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Bolschewiki, Menschewiki und Trotzki zur Agrarfrage

Der Artikel „Bauernschaft und Sozialdemokratie" richtet sich gegen die Menschewiki, im Besonderen gegen Martynow (heute Kommunist), der einst einer der führenden Theoretiker des Menschewismus war.

Der Kampf um den bolschewistischen oder menschewistischen Entwurf des Agrarprogramms brach mit aller Kraft auf dem Stockholmer Einigungsparteitag (1906) aus. Die Menschewiki, die auf dem Kongress die Mehrheit hatten, setzten den Maslowschen Entwurf zur Munizipalisierung des Grund und Bodens durch, in dem vorgeschlagen wurde, „im Falle einer siegreichen Entwicklung der Revolution den beschlagnahmten Grund und Land in den Besitz demokratischer Institutionen der lokalen Selbstverwaltung zu überführen". Das Parzellenland sollte im Privatbesitz der Bauern bleiben.

Das Hauptargument, das die Menschewiki zur Verteidigung der Munizipalisierung anführten, war folgendes: Die Munizipalisierung würde als Garantie gegen die Restauration der zaristischen Autokratie dienen; Nationalisierung könne eine solche Garantie nicht geben, da es im Falle der Restauration einfacher sei, den demokratischen Charakter der lokalen Selbstverwaltung zu gewährleisten als den der Zentralregierung.

Die Bolschewiki, angeführt von W. I. Lenin, schlugen einen Entwurf zur Nationalisierung des Grund und Bodens vor, d.h. Beschlagnahmung des gesamten Landes der Gutsbesitzer, Klöster und des Zaren und seine Übertragung in die Verfügung des demokratischen Staates.

Die einzige Garantie gegen eine Restauration", schrieb damals Genosse Lenin, „ist die sozialistische Revolution im Westen; eine andere Garantie im gegenwärtigen und vollen Sinne des Wortes kann es nicht geben. Ohne diese Bedingung, bei jeder anderen Lösung des Problems (Munizipalisierung, Aufteilung etc. …) ist eine Restauration nicht nur möglich, sondern auch direkt unvermeidlich „(N. Lenin. Gesammelte Werke, Band IX, S. 415).

In diesem Sinne drückt sich der Autor des Artikels aus, der glaubt, dass sich die Stärke des neuen Regimes nach der bürgerlich-demokratischen Revolution „nicht nur durch inländische, sondern auch durch internationalen Bedingungen [bestimmt]", und dass bei Fehlen dieser Bedingung „Gutsbesitzer-Restauration […] sowohl bei „Nationalisierung“ als auch bei „Munizipalisierung“ furchtbar" sei.

Der Streit um das Agrarprogramm hatte als Ausgangspunkt eine Analyse der wirtschaftlichen Lage der russischen Landwirtschaft und in diesem Zusammenhang die Frage nach der Rolle der Bauernschaft in der kommenden Revolution. Die Frage nach dem bolschewistischen und menschewistischen Agrarprogramm ist eng mit der Frage nach den Triebkräften der russischen Revolution verbunden.

Eine Analyse der wirtschaftlichen Lage der russischen Landschaft wurde vom Genossen Lenin in seinem Buch Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland durchgeführt. In dieser Arbeit bewies er, dass die Bauernschaft geschichtet ist und nach der einen Seite das ländliche und städtische Proletariat und nach der anderen Seite die ländliche Bourgeoisie aussondert und dass diese Schichtung große Ausmaße erreicht hat. Die Menschewiki, vor allem Martynow, der zusammen mit Plechanow der Hauptbefürworter des Munizipalisierungsentwurf Maslows war, waren der gegenteiligen Meinung, dass nämlich die kapitalistischen Beziehungen auf dem Land wenig entwickelt seien. „Die falsche Einschätzung des gegenwärtigen Zustands der russischen Bauernschaft durch die Bolschewiki geht auf unseren legalen Marxismus der 90er Jahre zurück, in deren Literatur Iljins „Entwicklung des Kapitalismus in Russland“, „Wirtschaftsstudien“ usw. einen prominenten Platz einnahmen. Unsere legalen Marxisten der 90er verbogen in der Hitze der Kontroverse mit den Volkstümlern, die wie üblich die Entwicklung des Kapitalismus in Russland leugneten, ihre Bogen in die Gegenrichtung und und argumentierten, dass der Kapitalismus sich in der einen oder anderen Form schon unserer gesamten Bauernwirtschaft und unseres ausgedehnten Landes bemächtigt habe.

Laut Iljin verschwinden regressive, vorkapitalistische Beziehungen in der Bauernwirtschaft selbst ungehindert und bestehen nur in den Beziehungen zwischen Bauern und Gutsbesitzern in der verbrauchten Form der Pacht. In all dieser Literatur wurde die Tendenz als vollendete Tatsache genommen." (Londoner Kongress, Rede Martynows, S. 282. Zitiert nach der ausländischen Ausgabe.)

Die Schwäche der kapitalistischen Beziehungen auf dem russischen Lande und die enge Grenze, die der Entwicklung dieser Beziehungen durch die räuberische Vergeudung der Produktivkräfte im Zusammenhang mit dem politischen System der Autokratie gesetzt wurde, wurden in Maslows zweibändigem Werk Die Agrarfrage in Russland begründet.

Gestützt auf diese Einschätzung der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft verteidigten die Menschewiki, indem sie ihre Taktiken entwickelten, den Block mit der bürgerlichen Demokratie der Stadt bis hin zu den Kadetten. In unserer Bauernschaft gebe es aufgrund des Vorhandenseins rückschrittlicher wirtschaftlicher Erscheinungen „neben den revolutionären auch reaktionäre soziale und politische Tendenzen, die die städtische bürgerliche Demokratie nicht hat" (ebd., Rede Martynows, S. 281).

Aus den zwei Einschätzungen des wirtschaftlichen Zustands des Dorfes ergaben sich auch zwei Standpunkte zur Frage der Triebkräfte der Revolution. In dem Artikel „Die Konterrevolution und die Bourgeoisie " (Golos Sozialdemokrata, 1909., Nr. 15) schrieb Martynow:

Wenn es eine Revolution geben wird, werden die Rolle der Triebkraft darin neben dem Proletariat auch andere bürgerlichen Klassen spielen, einschließlich großer Teile der verbürgerlichten Bauernschaft,… und wenn es so ist, dann kann das müßige Gerede über die „Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, wenn jemand auf es hört, nur ein Resultat erzielen. In den bürgerlichen Schichten kann es nur die sinnlose oktobristisch-kadettische nationalliberale Hoffnung auf eine allmähliche Erneuerung des modernen Russlands nach Bismarckschen Rezept unterstützen, in den proletarischen aber nur die Massen auf den Weg des Anarchosyndikalismus stoßen.“

Genosse Trotzki sprach auf dem V. Parteitag der RSDLP über die Haltung gegenüber bürgerlichen Parteien. Polemisierend gegen Martynow sagte er:

Welche Gesellschaftsklasse wird bei uns eine revolutionäre bürgerliche Demokratie herbeiführen, sie an die Macht bringen, ihr die Möglichkeit geben, eine gewaltige Arbeit zu leisten, und dabei das Proletariat als Opposition haben? Das ist die zentrale Frage – und ich stelle sie erneut den Menschewiki". … „Das Proletariat“ fuhr Genosse Trotzki fort, diese Frage beantwortend, „ist die einzige revolutionäre Demokratie unserer Städte, es muss Unterstützung in den Bauernmassen finden und an die Macht kommen, wenn nur die Revolution siegen soll…". „Wenn wir annehmen, dass die sozialen Widersprüche zwischen dem Proletariat und den bäuerlichen Massen nicht zulassen, dass das Proletariat sich an die Spitze der letzteren stellt, dass das Proletariat selbst nicht die notwendige Kraft zum Siegen hat, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass es unserer Revolution nicht bestimmt ist zu siegen.“

Genosse Lenin stellte in seinem Schlusswort in Bezug auf die Rede des Genossen Trotzki fest, dass „Trotzki auf dem Standpunkt der gemeinsamen Interessen des Proletariats und der Bauernschaft in der zeitgenössischen Revolution steht, dass es Solidarität in den Hauptpunkten der Frage nach der Haltung gegenüber den bürgerlichen Parteien gibt".

Die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Menschewiki und Bolschewiki in der Frage der Haltung gegenüber den bürgerlichen Parteien führten unweigerlich zu Differenzen auch in der Agrarfrage als Mittel zur Einbeziehung breiter Massen der Bauernschaft in den Kampf. [Trotzki, Sotschinenija, Band 4]

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