Redaktion 19170922 Politische Übersicht

Redaktion: Politische Übersicht

[Nach Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) Nr. 2, 22. Sept. 1917, S. 9-11]

Die Junker sollen geschont werden, die Arbeiter sollen zahlen

Die russische „revolutionäre" Regierung kann sich nicht entschließen den Bauern den Grund und Boden zu geben, obwohl das das einzige Mittel ist, sie mit der Revolution zu verbinden, in der Armee den Geist des Widerstandes zu schaffen. Sie fürchtet die Junker und die Bourgeois. Dagegen sucht sie den Bauern Zugeständnisse auf Kosten der städtischen kleinbürgerlichen und Arbeiterbevölkerung zu machen. Sie veröffentlicht folgenden Ukas über die Verdoppelung der Höchstpreise für Getreide:

Die Lebensmittelfrage in Armee und Land befindet sich in einer sehr schwierigen Lage. Die Vorräte, über die die Regierung verfügt, mindern sich immerfort. Die Städte, ganze Gouvernements und selbst die Front leidet eine große Brotnot, obwohl es sich im Lande in genügenden Mengen befindet. Die durch Gesetz bestimmte Abgabe des Getreides an die Regierungsorgane findet sehr langsam statt, viele Bürger haben selbst die Überreste der vorjährigen Ernte nicht abgeliefert. Es finden sich Leute, die anderen verbieten, die Pflicht vor dem Vaterlande zu erfüllen, und sie daran hindern. Die Gefahr, die den Lande droht wird noch dadurch erhöht, dass nach manchen Gouvernements das Getreide in genügenden Mengen nur auf dem Wasserwege zugestellt werden kann. Falls die Zufuhr nicht in den nächsten Wochen stattfindet, bleiben diese Gegenden im Winter ohne Brot, und mit dem Hunger kommt die Anarchie und das Ende der durch die Revolution errungenen Freiheit.

Die Regierung entschloss sich der dem Vaterland drohende Gefahr entgegenzutreten ohne zurückzuschrecken vor den energischsten Mitteln der Einwirkung auf die Gesetzesverleugner oder seine lässigen Ausführer. Gleichzeitig erkannte die Regierung als notwendig das Gleichgewicht wieder herzustellen, das durch den elementaren Gang der Ereignisse gestört wurde. Während die Preise auf die Produkte der Industrie, wie der Preis der Arbeitskraft in den letzten Monaten gestiegen sind, ist der Getreidepreis derselbe geblieben. Die Maßregel, die zur Normierung der Preise und der Verteilung der Produkte, die dem Dorfe notwendig sind, unternommen wurden, wurden nicht genügend schnell beschlossen und haben noch keine Früchte gebracht. Die Gerechtigkeit erfordert die Erhöhung der Maximalpreise auf Getreide, damit keine Ursachen zur Verweigerung des Brotes dem Staate bestehen.

Indem die Regierung sich entschließt, die Getreidepreise zu verdoppeln, erklärt sie gleichzeitig auf das Bestimmteste, dass diese Erhöhung der Getreidepreise nicht als Grund zu neuen Forderungen der Einkommenserhöhung seitens der anderen Schichten dienen kann noch darf. Die neuen Preise stellen nur den Landwirt in gleiche Bedingungen mit den anderen Klassen der Bevölkerung. Die Regierung wird volle Entschiedenheit im gleichen Maße gegen unbegründete Versuche der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung zwecks Erpressung einer Einkommenserhöhung, wie gegenüber dem Broterzeugern bekunden, um sie zu nötigen, schnell und bestimmt die Pflicht zu erfüllen und Brot abzuliefern, das notwendig ist, damit das Land und die Armee nicht hungere".

Dieser Ukas der Provisorischen Regierung ist ein ausgesprochen konterrevolutionärer Akt. Die Lohnerhöhungen der Arbeiterschaft decken im Allgemeinen nicht einmal die Erhöhung der Steigerung der Lebensmittelkosten. In der Arbeiterschaft herrscht großes Elend. Die Masse des Kleinbürgertums, der Festbesoldeten leidet große Not. Werden die Getreidepreise, die schon sehr hoch sind, noch weiter erhöht, so wird keine Regierung in der Lage sein, die Welle der sozialen Kämpfe aufzuhalten. Den Bauern wird durch die Preiserhöhung wenig geholfen: auch für höhere Preise bekommen sie die industriellen Massenartikel nicht, deren sie bedürftig sind, weil die für die Kriegführung requirierte, an Mangel an Rohstoffen und Arbeitskräften krankende Industrie unfähig ist sie zu erzeugen. Dagegen bekommen die Junker Milliarden in die Hand, die sie zur Organisation der Konterrevolution benutzen werden. Noch mehr: die Maßregel Kerenskis verfolgt direkt konterrevolutionäre Zwecke: sie soll einen Keil zwischen Stadt und Land treiben. Während die Konfiskation von Grund und Boden die Bauern mit der Arbeiterschaft und dem städtischen Kleinbürgertum verbündet, in eine gemeinsame Front gegen die Junker, die Säulen der Konterrevolution, stellt, verbindet umgekehrt die Verdoppelung der Getreidepreise die Bauern mit den Junkern. Herr Kerenski scheint allmählich sich zu den Zielen der Stolypinschen Agrarpolitik zu bekennen. Je länger die demokratischen und revolutionären Elemente Herrn Kerenski an der Gewalt dulden, desto schwieriger wird es sein die Folgen seiner Politik zu überwinden.

Die russischen Sozialpatrioten und Zimmerwald

Die Zimmerwalder Konferenz die vom 5.-12. September tagte, hat sich, eingehend mit den russischen Ereignissen beschäftigt. Angesichts der Abwesenheit einer Reihe der Zimmerwalder Parteien haben die Vertreter unserer Partei darauf verzichtet, einen Antrag auf formellen Ausschluss der russischen Sozialpatrioten, der Menschewiki und Sozialisten-Revolutionäre zu stellen, die bisher formell der Zimmerwalder Vereinigung angehören. Sie hielten sieh dies Recht für eine Vollkonferenz vor. Sie suchten aber die Zimmerwalder Konferenz zu einer klaren politischen Stellungnahme zu dem Verrat der russischen Sozialpatrioten an den Ideen von Zimmerwald zu bringen. Obwohl in der Konferenz über die Politik der russischen Sozialpatrioten nur eine Meinung war, gelang es dem Diplomaten von dem deutschen Parteizentrum, dem Genossen Haase, einen Beschluss zu vereiteln. Die Konferenz sei nicht genügend informiert und man solle doch vermeiden, im Flusse der Ereignisse ein endgültiges Urteil zu fassen, wo doch die russischen Sozialpatrioten durch die Ereignisse noch genötigt sein können, ihre Politik zu ändern – das waren die Hauptargumente des Genossen Haase. Da die Konferenz angesichts ihrer nicht vollkommenen Beschickung beschlossen hat, nur in den Fragen Beschlüsse zu fassen, in dehnen sie einig war, gelang es Haase durchzudringen. Die praktischen Beschlüsse, die die Konferenz gefasst hat, – wir können über sie nicht berichten vor dem Erscheinen des offiziellen Berichts – erlaubten uns nicht sich von ihr trotz dieses Armutszeugnisses zu trennen. Aber sie war noch nicht zu Ende, als sie sich selbst überzeugen konnte, mit wem sie in der Partei der Menschewiki zu tun hat: Panin, einer der menschewistischen Delegierten., verließ die Konferenz am Anfang ihrer Beratungen, und Axelrod schloss sich ihrem wichtigstem Beschlusse nicht an. Aber jetzt kommt das dickere Ende: wie der Petrograder Djen mitteilt, hat der Kongress der Menschewiki, über den wir noch besonders in der nächsten Nummer berichten werden, die Resolution Martows, die die Anerkennung von Zimmerwald forderte, abgelehnt. Somit hat der Schwindel des menschewistischen Zimmerwaldismus, mit dem man zwei Jahre lang die Welt betrog – auch formell seinen Tod gefunden und Genosse Haase kann sich die Ohrfeige bei der Vertretung der Menschewiki (Adolf Frederik Kyrkogatan 15) abholen. Wo die Zentrumselemente zu vertuschen suchen, dort schaffen die Sozialpatrioten Klarheit. Gott segne die Sozialpatrioten.

Folter und Hungerstreik

In den russischen Gefängnissen schmachten Tausende revolutionärer Soldaten und Arbeiter, die von Kerenski und seinen Häschern nicht nur ohne eine bestimmte Anklage gefangen gehalten werden, sondern von denen die Behörden oft selbst nicht wissen, weswegen sie eingesperrt wurden. Der für Revolutionäre unerträgliche Zustand, in dieser Zeit der Entscheidung, wo sich die Kräfte der Konterrevolution zu Schlägen gegen die Revolution vorbereiten, hat in einer Anzahl von Gefängnissen zu Hungerstreiks geführt: so in Kiew, in der Hauptwacht in Petrograd: zu einer Tragödie führte die infame Politik der Kerenskischen Häscher im Falle Baladins. Baladin, ein Matrose, wurde während der Petrograder Juliunruhen verhaftet. Eine Anklage wurde ihm nicht vorgelegt. Nachdem ein Monat seit seiner Verhaftung vorüber war, ohne das eine Anklage gegen ihn erhoben wurde, begann Baladin den Hungerstreik, um die Erhebung der Anklage oder Freilassung zu erzwingen Zwei Wochen lang lehnte der starke Bauernsohn die Annahme jeder Speisen ab und die Behörden spöttelten darüber, dass es mit dem Hungern nicht so ganz arg sein muss. Schließlich stellte man fest, dass Baladin stirbt. Erst dann entschloss sich die Regierung, ihn zu enthaften. Er wurde in ein Hospital in voller Erschöpfung gebracht, von der er sich kaum erholen wird.

Aber diese Schmach war der Regierung Kerenski noch zu gering. Wie die Nowaja Schisn berichtet, wurde Genosse Rechtsanwalt Koslowski, Mitglied des Vollzugsausschusses des Arbeiter- und Soldatenrates, der nach den Juliunruhen unter dem blödsinnigen Vorwurf, zusammen mit dem Genossen Hanecki deutsches Geld an die bolschewistische Partei übermittelt zu haben, verhaftet wurde, im Gefängnis blutig geschlagen. Jetzt erfahren wir aus einer private Quelle, dass die Prokurentin Frau Sumenson, die angeblich als Adressatin für die deutschen Geldsendungen gedient hat – was eine infame Verleumdung ist – im Gefängnis so misshandelt wurde, dass sie in ein Sanatorium für Geisteskranke gebracht werden musste. Folter und Hungerstreiks! Das ist, wozu schließlich die „revolutionäre Regierung" gekommen ist.

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