Im Herbst 1904 erfuhr die oppositionelle Semstwobewegung eine stärkere Belebung und führte zu einer systematischen Semstwokampagne, von der hier bei Lenin die Rede ist. Diese Kampagne erstreckte sich auf die Zeit von August 1904 bis zum „blutigen Sonntag", dem 9./22. Januar 1905. Der russisch-japanische Krieg brachte der absolutistischen Regierung Niederlage auf Niederlage. Am 15./28. Juli 1904 wurde von den Sozialrevolutionären gegen den Innenminister von Plehwe ein Bombenattentat verübt. Plehwe wurde in Stücke gerissen. Im Lande wuchs die revolutionäre Bewegung. Die Regierung wurde unsicher. Nach sechswöchiger Abtastung der Stimmung der „Gesellschaft" versuchte es der Zarismus mit liberalen Versprechungen. Am 26. August/8. September 1904 wurde als Nachfolger Plehwes der bisherige Chef des Gendarmeriekorps Fürst Swjatopolk-Mirski zum Innenminister ernannt. Mit seiner Ministerschaft begann die Ära des sogenannten liberalen „Frühlings. Der neue Minister verkündete Vertrauen zur Gesellschaft. In einer Rede an die Beamten des Innenministeriums am 16./29. September sagte er u. a.: „…Die administrative Erfahrung brachte mich zu der festen Überzeugung, dass die Ersprießlichkeit der Regierungsarbeit auf einem aufrichtig wohlwollenden und wahrhaft vertrauensvollen Verhältnis zu den gesellschaftlichen und ständischen Einrichtungen sowie zur Bevölkerung überhaupt beruht…" Die Regierung kam der liberalen Opposition einige Schritte entgegen: ein paar in Ungnade gefallene Liberale wurden in Semstwoämtern bestätigt, einige verbannte liberale Semstwomänner durften in ihre Heimat zurückkehren, die Fesseln der Pressezensur wurden etwas gelockert. Im November begann eine Tageszeitung „Nascha Schisn" – ein legales halboffizielles Organ der Oswoboschdenije-Gruppe – zu erscheinen. Der Amtsantritt Swjatopolk-Mirskis fiel zeitlich zusammen mit den ordentlichen Herbsttagungen der Kreis-Semstwoversammlungen. Die Semstwoleute reagierten auf die Verkündung der „Vertrauensära" mit einer Flut von Adressen und Begrüßungen an den Minister, in denen mehr oder weniger klar eine Verfassung gefordert wurde. Die liberale Opposition begann nunmehr, sich offen zu organisieren. Eine gewisse Organisation der Semstwoopposition bestand schon von früher her. In den neunziger Jahren bildete sich unter den Semstwoleuten ein kleiner Kreis, der sich von Zeit zu Zeit in Moskau versammelte. Im Mai 1902 lud D. N. Schipow, damals Vorsitzender des Moskauer Gouvernements-Semstwoamtes, die Vorsitzenden der Gouvernements-Semstwoämler und einige ihm befreundete Semstwoabgeordnete zu einer Konferenz nach Moskau ein. Es kamen etwa 25 Personen zusammen. Die Konferenz, die konspirativ stattfand, schuf eine gewisse Organisation und wählte ein Büro (Vorstand). Dieses Büro bereitete nun jetzt einen Semstwokongress vor, der im November in Petersburg zusammentreten sollte. Es geschah dies mit Erlaubnis des neuen Innenministers, der vom Zaren die Genehmigung hierzu erwirkt hatte. Auf der Tagesordnung des Kongresses stand u. a. auch folgender Punkt (6): „Die allgemeinen Bedingungen, die einer geordneten Entwicklung unseres Semstwo- und Staatslebens hinderlich im Wege stehen, und die wünschenswerten Änderungen derselben". Fünf Tage vor dem Zusammentritt des Kongresses wurde das Büro jedoch benachrichtigt, dass seine Abhaltung verboten sei. Dennoch fand der Kongress in den Tagen vom 19. bis 21. (6.-8.) November 1904 mit Zustimmung des Ministers inoffiziell, als „private Beratung", statt. Die Oswoboschdenije-Gruppe entfaltete um diesen Kongress, ebenso wie um die darauffolgenden Gouvernements-Semstwoversammlungen eine breitangelegle Kampagne. Schon am 20. Oktober/2. November hatte der Rat des „Sojus Oswoboschdenija" („Bund der Befreiung") beschlossen: 1. an dem Semstwokongress tätigen Anteil zu nehmen und dort konstitutionelle Forderungen aufzustellen; 2. die Kampagne im Zusammenhang mit dem vierzigsten Jahrestag der Justizreform auszunützen (Veranstaltung von Banketten, Referaten, Annahme von Adressen, .Resolutionen); 3. auf den bevorstehenden Kreis- und Gouverneinents-Semstwoversammlungen die Frage der Verfassung und der Unterstützung der Beschlüsse des Semstwokongresses aufzurollen; 4. eine Kampagne für die Bildung von Verbänden der Professoren, Advokaten, Ärzte, Schriftsteller und anderer freien Berufe zu entfalten, ein Büro dieser Verbände zu organisieren und die einzelnen Verbände zu einem Verband der Verbände (Sojus Sojusow) zu vereinigen. Die Gouvernements-Semstwoversammlungen wurden von der Oswoboschdenije-Gruppe in weitestgehendem Maße ausgenützt, um die liberalen Errungenschaften zu verankern. Die Bankettkampagne erfasste alle größeren Städte. Die Liberalen taten alles, um zu unterstreichen, dass sie die politische Bühne beherrschten und nicht die Arbeiter. Schon früher, im September, delegierte die Oswoboschdenije-Gruppe vier Vertreter unter Führung P. Struves zur Pariser Konferenz der oppositionellen und revolutionären Organisationen, deren Aufgabe es war, einen Block der an der Konferenz beteiligten Parteien und Organisationen zu schaffen. Bald darauf knüpften die Liberalen Beziehungen zu Gapon an und stellten die ersten Verbindungen mit den Petersburger Arbeitern her. Für die Stellung der russischen Liberalen und den Charakter ihrer Semstwokampagne ist es charakteristisch, dass sie am Vorabend des 9./22. Januar 1905 durch den Mund P. Struves verkünden ließen, „in Russland gibt es kein revolutionäres Volk" (Artikel Struves: „Das dringende Gebot der Stunde" im „Oswoboschdjenije" Nr. 63 vom 7./20. Januar 1905). Die Menschewiki sekundierten den Liberalen. Ihre Stellung zur Semstwokampagne fand ihren Ausdruck in einem Schreiben der „Iskra"-Redaktion an die Parteiorganisationen, das von Lenin hier behandelt wird. Martow widmete in Nr. 78 der „Iskra" dem Semstwokongress einen Artikel: „Das Ergebnis des Semstwoparlaments", voll Lobeshymnen auf die Liberalen. Den ersten Schlag gegen die „Ära des Vertrauens" führte die Regierung durch ihr Kommuniqué vom 12./25. Dezember 1904 mit Drohungen gegen die Liberalen. Der blutige Sonntag machte dem liberalen „Frühling" ein Ende; er wurde abgelöst durch die offene Polizei- und Militärdiktatur Trepows. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 7, Anm. 1] Bankettkampagne der Semstwos — eine Kampagne, die die konstitutionell gesinnte Bourgeoisie und die liberalen Gutsbesitzer, insbesondere die Semstwoleute, von August 1904 bis zum 9./22. Januar 1905 durchführten. Dieser Teil der russischen Bourgeoisie organisierte im Zusammenhang mit dem vierzigjährigen Bestehen der Gerichtsordnungen in einer Reihe von Städten Banketts, die sie dazu benutzten, konstitutionelle Forderungen aufzustellen. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 15, Anm. 26] |
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