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Rosa Luxemburgs Juniusbroschüre

Die Broschüre „Die Krise der Sozialdemokratie“ wurde im März und April 1915 von Rosa Luxemburg im „Weibergefängnis“ in der Barnimstraße geschrieben. Rosa L. war im Februar 1914 wegen einer Versammlungsrede zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, der Strafantritt aber wegen ihres Gesundheitszustandes hinausgeschoben worden. Anfang 1915 jedoch wurde jeder weitere Strafaufschub abgelehnt und Rosa L. im Februar einfach verhaftet, damit sie ihre Strafe abbüße. Die Verhaftung erfolgte kurz nach der Fertigstellung der ersten (und letzten) Nummer der „Internationale“. Selbstverständlich konnte R. L. die Broschüre im Gefängnis nur illegal und unter großen Schwierigkeiten schreiben, die ihr nur dadurch erleichtert waren, dass sie wissenschaftliche Arbeit erlaubt bekommen hatte. Bei der Abfassung der Broschüre war ihr Leo Jogiches (Tyszka) behilflich.

Der „Rückschritt“ gegenüber der „Internationale", den Lenin der Junius-Broschüre wegen der Verschweigung des Zusammenhangs zwischen dem Sozialchauvinismus und dem Opportunismus und wegen des Fehlers der Kritik am kautskyanischen „Zentrum“ zum Vorwurf macht, wird um so augenfälliger, als gerade R. L. in der „Internationale“ (in dem Artikel „Der Wiederaufbau der Internationale“) an Kautsky und seiner Politik scharfe Kritik geübt hatte. So hatte sie dort u. a. geschrieben: „Kautsky, der als Vertreter des sogenannten ,marxistischen Zentrums“ oder, politisch gesprochen: als der Theoretiker des Sumpfes, schon seit Jahren die Theorie zur willfährigen Magd der offiziellen Praxis der ,Parteiinstanzen' degradiert und dadurch zu dem heutigen Zusammenbruch der Partei redlich beigetragen hat, hat auch jetzt schon eine neue Theorie zur Rechtfertigung und Beschönigung des Zusammenbruchs zurecht gedacht“. Und an anderer Stelle des Artikels: „Die offizielle Theorie, die den Marxismus für den jeweiligen Hausbedarf der Parteiinstanzen zur Rechtfertigung ihrer Tagesgeschäfte nach Belieben missbraucht und deren Organ die ,Neue Zeit“ ist“ … Ferner … „rein abstrakt-theoretisch gekommen, lässt Kautskys Theorie des historischen Materialismus von der marxistischen Theorie,.. nicht einen Stein auf dem anderen bestehen“. Und schließlich: … „und alle Versuche, ihn“ (den Marxismus) „ dem augenblicklichen Marasmus der sozialdemokratischen Praxis anzupassen, ihn zum feigen Apologetentum des Sozialimperialismus zu prostituieren, sind gefährlicher als alle offenen und schreienden Exzesse der nationalistischen Verirrung in den Reihen der Partei; diese Versuche führen dahin, nicht bloß die wirklichen Ursachen des tiefen Falles der Internationale noch zu verbergen, sondern auch die Quellen ihrer künftigen Aufrichtung aus diesem Falle zu verschütten“. – Diesen Artikel hatte R. L., wie Mehring in einem redaktionellen Nachwort bemerkte, Anfang Februar 1915 geschrieben. Der Rückschritt dann im März und April in der Broschüre, den Lenin hervorhebt, ist eine Folge jener Schwankungen, die sich bei den deutschen Linksradikalen immer wieder zeigen.

Zu der ausführlichen Kritik Lenins an der schroff ablehnenden Haltung R. L. zu der Losung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes sei nur noch bemerkt, dass R. L. auch 1918 an diesem ihrem falschen Standpunkt festhielt. In dem Manuskript über die russische Revolution, das sie 1918 im Gefängnis schrieb und das Paul Levi 1921 veröffentlichte („Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung“), kritisierte sie in der schärfsten Weise die praktische Durchführung dieser Losung durch die Bolschewiki bzw. durch die Sowjetmacht. Sie nannte das „famose“ Selbstbestimmungsrecht „hohle kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug“ und, unter Hinweis auf Abrüstung und Völkerbund, „eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie“. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 88]

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