykott seitens der Banken erließ die Regierung eine Order, dass alle Banken vom 31. Oktober (13. Nov.) an von 10 bis 2 geöffnet werden müssen, im widrigen Falle werden die Direktoren verhaftet. „Alle Gerüchte“ – heißt es in diesem Dokument – „über die Konfiskation der Kapitalien, die die Bourgeoisie verbreitet, sind falsch. Es werden keine andere Maßregeln vorgenommen, außer denen, die die Interessen der Bankklienten durch strenge Kontrolle über die Tätigkeit der Banken garantieren."

Aber es gab noch einen und vielleicht den gefährlichsten Feind in Petrograd selbst Das waren die sozialistischen Dissidenten, die den Kongress der Arbeiter- und Soldatendelegiertenräte verließen und unter dem Schutz ihrer sozialistischen Immunität zum offenen Aufstand gegen die neue Regierung aufriefen. Die Sozialpatrioten Menschewiki und Sozialisten-Revolutionäre mit ihrem bundistischen Anhang, die im Sowjet die Schlacht schändlich verloren hatten, fingen nun an in ihrer Presse (parallel und ganz einstimmig mit der reaktionären Presse) die neue Regierung mit Unrat zu begießen und alle, wer nur hören mag, zum Ungehorsam und Kampf gegen dieselbe zu hetzen. Es stand vor der Regierung die Alternative: entweder, nach dem Wortlaut der sozialistischen Programme, die Pressefreiheit zu bewahren und allen Anhängern des Kerenski, des Kornilow oder des Kaledin diese mächtige Waffe gegen die Volksregierung zu geben – und das in dem Augenblicke des offenen Krieges gegen diese Herren, oder – die Stimme dieser Helfershelfer der Reaktion bis zur Wiederherstellung der Ordnung zu unterdrücken und die schwere Arbeit der Organisierung der neuen Staatsmacht unter Ausschluss dieser Gegenwirkung fortzusetzen. Bei dieser Wahl konnte die Arbeiterregierung nicht schwanken. Sie unterdrückte alle Zeitungen, die offen zur tätigen Bekämpfung der Regierung anriefen: es waren darunter fast alle bürgerlichen Zeitungen und einige sozialpatriotische. Die Moskauer bürgerliche Zeitung „Russkije Wjedomosti", das Organ der Kadetten-Partei, welche ihren Kampf gegen die Diktatur der Demokratie in loyalen Formen führte wurde nicht geschlossen.

Die Partei der Sozialdemokraten Bolschewiki, die an der Spitze dieser großen Volksbewegung steht, hat nie die Herrschaft für sich angestrebt: die Idee, die sie die ganze Zeit den sozialistischen Führern der Demokratie einzupauken bemühte, war: die ganze Macht an die Sowjets d. h. an die Organisation der Arbeiter, Bauern und Soldaten. Dass an der Spitze dieser Organisation sozialistische Parteien stehen und unter allen Umständen stehen bleiben, das war teilweise Tatsache, teilweise vorausgesetzt. Es konnte doch keinem vernünftigen Menschen in den Sinn kommen, dass irgend eine „sozialistische" Partei die Arbeitermasse gerade im Augenblick verlässt, wo diese Masse an das Staatsruder kommt, das heißt, wo diese Masse des Beistandes der sozialistischen Ideologen am meisten bedarf.

Diese bolschewikische Idee fand Widerhall in den bereiteten Massen nicht, weil die Bolschewiki so wunderbare Agitatoren und Prediger sind, sondern einfach weil die ganze Entwicklung des Klassenkampfes während der Revolutionsmonate die ganze Politik der kleinbürgerlichen Demokratie (Kerenski und Konsorten) und der Bourgeoisie (Miljukow etc.) die Massen dazu trieben, selber die Macht zu ergreifen und die Streitfragen der Revolution selber zu lösen. Die Bolschewiki waren nur jener Kern, um den herum sich die Bewegung organisierte und von dem heraus die Forderungen formuliert wurden.

Es war auch ganz natürlich, dass gleich beim Ergreifen der Macht durch den Kongress der Sowjets die Bolschewiki eine Koalitionsreg. vorschlagen. Aber die beleidigten Sozialpatrioten, die den jähen Übergang von Mehrheit zur nichtigen Minderheit nicht hatten verdauen können, zogen vor, sich nicht mit der Arbeitermasse, sondern mit Kerenski und Tereschtschenko solidarisch zu erklären, und verließen den Kongress. Aber auch nachher versuchten die Bolschewiki zu einer Verständigung zu kommen. Jedoch man bot ihnen so naive (oder freche?) „Friedens"-Bedingungen, dass man darüber kaum ernst diskutieren konnte. So wurde es vorgeschlagen, dass die neue Arbeiterregierung sich auflöst, die revolutionäre Armee sich Kerenski unterwirft, die Arbeiterschaft entwaffnet wird, – und dann wird eine neue Regierung gebildet, jedoch ohne Bolschewiki, dagegen garantiert man eine Amnestie den aufrührerischen Sowjetmännern. Um etwas ähnliches der siegreichen Regierung anzubieten, muss man entweder am Gehirne beschädigt sein, oder sich auf etwas uns anderen Unbekanntes stützen. Worauf sich diese Herren tatsächlich stützen, vielmehr worauf sie rechneten, kann man aus der Notiz „Sozialpatriotische Verschwörung gegen das Proletariat" in dieser Nummer des „Boten" ersehen. Eins ist klar: solange die militärische Macht der Konterrevolution nicht gebrochen ist, wird der Boykott seitens [der] sozialpatriotisch-bürgerlichen Koalition nicht aufhören, wird der Kampf fortdauern, wird es zu keinem Koalitionsministerium kommen.

Die Arbeiterregierung hat es wohl verstanden, dass man mit dem Kampfe gegen die Konterrevolution die Massen nicht befriedigen kann, dass man sofort energisch an die Verwirklichung des Kampfprogramms treten muss. Dementsprechend entfaltete sie ihre positive, schaffende Arbeit in drei Richtungen: a) Schritte zur Herbeiführung des Friedens, b) Lösung der Agrarfrage, c) Reformen der Arbeiterschutz-Gesetzgebung.

In der Friedensangelegenheit, die in Russland zu einer Nationalfrage geworden ist, wurde bis jetzt nur das bekannte Manifest des Kongresses der Sowjets veröffentlicht. Es stehen jetzt auf der Tagesordnung weitere, und zwar konkrete Schritte seitens der Regierung selbst. Die lassen auf sich nicht lange warten. Zur Ordnung der Agrarverhältnisse erließ die Regierung ein Dekret betreffend Übergabe des ganzen staatlichen, kirchlichen und privaten Grund und Bodens an die Bauernkomitees bis die Frage rechtlich durch die Konstituierende Versammlung gelöst wird. Endlich, was die Arbeiterfrage anbetrifft ist vor allem das Dekret über den Achtstunden-Arbeitstag zu bemerken. Daneben ist eine gründliche Reform der Versicherung gegen alle Zustände, die den Arbeitern den Erwerb unmöglich machen, verkündet. Auch ist ein Schriftstück von Kommissaren für Volksaufklärung zu erwähnen, in welchem eine weitgehende Demokratisierung des Schulwesens in Aussicht gestellt wird.

Wenn wir diese „ersten Schritte" der Arbeiterregierung kurz zusammenfassen, so sind sie in drei folgenden Sätzen zu formulieren:

1) Unversöhnlicher Kampf gegen alle Elemente, die die revolutionäre Organisationsarbeit der Volksregierung auf dem Wege der Gewalt zu vernichten suchen.

2) Entgegenkommende Stellung zu allen sozialistischen Parteien, die ehrlich mitwirken wollen und einen ihren Kräften entsprechenden Anteil an der Regierungsarbeit zu nehmen bereit sind;

3) Sofortiger Aufbau der Grundlagen einer echt demokratischer Umbildung aller gesellschaftlicher und rechtlicher Verhältnisse und Institutionen, damit die breitesten Massen des Volkes durch reelle Arbeit der Regierung mit derselben in innigste gegenseitig Verbindung kommen und sie wirklich als ihre eigene Regierung fühlen.

Inwiefern diese kolossale Aufgabe der neuen Regierung gelingt, – ist schwer vorauszusagen. Das ist eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. An Energie und gutem Willen scheint es ihr nicht zu fehlen: aber das ist nur die Hälfte des Nötigen. Wird es den Sowjetleuten gelingen die große Masse für die nationale Sache mitzureißen, ihr Glauben an eigne Kräfte einzuflößen, ihre schaffende Tatkraft auf das Höchste zu spannen, – dann werden sie Kolossales leisten können. Wird dagegen die Masse nach dem Siege sich wieder beruhigen und den Onus des Regierens an den Rat der Volkskommissare übergeben, dann ist die Sache verloren. Denn diese Regierung kann ihre Kraft nur, wie Antheus, aus der Berührung mit der Erde-Volksmasse schöpfen.

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