Der 2. Kongress der Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie fand vom 26. bis 31. Oktober n. St. 1903 in Genf statt und hielt 6 Sitzungen ab. Am Kongress nahmen 15 Anhänger der Mehrheit teil (Lenin, Plechanow, Krupskaja, Baumann, L. Axelrod, Litwinow, Bobrowski, Galperin, I. Axelrod, Bontsch-Brujewitsch, Welitschkina, I. Lalajanz, P. Lalajanz-Kulabko, Pjatnitzki und Korenewski), die zusammen über 18 Stimmen verfügten (die nicht anwesenden Mitglieder der Liga hatten das Recht, ihre Stimmen an andere zu übertragen), und 18 Anhänger der Minderheit (P. Axelrod, Bassowski, Blumenfeld, Wetscheslow, Dan, Deutsch, Sassulitsch, Kolzow-Ginsburg, Krochmal, Lemann-Smidowitsch, Martow, Potressow, Trotzki u. a.) mit 22 Stimmen. Der weder der Minderheit noch der Mehrheit angehörende Tachtarew hatte 2 Stimmen. Von den 42 Stimmen des Ligakongresses gehörte also die Mehrheit der Opposition, die beschlossen hatte, den Ligakongress dem Parteitag entgegenzustellen und die Liga zu einem Stützpunkt für den Kampf um die Vormacht in der Partei und um die Besetzung der zentralen Körperschaften zu machen. Auf der Tagesordnung des Kongresses standen folgende Fragen: 1. Bericht der Administration der Liga (Deutsch und Krupskaja); 2. Bericht des Delegierten der Liga zum Parteitag; 3. das Statut der Liga; 4. Neuwahl der Administration der Liga. Nachdem der Bericht der Liga gehört und angenommen war, ging man zum zweiten Punkt der Tagesordnung über, zu dem Lenin Bericht erstatten sollte, der die Liga auf dem Parteitag vertreten hatte. Ihre Stimmenmehrheit ausnutzend, fasste die Opposition den Beschluss, nach Lenin auch Martow als Korreferenten das Wort zu geben. Der Rest der ersten Sitzung war durch die Vorbesprechung einiger Fragen ausgefüllt, die mit dem Referat Lenins zusammenhingen (siehe die Vorbemerkungen Lenins). Das Referat wurde in der zweiten Sitzung des Kongresses gehalten (27. Oktober). Der zweite Teil dieser Sitzung und die Hälfte der darauffolgenden (28. Oktober) war durch das Korreferat Martows ausgefüllt, das er in sehr erregt-hysterischem Ton hielt (in der Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" nannte Lenin das Korreferat Martows ein „Produkt kranker Nerven"). Die Anhänger der Mehrheit kennzeichneten die "lyrisch-pathetische" Rede Martows als das „systematische Übertragen politischer und prinzipieller Fragen auf einen subjektiv-moralischen Boden und auf das persönliche Gebiet; als Qualifizierung der einen oder anderen politischen Schritte als ,Intrigantentum', und ,Verrat'; die grundsätzliche Frage, wie die Wahl des Redaktionskollegium zu deuten ist, wandeln sie um in die Frage ,wer gelogen', wer ,die Partei betrogen hat' " („Kommentar zu den Protokollen des 2. Kongresses der Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie", 1904). Die Rede Martows, die angefüllt war mit dunklen Anspielungen auf das angeblich moralisch unzulässige Verhalten Lenins, als auf dem Parteitag die Frage des Dreierkollegiums erörtert wurde, mit Hinweisen auf Privatgespräche der Redaktionsmitglieder, wurde von der Mehrheit des Ligakongresses mit lautem Beifall und Zurufen aufgenommen. Nachdem Martow sein Korreferat beendet hatte, erhob Lenin Einspruch gegen „Martows Fragestellung, wer gelogen und wer intrigiert hat", gegen die Wiedergabe von Privatgesprächen, die er als „erbärmliche Kampfmethode" kennzeichnete; er erklärte, dass er mit „jedem Schiedsgericht in dieser Frage einverstanden sei und dass Martow die Verpflichtung hätte, „seine Anklagen offen mit seiner Unterschrift vor der ganzen Partei zu vertreten". (Einen Monat später nahm Martow seine auf dem Ligakongress gegen Lenin erhobenen Anschuldigungen wieder zurück, und so fiel die Frage des Schiedsgerichtes weg.) Bald darauf verließen Lenin und die Anhänger der Mehrheit, die die Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit einer grundsätzlichen Polemik mit der Opposition einsahen, die Sitzung des Kongresses. Zu Beginn der vierten Sitzung (29. Oktober) erklärten Lenin und die Anhänger der Mehrheit, dass sie es ablehnen, an den Debatten über den Bericht über den 2. Parteitag teilzunehmen, da „Martow die Diskussion auf ein unwürdiges Niveau herabgesetzt hätte", und sie verließen wiederum die Sitzung, so dass die Minderheit allein über das Referat Lenins und das Korreferat Martows diskutierte, das Schlusswort Martows anhörte und über die Resolution abstimmte. Die menschewistische Mehrheit des Ligakongresses nahm am 29. Oktober zum zweiten Punkt der Tagesordnung folgende drei Resolutionen an: „1. In der Erwägung, dass es erstens Aufgabe des 2. Parteitags war, die durch die literarische und organisatorische Arbeit der „Iskra" und des Organisationskomitees vorbereitete Einheit der Partei zu bestätigen; dass zweitens diese ideologische und organisatorische Arbeit, die den Parteitag vorbereitet hat, darauf gerichtet war, alle revolutionär-sozialdemokratischen Kräfte um zwei unabhängige zentrale Parteikörperschaften zu konzentrieren, um alle klassenbewussten Schichten der Arbeiterbewegung zu einer kampffähigen, zentralisierten politischen Partei organisch zusammenzufassen, – erklärt die Liga, dass sie mit den Beschlüssen des 2. Parteitags, der der Partei das Programm gegeben und die Grundlagen der Parteitaktik festgelegt hat, einverstanden ist; sie begrüßt die Annahme eines für alle Teile der Partei bindenden Organisationsstatuts als einen wichtigen Schritt zur Beseitigung der Desorganisation, die bisher geherrscht hat; die Liga stellt ferner fest, dass der Austritt des „Bund" aus der Partei, der eine in ihren Folgen sowohl für die allgemein-russische als auch besonders für die jüdische Arbeiterbewegung höchst betrübliche Tatsache ist, als Resultat des Überwiegens der falsch aufgefassten Interessen des jüdischen Proletariats über die wirklichen Klasseninteressen des gesamten Proletariats Russlands in der Organisationspolitik des „Bund" betrachtet werden muss. Gleichzeitig gibt die Liga ihrem tiefsten Bedauern darüber Ausdruck, dass dank den auf dem Parteitag zutage getretenen Tendenzen, die ihrem Wesen nach der früheren Politik der „Iskra" widersprechen, bei der Ausarbeitung des Parteistatuts nicht die gebührende Aufmerksamkeit auf die Schaffung genügender Garantien für den Schutz der Unabhängigkeit und der Autorität des Zentralkomitees gelenkt worden ist, und dass der Parteitag bei der Wahl der offiziellen zentralen Parteikörperschaften die kontinuierliche Verbindung mit den faktisch bereits herausgebildeten Parteizentralen ignoriert und auf diese Weise die positive Bedeutung jener Schritte geschwächt hat, die er in der ersten Hälfte seiner Tagung getan halte, wodurch die auf den Zusammenschluss aller klassenbewussten Elemente des kämpfenden Proletariats gerichtete Tätigkeit aller Parteiarbeiter bedeutend erschwert wird. 2. In der Erwägung, dass 1. die Aufgabe der Entwicklung des Klassenbewusstseins und der politischen Selbsttätigkeit des Proletariats nicht nur die Taktik, sondern auch die Organisation der sozialdemokratischen Partei bestimmen muss; dass 2. auf der Entwicklungsstufe, die die Arbeiterbewegung in Russland erreicht hat, die genannte Aufgabe von der Sozialdemokratie Russlands nur im Rahmen und auf dem Boden einer streng zentralisierten Organisation gründlich erfüllt werden kann; dass 3. die dringende Notwendigkeit einer solchen Organisation innerhalb der Sozialdemokratie Russlands als Reaktion gegen die Anarchie, die noch vor kurzem in ihr geherrscht hat, die Tendenz geschaffen hat zu einem bürokratischen Zentralismus, der schon seinem Wesen nach unfähig ist, die Bestandteile einer Gesellschaft organisch zu vereinigen, der in den Vordergrund stellt nicht die innere Vereinigung, sondern die äußere formale Einheit, die mit rein mechanischen Mitteln durch die systematische Unterdrückung der individuellen Initiative und der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit, verwirklicht und aufrechterhalten wird; dass 4. der Triumph eines solchen Zentralismus in unserer Parteiorganisation scharfe Differenzen zwischen den selbständigsten und politisch reifsten Schichten einerseits und den Trägern des Systems der selbstherrlich-bürokratischen Verwaltung der Partei andererseits hervorrufen würde, Differenzen, die die Verteidiger dieses Systems im vermeintlichen Interesse der Disziplin unweigerlich zur Anwendung solcher Methoden der Selbstverteidigung treiben würden, die mit den geschichtlichen Aufgaben der Sozialdemokratie unvereinbar und imstande sind, die Gedanken und den Willen dieser Vertreter zu korrumpieren, Verwirrung in die Köpfe der Genossen hinein zu tragen, ihr politisches Bewusstsein herabzudrücken, die Idee des sozialdemokratischen Zentralismus selber zu diskreditieren und schließlich zu einer inneren und äußeren Desorganisation der Sozialdemokratie Russlands zu führen; dass 5. eine solche Sachlage innerhalb der Sozialdemokratie sich in verhängnisvollster Weise auf die politische Entwicklung des Proletariats auswirken müsste und ihr die Möglichkeit nehmen würde, ihre geschichtliche Mission zu erfüllen, d. h. das russische Proletariat für die selbständige politische Rolle in der Periode der revolutionären Zerstörung der absolutistischen Staatsordnung Russlands vorzubereiten; -– richtet die Liga an alle zielbewussten Genossen die Aufforderung, im Rahmen des Parteistatuts einen systematischen Kampf zu führen gegen die Tendenz zum bürokratischen Zentralismus, im Namen eines wahrhaft sozialdemokratischen Zentralismus, der für die Vereinigung des russischen Proletariats zu einer selbständigen Partei notwendig ist. (Diese Resolution war von Axelrod, Potressow, Martow und Sassulitsch vorgeschlagen worden.) 3. Der 2. ordentliche Kongress der Liga stellt mit Genugtuung die hervorragende Rolle fest, die ihr Delegierter auf dem 2. Parteitag gespielt hat, und erklärt sich mit der Stellung, die der Delegierte bei der Erörterung der Programmfragen und der Frage der Stellung des „Bund" in der Partei eingenommen hat, vollkommen einverstanden. Gleichzeitig stellt die Liga mit Bedauern fest, dass sie absolut nicht anerkennen kann, dass die Stellung des Genossen Lenin in Organisationsfragen den Ansichten entspricht, die der Tätigkeit der Liga zugrunde liegen und die von der Redaktion der ,Sarja' und der ,Iskra' stets vertreten wurden." In der fünften und der sechsten Sitzung der Kongresssitzung (30. und 31. Oktober), die unter Teilnahme der Anhänger der Mehrheit stattfanden, wurde der von den Menschewiki verfasste Statutenentwurf für die Liga erörtert. Der Berichterstatter war L. Trotzki. Die Menschewiki traten für das Recht der Liga ein, selbständig neben dem Zentralorgan allgemeine Parteiliteratur herausgeben zu dürfen; außerdem enthielt das Statut eine Reihe anderer Punkte, die dem vom 2. Parteitag angenommenen Parteistatut widersprachen. Auch das Recht des Zentralkomitees, das Statut zu bestätigen, wurde bestritten. Als das auf dem Kongress der Liga anwesende Zentralkomitee-Mitglied F. Lengnik am Schluss der sechsten Sitzung (31. Oktober) im Namen des Zentralkomitees verlangte, die dem Parteistatut widersprechenden Punkte aus dem soeben von der Minderheit angenommenen Liga-Statut zu streichen oder zu ändern, da weigerte sich die Opposition, diesen Beschluss des Zentralkomitees auszuführen. Lengnik erklärte daraufhin die Versammlung, die „einen Beschluss des Zentralkomitees nicht durchführt", für rechtswidrig und verließ den Kongress. Gleichzeitig verließen „unter allgemeiner Aufregung" auch die Anhänger der Mehrheit den Ligakongress. Die auf dem Kongress zurückgebliebene Opposition wählte die Administration der Liga (Deutsch, Dan, Lemann-Smidowitsch), und der Kongress wurde geschlossen. So wurde auf diesem Kongress der Abgrund zwischen den Anhängern der Mehrheit und den Anhängern der Minderheit noch vertieft. Am 1. November stand die Frage des Konfliktes zwischen Liga und Zentralkomitee auf der Tagesordnung des Parteirates (Plechanow, das vom Parteitag gewählte „fünfte" Mitglied des Parteirates; Lenin und Galperin-Ygrek – vom Zentralorgan; Lengnik vom Zentralkomitee; Lengnik verfügte auch über die Stimme des nach Russland abgereisten Zentralkomitee-Mitgliedes Noskow). Der Parteirat stimmte der Handlungsweise Lengniks auf dem Kongress der Liga zu und beauftragte ihn mit der Reorganisierung der Liga. Gegen die Darlegung der Reden Lenins in den Protokollen (die Protokolle sind von den Menschewiki redigiert und herausgegeben worden) haben später, nach Veröffentlichung der Protokolle, weder Lenin noch die Anhänger der Mehrheit irgendeinen Einspruch erhoben. Darum kann man annehmen, dass diese Darlegung dem Inhalte der Reden Lenins mehr oder weniger entspricht. Der Bericht Lenins auf dem Kongress der Liga wurde in den Protokollen des Ligakongresses mit folgendem Redaktionsvermerk veröffentlicht: „Genosse Lenin hat keinen Plan seiner Rede vorgelegt, aber er hat die vom Sekretär angefertigte kurze Zusammenfassung seiner Rede durchgesehen und gebilligt. Selbstverständlich hat das auf die Vollständigkeit der Wiedergabe eingewirkt". |
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