Die Frage der Ausarbeitung eines Entwurfs zum Programm der Partei durch die Redaktion der „Iskra" und der „Sarja", auf dessen Grundlage die ideologische Einheit der russischen Sozialdemokratie hergestellt werden könnte, wurde zum ersten Male von Lenin vor den Redaktionsmitgliedern in einem Brief an P. Axelrod vom 9. Juli 1901 aufgeworfen („Lenin-Sammelbuch", Nr. 3, S. 192). Da die Ausarbeitung des Programms „ruhige Konzentration und Überlegung" erforderte, Lenin aber durch Organisationsarbeit und die Redaktion der „Iskra" vollauf in Anspruch genommen war, so waren es nur Plechanow oder Axelrod, die sich mit dem Programm befassen konnten. Plechanow übernahm es, das Programm zu entwerfen. Anfang Januar 1902 war der Programmentwurf fertig und an die Redaktionsmitglieder versandt und am 21. Januar fand in München eine besondere Redaktionskonferenz statt, die der Erörterung des von Plechanow vorgelegten Entwurfes gewidmet war. Sowohl die einzelnen Thesen des Entwurfs als auch der Entwurf als Ganzes befriedigten Lenin nicht, und in der Redaktionskonferenz zeigte es sich, dass innerhalb der Redaktion starke grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über Programmfragen vorhanden waren. Irgendwelche Dokumente über diese Konferenz, z. B. Protokolle oder Aufzeichnungen der Reden usw. sind nicht erhalten. Die „Bemerkungen zum ersten Programmentwurf Plechanows" (mit Hinweisen auf die Seiten des Plechanowschen Manuskripts), die auf S. 3 des vorliegenden Bandes abgedruckt sind, schrieb Lenin sofort, nachdem er den Entwurf Plechanows gelesen hatte; er schrieb sie „für sich", kurz vor der Konferenz. Anscheinend ist Lenin im Sinne dieser Bemerkungen in der Münchener Konferenz aufgetreten. Nachdem er sich von der Unannehmbarkeit des Plechanowschen Entwurfes überzeugt hatte, begann Lenin an der Ausarbeitung eines eigenen Entwurfes zu arbeiten (S. 13), in dem er den ursprünglichen Entwurf Plechanows von Grund aus umarbeitete. So lagen der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja" zwei Entwürfe zum Parteiprogramm vor: der von Plechanow und der von Lenin. Lenin wurde von Potressow und – mit einigen Abänderungsvorschlägen – von Martow unterstützt; vorher, zur Zeit der Münchener Konferenz, waren auch Axelrod und Sassulitsch geneigt, einige Thesen Lenins anzunehmen. In einer Reihe von Briefen an sie teilte ihnen Plechanow mit, dass es für ihn ganz unmöglich sei, sich mit dem Entwurf Lenins einverstanden zu erklären, wobei er darauf hinwies, dass er, Plechanow, wenn der Entwurf angenommen werden sollte, in der Presse gegen den Entwurf auftreten würde, so dass „etwas in der Art einer neuen Spaltung entstehen wird" („Briefwechsel G. V. Plechanows und Р. B. Axelrods", Bd. II, S. 126). Plechanow arbeitete dann seinen Entwurf um und legte ihn wiederum den Redaktionsmitgliedern zur Erörterung vor. Der zweite Entwurf wurde, ebenso wie vorher der erste, von Lenin einer scharfen Kritik unterzogen (S. 23 und 48 des vorliegenden Bandes). Um einen Ausweg aus der so entstandenen Lage zu finden, wurde vorgeschlagen, eine „Konferenz" aus Lenin und Plechanow zu veranstalten (Vorschlag Axelrods) oder die Frage den Mitgliedern der Liga zur Entscheidung vorzulegen, d. h. sie über den Rahmen der „Iskra"-Redaktion hinauszutragen (Vorschlag Plechanows). Nachdem diese beiden Vorschläge abgelehnt worden waren, nahm die Redaktion den Vorschlag der Sassulitsch an, eine aus Martow, Sassulitsch und Dan bestehende Kommission zu bilden, die beide Entwürfe miteinander in Einklang zu bringen hätte. Der von der Sassulitsch verfasste Verständigungsentwurf lautete folgendermaßen: „Die Kommission: Berg (Martow. Die Red.), ich (Sassulitsch. Die Red.), Dan, wenn er verreist, Eugen (L. Deutsch. Die Red.) wird aus den beiden Entwürfen einen Entwurf machen, wobei die Verfasser der Entwürfe einander folgende Zugeständnisse machen: 1. Die Charakteristik der kapitalistischen Entwicklung wird so gegeben, dass durch sie auch Russland erfasst wird, doch muss gleichzeitig der Unterschied in der Entwicklungsstufe unterstrichen werden. 2. Die Freysche (Leninsche. Die Red.) Formulierung der „Verdrängung (des Kleinbetriebs) wird im Sinne von Georges ((Plechanows. Die Red.) Entwurf abgeändert, d. h. nicht alle gehen zum Proletariat über, sondern bleiben zum Teil bestehen und verlieren nur die Bedeutung. Dafür muss der Entwurf kürzer gefasst werden, und es muss auf die sozialen Folgen des Kapitalismus hingewiesen werden: auf Armut, Unterdrückung, Ausbeutung, Elend, Erniedrigung usw. 3. Dem Punkt über den Klassenkampf und die soziale Revolution (gegen den Entwurf Freys) wird hinzugefügt, dass die Sozialdemokratie gegen die Unterdrückung und Ausbeutung nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch aller Werktätigen und Unterdrückten kämpft und alle werktätigen Massen befreien wird, doch muss (im Gegensatz zu Georges Entwurf) der von dem Klassenkampf und der sozialen Revolution handelnde Punkt selber streng im Geiste des proletarischen Klassenkampfes formuliert werden, und es muss die Diktatur des Proletariats hinzugefügt werden. Nach Ausarbeitung des Entwurfs teilt die Kommission ihn allen Mitgliedern der Redaktionsgruppe mit und hört ihre Bemerkungen dazu an. Alle diese Bemerkungen und Erklärungen berücksichtigend, arbeitet die Kommission den endgültigen Entwurf aus, den alle Mitglieder der Redaktion als ihren anzuerkennen und allen gegenüber zu verteidigen sich verpflichten" („Lenin-Sammelbuch", Nr. 2, S. 91 u. 92). Bei der Ausarbeitung des Programmentwurfs hat die Vermittlungskommission den Entwurf Plechanows zur Grundlage genommen. Der Kommissionsentwurf ist in zwei Fassungen bekannt, wobei die zweite formuliert wurde, nachdem Plechanow seine, von der Kommission berücksichtigten Bemerkungen zum ersten, nicht erhaltenen, Entwurf eingesandt hatte. Lenin hat den zweiten, mit der Hand Martows geschriebenen Entwurf am 12. April im Zug, während einer Reise nach London gelesen und gleich an den Rand seine Bemerkungen geschrieben (S. 51 und S. 66 des vorliegenden Bandes). Die endgültige Besprechung und Billigung des Kommissionsentwurfes fand am 14. April 1902 in Zürich statt. An der Konferenz nahmen teil: Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Martow und L. Deutsch. Lenin war nicht anwesend, Potressow ebenfalls nicht (krankheitshalber). Die Konferenz beschränkte sich darauf, einige redaktionelle und stilistische Korrekturen in den Entwurf der Kommission hineinzubringen. Der von der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja" in Zürich angenommene Programmentwurf wurde in Nr. 1 der „Iskra" (vom 1. Juni 1902) veröffentlicht und dann mit kleinen Abänderungen vom 2. Parteitag angenommen („Dokumente und Materialien", Nr. 1 und Nr. 2, S. 517 und S. 523). So bildete also der Entwurf Plechanows die Grundlage des grundsätzlichen oder theoretischen Teils des „Iskra"-Programms (mit Ausnahme des Agrarprogramms, das im grundlegenden Teil von Lenin geschrieben war). Ausführlicher über den Prozess der Ausarbeitung des Programms und über die auf diesem Boden entstandenen Meinungsverschiedenheiten in der Redaktion der „Iskra" siehe „Lenin-Sammelbücher" 2, 3 und 4; über die Thesen, die auf Bestehen Lenins in das Programm aufgenommen wurden, siehe Anmerkung Lenins zum Artikel Worowskis. Das
Wesen der Meinungsverschiedenheiten über das Programm geht hervor
aus den im vorliegenden Bande veröffentlichten kritischen Einwänden
Lenins gegen die Entwürfe Plechanows und der Kommission, die, um dem
Leser das Lesen zu erleichtern, neben dem Text Lenins abgedruckt
worden sind. [Sämtliche Werke, Band 4?] Sobald
die taktischen und organisatorischen Erfolge der „Iskra“
sich gezeigt hatten, schritt die Redaktion an die Ausarbeitung
des Programms.
Bei der Beratung über diese Frage kamen ernsthafte
Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern der Redaktion zum
Vorschein. Die Entwürfe Plechanows
und Lenins
standen einander gegenüber. Lenin warf Plechanow vor, er habe ein
„Programm für Lernende“ und nicht ein Programm für eine
Kampfpartei, die dem russischen Kapitalismus den Krieg erklärt,
geschrieben. Lenin beschuldigte Plechanow, er habe nur vom
Kapitalismus überhaupt und nicht vom russischen Kapitalismus
geschrieben, und zeigte auch eine Reihe anderer ernster Fehler
Plechanows auf. Im Besonderen verwies Lenin darauf, dass er die
Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft im Verlauf der
Vorbereitung der sozialen Revolution nicht richtig dargestellt, die
Rolle des Proletariats als einzige konsequent revolutionäre Klasse
nicht unterstrichen und das Proletariat von der allgemeinen Masse der
Werktätigen und Ausgebeuteten nicht „herausgehoben“ habe. Die
Redaktion machte zu der Veröffentlichung des Leninschen Entwurfes
die folgende Bemerkung: „Der prinzipielle Teil dieses Entwurfes ist
der Antrag eines Mitgliedes der Redaktion, Frei (Pseudonym Lenins. D.
Red.), der auf Grund des ursprünglichen Entwurfes Plechanows
angefertigt worden ist. Der praktische Teil wird von der gesamten
Kommission, d. h. von fünf Mitgliedern der Redaktion vorgeschlagen“.
Auch Punkt C wurde von der ganzen Kommission angenommen. [Ausgewählte Werke, Band 2] |
Glossar >