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Preußischer und amerikanischer Weg

Die bürgerliche Entwicklung der Landwirtschaft in Preußen erinnert in vielem an die Entwicklung der Landwirtschaft in Russland vor der Revolution. Die Abschaffung der Leibeigenschaft in Preußen erfolgte unter dem direkten Einfluss der Großen Französischen Revolution. In der Zeit des siegreichen Vormarsches der französischen Armee in Europa wurde in Preußen eine Reihe von Gesetzen über die Aufhebung der Leibeigenschaft ausgegeben. Die „Befreiung“ der Bauern von der Leibeigenschaft erfolgte so wie 1861 in Russland von oben, durch die Grundherren. Sie trug alle Spuren der Klassengewalt der Grundherren über den Bauern. Bei der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1807 wurde zunächst die Abhängigkeit des Bauern von der Gutsherrschaft nicht aufgehoben und auch eine Reihe Verpflichtungen der Bauern gegenüber den Grundherren blieb bestehen. Diese Verpflichtungen konnten erst von 1821 an, und auch da noch nicht durch alle Bauern, entweder gegen einen Jahreszins oder gegen eine einmalige Abschlagszahlung in der Höhe von 25 Jahreszahlungen abgelöst werden. Im Ergebnis dieser Reform blieb die Hauptmasse der Bauern mit Ausnahme der größeren ohne Boden. Die Beraubung der Bauern, die Besitznahme des Bodens, die gewaltigen Summen an Ablösungsgeldern, die billige Arbeitskraft – das alles gab einen Anstoß zur Entwicklung von junkerlichen Großgütern, die sich aus rein fronherrlichen in kapitalistische Wirtschaften verwandelten, wobei übrigens auch vorkapitalistische Formen der Ausbeutung der Bauern in der Gestalt z. B. der Abarbeit (Robot) erhalten blieben.

Die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika trug einen anderen Charakter. Ihr Ausgangspunkt war die vom Joch der Grundherren freie Bauernwirtschaft, aus der sich auch die kapitalistische Landwirtschaft, die der Farmer, entwickelte. Das ist darauf zurückzuführen, dass Amerika keine Periode der Fronwirtschaft und einer leibeigenen Bauernschaft durchzumachen brauchte. Dabei muss bemerkt werden, dass die Entwicklung der Landwirtschaft in den einzelnen Gebieten der Vereinigten Staaten ihre Besonderheiten aufwies. Der Norden zeichnete sich durch seine industrielle Entwicklung und durch das vollständige Fehlen eines Großgrundbesitzes aus. Hier nahm die Landwirtschaft früher als in den anderen Gebieten alle kapitalistischen Züge an. Der Süden war rückständiger, und hier herrschte auf der Grundlage der Sklaverei und einer Leibeigenschaft der Großgrundbesitz vor. Das System der Sklaverei geriet in offenen Widerspruch zu dem sich entwickelnden Kapitalismus, der die freie Lohnarbeit erforderte. Die Entwicklung des Kapitalismus verlangte die Beseitigung der Sklaverei, die im Ergebnis des Bürgerkriegs zwischen den Nordstaaten und den Südstaaten in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts beseitigt wurde; die Südstaaten wurden in diesem Bürgerkriege geschlagen. Die Aufhebung der Sklaverei führte dazu, dass die großen Besitztümer in kleinere zerfielen. Der Westen war das gewaltige Gebiet freier, noch nicht in Besitz genommener Ländereien, in das die Bevölkerung aus den anderen Gebieten der Vereinigten Staaten und die landlosen Bauern aus anderen Ländern strömten. Um eine raschere Besiedlung dieses Gebiets zu erreichen, wurde 1862 das Gesetz über die Homesteads (Heimstätten) herausgegeben, das eine Zuteilung von Grund und Boden vorsah. Im Jahre 1869 wurde ein Gesetz herausgegeben, nach welchem der Boden, den der Farmer 5 Jahre lang bestellt hatte, nicht zur Bezahlung von Schulden veräußert werden durfte, wenn er nicht direkt verpfändet war. Das Fehlen eines Großgrundbesitzes, die Abschaffung der Sklaverei und das Gesetz über die Heimstätten gaben einen gewaltigen Anstoß zur Entwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft in Amerika. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 3, Anm. 55]

Der Absolutismus unternahm neue Schritte in der Richtung auf eine bürgerliche Monarchie (siehe den „Entwurf einer Resolution zur augenblicklichen Lage und die Aufgaben der Partei“, angenommen auf der Dezemberkonferenz im Jahre 1908, abgedruckt im vorliegenden Band). Das kam mit besonderer Deutlichkeit in der Stolypinschen Agrargesetzgebung zum Ausdruck, die auf die Vernichtung der Dorfgemeinschaft und die Verankerung einer bäuerlichen Bourgeoisie, des Großbauerntums, gerichtet war. Die Stolypinsche Agrarreform förderte unzweifelhaft die Entwicklung des Kapitalismus auf dem Lande. Diese Entwicklung vollzog sich jetzt wirklich viel rascher als je zuvor. Ganz besonders kam sie in der Zunahme der Anwendung von Lohnarbeit in der Gutsbesitzerwirtschaft zum Ausdruck, was die steigende Umwandlung der halb fronwirtschaftlichen Gutswirtschaft in eine kapitalistische bedeutete. Das war eine langsame Abschaffung der Überreste der Fronwirtschaft auf dem Wege eines ebenso langsamen Eindringens des Kapitalismus in die Landwirtschaft mit Hilfe von Reformen, die durch den gutsbesitzerlichen Absolutismus selbst mit Hilfe der Bourgeoisie durchgeführt wurden, und das war jener Weg der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft, den Lenin als den „preußischen“ Weg bezeichnet hatte. Darum entstand die Frage, ob nicht schon der Moment eingetreten sei, wo Russland diesen Weg endgültig beschritten hat, und die Möglichkeit des anderen Weges, des „amerikanischen“, ausgeschlossen sei, der die revolutionäre Lösung der Agrar- und Bauernfrage durch den Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution und die Nationalisierung des Grund und Bodens zur Voraussetzung hatte. Nach diesem Brief Lenins zu schließen, zeigte Skworzow-Stepanow in dieser Frage Schwankungen, und zwar in der Richtung des Standpunktes, Russland habe den „preußischen“ Weg schon betreten, mit der Zerstörung der Dorfgemeinschaft, der Festigung des Großbauerntums, der zunehmenden Differenzierung in der Bauernschaft seien schon die letzten Reste der Fronwirtschaft aufgehoben, der halb fronherrliche Gutsbesitzer verschwinde und mit ihm verschwinde auch der Widerspruch zwischen der Bauernschaft als Klasse und Stand einerseits und dem Gutsbesitzertum anderseits. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass damit die „klassische Stellung der theoretischen Hauptfrage“, d. h. die Frage des Bündnisses des Proletariats mit dem gesamten Bauerntum im Kampfe gegen die Gutsbesitzer und den Zarismus und der revolutionären Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft in Wegfall komme. Nach einem Briefe Lenins an Gorki zu schließen, schrieb Skworzow-Stepanow, von dieser seiner Ansicht ausgehend, dass man „über die demokratische Revolution das Kreuz machen muss und dass es bei uns ohne Revolution, auf englische Weise gehen wird“. In seiner Antwort an Skworzow-Stepanow wie auch in allen seinen Artikeln in der Periode der Reaktion und des neuen Aufschwungs stand Lenin auf dem entgegengesetzten Standpunkte. Die neuen Schritte des zaristischen Absolutismus in der Richtung zur bürgerlichen Monarchie setzten nach Lenin die Frage des Sturzes des zaristischen Absolutismus nicht von der Tagesordnung ab, denn dieser bleibe doch ein gutsherrlicher Absolutismus. Genau ebenso wenig setzen in der Hauptfrage der bürgerlich-demokratischen Revolution, in der Bauern- und Agrarfrage, die neuen Schritte des Absolutismus auf dem „preußischen Wege“ die Frage der bäuerlichen Agrarrevolution gegen die Gutsbesitzer von der Tagesordnung ab, solange die Reste der Fronwirtschaft nicht beseitigt sind. Damit verschwindet auch nicht die Losung des Bündnisses mit der gesamten Bauernschaft und der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.

Die Frage der zwei Wege der Lösung der Agrar- und Bauernfrage hatte in der Periode der Reaktion eine ebenso gewaltige Bedeutung wie in der Periode von 1905-1907, da dies die Frage der weiteren Schicksale der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland war. Besonders die Schwankungen bei einzelnen Bolschewiki in dieser Frage stellten eine ernste Gefahr dar. Wenn diese Schwankungen bei Skworzow-Stepanow zu keinem Abschwenken vom Bolschewismus führten, so führten sie bei anderen zu einer vorzeitigen Streichung der Losung der bürgerlich-demokratischen Revolution und auch dazu, dass der unmittelbare Übergang zur proletarischen Revolution vorzeitig auf die Tagesordnung gestellt wurde; das war eine linke Überspitzung. Wieder bei anderen führte die Streichung der Losungen der bürgerlich-demokratischen Revolution zum Überlaufen ins Lager der Liquidatoren. Das war bei dem bekannten Historiker Roschkow der Fall, der 1907 in den Reihen der Bolschewiki arbeitete, dann aber zum Liquidatorentum abwich (siehe den Artikel „Die Agrarfrage und die gegenwärtige Lage Russlands" im vorliegenden Bande) und in der liquidatorischen Presse mit Artikeln solcher Art auftrat, dass sie von Lenin verdienterweise als das „Manifest einer liberalen Arbeiterpartei" bezeichnet wurden (Siehe den Artikel mit dieser Überschrift). Besonders die menschewistischen Liquidatoren aller Schattierungen [...] sahen die Lage so an, dass der entschiedene Umschwung in der Richtung zur Vernichtung der Reste der Fronwirtschaft im Dorfe bereits eingetreten, dass die Gutswirtschaft in der Hauptsache schon eine kapitalistische geworden sei. Und diese Einschätzung der Lage in der Landwirtschaft diente ihnen als Beweis dafür, dass die revolutionären Losungen und damit auch die revolutionäre Partei des Proletariats zu liquidieren seien und dass die Partei sich, wie Lenin sich ausdrückte, in eine „Stolypinsche“, in eine „liberale Arbeiterpartei“ zu verwandeln habe. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 101]

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