Wladimir I. Lenin: Die Auflösung der Duma und die Aufgaben des Proletariats1 [Geschrieben Ende Juli 1906 Veröffentlicht als Sonderbroschüre August 1906 im Verlag „Nowaja Wolna". Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 3-26] Die Auflösung der Duma stellt die Arbeiterpartei vor eine ganze Reihe außerordentlich wichtiger Fragen. Nehmen wir die wichtigsten. Es gilt: 1. im Allgemeinen die Bedeutung dieses politischen Ereignisses für den Gang unserer Revolution festzustellen; 2. den Inhalt des weiteren Kampfes und die Losungen, unter denen er geführt werden muss, zu bestimmen; 3. die Formen dieses weiteren Kampfes zu bestimmen; 4. den Zeitpunkt des Kampfes zu wählen oder, richtiger gesagt, die Umstände in Erwägung zu ziehen, von denen die richtige Wahl des Zeitpunktes abhängt. Wir wollen kurz bei diesen Fragen verweilen. I. Die Auflösung der Duma hat in der anschaulichsten und krassesten Weise die Ansichten derjenigen bestätigt, die davor warnten, sich durch das „konstitutionelle" Äußere der Duma und durch die konstitutionelle, wenn man so sagen darf, Oberfläche der russischen Politik im zweiten Viertel des Jahres 1906 täuschen zu lassen. „Die großen Worte", die unsere Kadetten (und Kadettophilen) vor der Duma, über die Duma und im Zusammenhang mit der Duma in Unmengen verzapft haben, hat jetzt das Leben als ganz erbärmliches Geschwätz entlarvt. Man beachte eine interessante Tatsache: die Duma ist auf streng-konstitutioneller Grundlage aufgelöst worden. Sie ist nicht „auseinandergejagt" worden, es war keine Verletzung der Gesetze. Es geschah im Gegenteil streng nach dem Gesetz, wie in irgendeiner „konstitutionellen Monarchie". Die Oberste Gewalt hat das Parlament auf Grund der „Konstitution" aufgelöst. Auf Grund des und des Paragraphen ist diese „Kammer" aufgelöst worden, und durch den gleichen Ukas (frohlocket, Gesetzesanbeter!) sind neue Wahlen oder der Zeitpunkt für die Einberufung einer neuen Duma angesetzt worden. Aber gerade hier hat sich sofort gezeigt, dass die russische Konstitution eine Illusion ist, dass unser einheimischer Parlamentarismus eine Fiktion ist, worauf der linke Flügel der Sozialdemokratie im Laufe der ganzen ersten Hälfte des Jahres 1906 so beharrlich hingewiesen hat. Jetzt haben nicht irgendwelche „engstirnigen und fanatischen Bolschewiki", sondern die allerfriedlichsten Legalisten-Liberalen durch ihre Handlungsweise diesen besonderen Charakter der russischen Konstitution zugegeben. Die Kadetten haben dies dadurch zugegeben, dass sie auf die Auflösung der Duma mit einer „Massenflucht ins Ausland", nach Wiborg, geantwortet haben, dass sie geantwortet haben mit einem Aufruf, der die Gesetze verletzt, dass sie geantwortet haben und antworten mit Artikeln der ganz zahmen „Rjetsch", die zugeben muss, dass es sich tatsächlich um die Wiederherstellung des Absolutismus handelt, dass Suworin unversehens die Wahrheit ausplaudert, wenn er schreibt, dass er wohl kaum noch eine zweite Duma erleben werde.2 Alle Hoffnungen der Kadetten haben sich mit einem Schlage von der „Konstitution" auf die Revolution umgestellt – und das alles nur wegen eines streng konstitutionellen Aktes der obersten Gewalt im Staate. Gestern aber haben sich die Kadetten in der Duma noch damit gebrüstet, dass sie der „Schutzschild der Dynastie" und Anhänger eines strengen Konstitutionalismus seien. Die Logik des Lebens ist stärker als die Logik konstitutioneller Lehrbücher. Die Revolution lehrt. Alles, was die „bolschewistischen" Sozialdemokraten über die Kadetten-Siege geschrieben haben (man vergleiche die Broschüre: „Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei", von N. Lenin), hat sich aufs Glänzendste bewahrheitet. Die ganze Einseitigkeit und Kurzsichtigkeit der Kadetten ist offensichtlich geworden. Die konstitutionellen Illusionen – man erkannte den felsenfesten Bolschewik daran, dass er sie als Vogelscheuche bezeichnete – haben sich vor aller Augen eben als Illusionen, als ein Gespenst, als ein Trugbild erwiesen. Es gibt keine Duma!, brüllen in einem Anfall wilder Begeisterung die „Moskowskije Wjedomosti" und der „Graschdanin". Es gibt keine Konstitution!, wiederholen betrübt die feinen Kenner unserer Konstitution, die Kadetten, die sich so virtuos auf die Konstitution berufen, mit solcher Gier ihre Paragraphen geschluckt haben. Die Sozialdemokraten werden nicht frohlocken (wir haben auch aus der Duma herausgeholt, was herauszuholen war), sie werden auch nicht den Mut sinken lassen. Das Volk hat gewonnen – werden sie sagen –, es ist um eine Illusion ärmer geworden. Ja, mit der Kadettenpartei lernt das ganze russische Volk, lernt es nicht aus einem Büchlein, sondern aus der eigenen Revolution, die von ihm selbst gemacht wird. Wir haben einst gesagt, dass das Volk mit den Kadetten seine ersten, mit den Trudowiki aber seine letzten bürgerlichen Illusionen über die Freiheit verliert. Die Kadetten träumten von der Abschüttelung der Leibeigenschaft, der Willkür, der Selbstherrlichkeit, des Asiatentums, des Absolutismus ohne Sturz des alten Regimes. Die Kadetten haben mit ihren beschränkten Träumen schon Schiffbruch erlitten. Die Trudowiki träumen davon, dass die Massen von der Armut erlöst werden, dass die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ohne Vernichtung der Warenwirtschaft beseitigt wird: sie werden noch Schiffbruch erleiden, und zwar in nicht zu ferner Zukunft, wenn unsere Revolution zum vollen Sieg unserer revolutionären Bauernschaft geführt haben wird. Das rasche Emporkommen der Kadetten, ihre schwindelerregenden Wahlsiege, ihr Triumph in der Kadettenduma, ihr plötzlicher Zusammenbruch infolge eines Federstrichs des „geliebten Monarchen" (der, wie man wohl sagen kann, Roditschew trotz seiner Liebeserklärung in die Fresse gespuckt hat) – alles dies sind Ereignisse von ernster politischer Bedeutung, alles dies sind Etappen der revolutionären Entwicklung des Volkes. Das Volk, d. h. die breiten Massen der Bevölkerung, ist in seiner Masse bis zum Jahre 1906 noch nicht bewusst revolutionär geworden. Die Unerträglichkeit des Absolutismus ist allen zum Bewusstsein gekommen, ebenso die Unbrauchbarkeit der Beamtenregierung, ebenso die Notwendigkeit einer Volksvertretung. Aber dem Volk konnte noch nicht zum Bewusstsein kommen, es konnte noch nicht fühlen, dass die alte Macht und eine machtvolle Volksvertretung nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Es erwies sich, dass das Volk hierfür noch eine besondere Erfahrung, die Erfahrung der Kadettenduma benötigte. Die Kadettenduma hat auf ihrem kurzen Lebenspfad dem Volk anschaulich den ganzen Unterschied zwischen einer machtlosen und einer machtvollen Volksvertretung gezeigt. Unsere Losung, Konstituante (d. h. souveräne Volksvertretung), hat sich als tausendmal richtig erwiesen, das Leben aber, d. h. die Revolution, führte auf längerem und schwierigerem Weg zu ihr, als wir voraussehen konnten. Werft einen Blick auf die Hauptetappen der großen russischen Revolution, und ihr werdet sehen, wie das Volk auf Grund seiner Erfahrung Stufe um Stufe zur Losung der Konstituante kam. Da war die Epoche des „Vertrauens", Ende 1904. Die Liberalen waren entzückt. Sie besetzten die ganze Vorbühne. Nicht sehr standhafte Sozialdemokraten sprechen sogar von den beiden Hauptkräften des gegebenen Augenblicks: den Liberalen und der Regierung. Und siehe da, das Volk nimmt die Idee des „Vertrauens" in sich auf, das Volk geht „vertrauensvoll" am 22. (9.) Januar zum Winterpalais. Die Epoche des „Vertrauens" lässt eine dritte Kraft, das Proletariat, auf den Plan treten und legt den Grund zum tiefsten Misstrauen des Volkes gegenüber der absolutistischen Regierung. Die Epoche des „Vertrauens" endet mit der Weigerung des Volkes, den Worten der Regierung über das „Vertrauen" Glauben zu schenken. Die nächste Etappe. Man hat die Bulyginsche Duma versprochen. Das Vertrauen ist durch die Tat bekräftigt worden. Die Volksvertreter werden einberufen. Die Liberalen schwimmen in Wonne, sie rufen zur Beteiligung an den Wahlen auf. Die liberalen Professoren rufen – wie es diesen „ideellen" Nachläufern der Bourgeoisie ziemt – die Studenten auf, zu studieren und sich nicht mit der Revolution zu befassen. Nicht sehr standhafte Sozialdemokraten strecken die Waffen vor den Argumenten der Liberalen. Auf die Bühne tritt das Volk. Das Proletariat fegt durch den Oktoberstreik die Bulyginsche Duma hinweg und reißt die Freiheit an sich, es erzwingt das Manifest, ein der Form und dem Inhalt nach durchaus konstitutionelles Manifest. Das Volk überzeugt sich durch seine Erfahrung davon, dass es nicht genügt, sich die Freiheit versprechen zu lassen, dass man außerdem die Kraft haben muss, die Freiheit an sich zu reißen. Weiter. Die Regierung nimmt im Dezember die Freiheiten weg. Das Proletariat steht auf. Der erste Aufstand wird niedergeschlagen. Der hartnäckige und verzweifelte Kampf aber, den das Proletariat mit der Waffe in der Hand auf den Straßen Moskaus führt, macht die Einberufung der Duma unvermeidlich. Der Boykott des Proletariats misslingt. Das Proletariat hat nicht genügend Kraft, um die Wittesche Duma zu stürzen. Die Kadetten strömen in die Duma. Die Volksvertretung ist eine vollendete Tatsache. Die Kadetten schwimmen in Wonne. Ihr Jubel kennt keine Grenzen. Das Proletariat wartet skeptisch ab. Die Duma beginnt zu arbeiten. Das Volk nützt die kleine Erweiterung der Freiheiten zehnmal mehr aus als die Kadetten. Die Kadettenduma kann mit dem Schwung und der Entschlossenheit des Volkes nicht Schritt halten, – sofort erweist sich, dass sie weit hinter dem Volke zurückgeblieben ist. Die Epoche der Kadettenduma (Mai bis Juni 1906) wird zu einer Epoche der größten Erfolge der Parteien, die links von den Kadetten stehen. Die Trudowiki überholen die Kadetten in der Duma, kanzeln die Kadetten auf den Volksversammlungen wegen ihrer Schüchternheit ab, es wächst die Presse der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre, die revolutionäre Bauernbewegung, die Gärung im Heere wird stärker, das Proletariat, das durch die Dezemberniederlage erschöpft war, beginnt sich zu regen. Die Epoche des Kadettenkonstitutionalismus erweist sich nicht als eine Epoche der Kadetten- und der konstitutionellen Bewegung, sondern als eine Epoche der revolutionären Bewegung. Diese Bewegung zwingt zur Auflösung der Duma. Die Erfahrung bestätigt, dass die Kadetten nur „Schaum" sind, ihre Stärke beruht auf der Stärke der Revolution. Auf die Revolution aber antwortet die Regierung mit der dem Wesen nach revolutionären (obschon der Form nach konstitutionellen) Auflösung der Duma. Das Volk überzeugt sich durch die Erfahrung davon, dass die Volksvertretung nichts ist, wenn sie nicht souverän ist, wenn die alte Macht sie einberufen hat, wenn neben ihr die alte Macht noch unangetastet ist. Der objektive Gang der Ereignisse stellt schon nicht mehr die Frage dieser oder jener Fassung der Gesetze, der Konstitution auf die Tagesordnung, sondern die Frage der Macht, der realen Macht. Alle beliebigen Gesetze und alle beliebigen gewählten Vertreter sind nichts, wenn sie keine Macht haben. Darüber hat die Kadettenduma das Volk belehrt. Friede ihrer Asche. Wir aber wollen uns recht gut ihre Lehre zu eigen machen. II. Wir kommen hiermit unmittelbar zu der zweiten Frage: der Frage des objektiven, von der Geschichte diktierten Inhalts des bevorstehenden Kampfes und der Frage der Losungen, die wir diesem Kampfe geben müssen. Nicht sehr standhafte Sozialdemokraten, die Menschewiki, haben es auch da schon fertig gebracht, zu schwanken. Ihre erste Losung lautete: Kampf für die Wiederaufnahme der Tagung der Duma zum Zweck der Einberufung der Konstituante. Das Petersburger Komitee legt Verwahrung ein. Die Unsinnigkeit dieser Losung ist zu augenscheinlich. Es ist schon kein Opportunismus mehr, sondern einfach Unsinn. Das ZK macht einen Schritt vorwärts. Es wird die Losung ausgegeben: Kampf gegen die Regierung zur Verteidigung der Duma zum Zweck der Einberufung der Konstituante. Das ist natürlich besser. Das ist schon nicht mehr weit von der Losung entfernt: Kampf für den Sturz der absolutistischen Regierung zum Zweck der Einberufung der Konstituante3 auf revolutionärem Wege. Die Auflösung der Duma dient zweifellos als Anlass zum allgemeinen Kampf des Volkes für eine machtvolle Volksvertretung: in diesem Sinne ist die Losung: „Zur Verteidigung der Duma" nicht ganz unannehmbar. Aber es handelt sich ja gerade darum, dass in diesem Sinne darin bereits die Losung enthalten ist, dass wir die Auflösung der Duma als Anlass zum Kampf betrachten. Die Fassung hingegen: „Zur Verteidigung der Duma", die nicht ausdrücklich in diesem (d. h. in dem eben erwähnten) Sinne gedeutet wird, bleibt unklar und ist geeignet, Befremden hervorzurufen, sie bedeutet eine Rückkehr zu dem bis zu einem gewissen Grade schon überlebten Alten, zur Kadettenduma. Mit einem Wort, diese Formulierung erzeugt eine Reihe von unrichtigen und schädlichen „retrograden" Gedanken. Was an dieser Formulierung richtig ist, ist vollkommen und restlos enthalten in den Motiven unseres Kampfentschlusses, in der Erklärung der Tatsache, wieso die Auflösung der Duma als genügend wichtiger Anlass zum Kampfe gilt. Der Marxist darf keinesfalls vergessen, dass die Losung des unmittelbar bevorstehenden Kampfes nicht einfach und direkt aus der allgemeinen Losung eines bestimmten Programms abgeleitet werden kann. Es genügt nicht, sich auf unser Programm zu berufen (siehe den Schluss dieses Artikels über den Sturz des Absolutismus und die Konstituante usw.), um die Losung des – jetzt, im Sommer oder Herbst 1906 – unmittelbar bevorstehenden Kampfes zu bestimmen. Dazu muss man die konkrete historische Situation berücksichtigen, die ganze Entwicklung und den ganzen Verlauf der Revolution, ihre einzelnen Entwicklungsstufen Schritt um Schritt verfolgen und unsere Aufgaben nicht nur aus den Prinzipien des Programms, sondern auch aus den früheren Schritten und Etappen der Bewegung ableiten. Nur eine solche Analyse wird eine wirklich historische Analyse sein, zu der der dialektische Materialist verpflichtet ist. Und gerade eine solche Analyse zeigt uns, dass die objektive politische Lage jetzt nicht die Frage aufgerollt hat, ob eine Volksvertretung vorhanden ist, sondern die Frage, ob diese Volksvertretung souverän ist. Die objektive Ursache des Untergangs der Kadettenduma ist nicht darin zu suchen, dass sie nicht verstanden hat, die Nöte des Volkes auszudrücken, sondern darin, dass sie die revolutionäre Aufgabe des Kampfes um die Macht nicht bewältigt hat. Die Kadettenduma bildete sich ein, ein konstitutionelles Organ zu sein, in Wirklichkeit aber war sie ein revolutionäres Organ (die Kadetten schimpften auf uns, weil wir die Duma als revolutionäres Organ, als Etappe oder als Werkzeug der Revolution betrachteten – das Leben aber hat unsere Ansicht vollkommen bestätigt). Die Kadettenduma bildete sich ein, ein Organ des Kampfes gegen das Kabinett zu sein, in Wirklichkeit aber war sie nur ein Organ des Kampfes für den Sturz der ganzen alten Macht. So war es in der Tat, denn die gegebene ökonomische Lage erforderte es. Aber gerade für diesen Kampf erwies sich ein solches Organ, wie die Duma der Kadetten, als „untauglich". Dem unaufgeklärtesten Muschik wird jetzt der Gedanke ins Bewusstsein gehämmert: die Duma ist nutzlos, jede Duma ist nutzlos, wenn das Volk keine Macht hat. Wie kann man aber die Macht erringen? Indem man die alte Macht stürzt und eine neue freie, wählbare Volksmacht schafft. Entweder stürzt man die alte Macht oder man hält die Aufgaben der Revolution nicht in dem Umfange für durchführbar, in dem sie die Bauernschaft und das Proletariat stellen. So hat die Frage das Leben selbst gestellt. So hat die Frage das Jahr 1906 gestellt. So ist die Frage durch die Auflösung der Kadettenduma gestellt worden. Wir können natürlich nicht dafür bürgen, dass die Revolution diese Frage mit einem Schlage löst, dass der Kampf leicht, einfach sein wird, dass der Sieg vollauf und unbedingt gesichert ist. Niemals wird irgend jemand für so etwas vor Beginn des Kampfes bürgen. Die Losung bietet keine Gewähr für einen einfachen und leichten Sieg. Die Losung ist ein Hinweis auf das Ziel, das erreicht werden muss, wenn man die gegebenen Aufgaben durchführen will. Früher war die Schaffung (oder die Einberufung) einer Volksvertretung im Allgemeinen eine solche unmittelbar gegebene Aufgabe. Jetzt ist eine solche Aufgabe: der Volksvertretung die Macht zu sichern. Das aber bedeutet: Beseitigung, Zerstörung, Sturz der alten Macht, Sturz der absolutistischen Regierung. Wenn diese Aufgabe nicht vollkommen gelöst wird, so kann auch die Volksvertretung nicht vollkommen souverän sein, – so kann es folglich auch nicht genügende Bürgschaften dafür geben, dass diese neue Volksvertretung nicht das gleiche Schicksal ereilt wie die Kadettenduma. Die objektive Lage der Dinge stellt jetzt nicht den Kampf für die Volksvertretung auf die Tagesordnung, sondern den Kampf für die Schaffung der Bedingungen, unter denen es unmöglich ist, die Volksvertretung auseinanderzujagen oder aufzulösen, unter denen es ferner unmöglich ist, sie zu einem Possenspiel zu erniedrigen, wie die Trepow und Genossen die Kadettenduma zu einer Posse gemacht haben. III. Die wahrscheinliche Form des nahenden Kampfes wird teils durch seinen Inhalt, teils durch die früheren Formen des revolutionären Kampfes des Volkes und des konterrevolutionären Kampfes des Absolutismus bestimmt. Was den Inhalt des Kampfes anbelangt, so haben wir schon gezeigt, wie er nach den zwei Jahren Revolution gegenwärtig ganz auf den Sturz der alten Macht gerichtet ist. Völlige Verwirklichung dieses Zieles ist nur auf dem Wege des allgemeinen bewaffneten Volksaufstandes möglich. Was die früheren Kampfformen anbelangt, so sind der Generalstreik und der Aufstand „das letzte Wort" der Massen- und Volksbewegung in Russland. Das letzte Viertel des Jahres 1905 musste im Bewusstsein und in der Stimmung des Proletariats, der Bauernschaft, des klassenbewussten Teiles des Heeres und des demokratischen Teiles verschiedener Berufsvereinigungen der Intellektuellen mit Notwendigkeit unverlöschliche Spuren hinterlassen. Es ist daher durchaus natürlich, dass nach der Auflösung der Duma der erste Gedanke, der den breitesten Massen der kampffähigen Elemente in den Kopf kam, war: Generalstreik. Niemand hegte auch nur den leisesten Zweifel daran, dass der Generalstreik in ganz Russland die unvermeidliche Antwort auf die Auflösung der Duma sein muss. Es hat einen gewissen Nutzen gebracht, dass diese Meinung allgemein war. Von spontanen und von Teilausbrüchen haben die revolutionären Organisationen die Arbeiter fast überall bewusst und systematisch zurückgehalten. Das bestätigen die Nachrichten, die aus den allerverschiedensten Orten Russlands eintreffen. Die Erfahrungen aus der Zeit vom Oktober bis Dezember haben unzweifelhaft dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit aller in viel höherem Maße als früher auf eine allgemeine und gleichzeitige Aktion zu lenken. Außerdem muss noch ein außerordentlich charakteristischer Umstand verzeichnet werden: laut den Nachrichten aus einigen wichtigen Zentren der Arbeiterbewegung, wie z. B. aus Petersburg, haben die Arbeiter nicht nur leicht und schnell den Gedanken der Notwendigkeit eines allgemeinen und gleichzeitigen Vorgehens erfasst, sondern außerdem fest auf eine entschlossene Kampfaktion bestanden. Der unglückliche Gedanke eines (eintägigen oder dreitägigen) Demonstrationsstreiks anlässlich der Auflösung der Duma – ein Gedanke, der bei einigen Petersburger Menschewiki4 auftauchte – dieser Gedanke stieß bei den Arbeitern auf den entschiedensten Widerstand. Der sichere Klasseninstinkt und die Erfahrung von Leuten, die mehr als einmal einen ernsten Kampf geführt haben, ließ sie sofort erkennen, dass es sich jetzt schon durchaus nicht mehr um eine Demonstration handelt. Demonstrieren werden wir nicht, sagten die Arbeiter. Wir werden einen verzweifelten, entschiedenen Kampf beginnen, wenn der Augenblick einer allgemeinen Aktion gekommen ist. Das war, allen Nachrichten zufolge, die allgemeine Meinung der Petersburger Arbeiter. Sie begriffen, dass Teilaktionen und insbesondere Demonstrationen nach alledem, was Russland seit 1901 (dem Jahr des Beginns einer breiten Demonstrationsbewegung) erlebt hatte, lächerlich wären, dass die Verschärfung der politischen Krise die Möglichkeit ausschließt, wieder „von vorn anzufangen", dass für die Regierung, die im Dezember mit Vergnügen „Blut geleckt" hat, friedliche Demonstrationen über alle Maßen vorteilhaft sein würden. Sie würden das Proletariat völlig nutzlos schwächen, sie würden dazu beitragen, die Polizisten und die Soldaten auf Unbewaffnete abzurichten, die man packen und erschießen würde. Sie würden nur eine gewisse Bestätigung für die Prahlerei Stolypins bilden, er habe einen Sieg über die Revolution errungen, denn er habe die Duma aufgelöst, ohne damit die gegen die Regierung gerichtete Bewegung zu verschärfen. Jetzt betrachtet jedermann diese Prahlerei als hohle Prahlerei, denn man weiß und fühlt, dass der Kampf noch bevorsteht. Andernfalls hätte man die „Demonstration" als Kampf gedeutet, man hätte aus ihr einen (hoffnungslosen) Kampf gemacht, die Beendigung der Demonstration aber hätte man in der ganzen Welt als neue Niederlage gerühmt. Der Gedanke eines Demonstrationsstreiks war nur unserer Ledru-Rollins aus der Kadettenpartei würdig, die den Parlamentarismus ebenso kurzsichtig überschätzten, wie es Ledru-Rollin im Jahre 1849 tat. Das Proletariat hat diesen Gedanken sofort verworfen und sehr gut daran getan, dass es ihn verworfen hat. Die Arbeiter, die stets Aug in Aug dem revolutionären Kampfe gegenüberstanden, haben die Kampfbereitschaft des Feindes und die Notwendigkeit einer entschlossenen Kampfaktion richtiger beurteilt als manche Intellektuelle. Leider hat unsere Partei die Frage der Kampfaktionen nicht im erforderlichen Maße gewürdigt, da gegenwärtig in der russischen Sozialdemokratie der rechte Flügel das Übergewicht hat. Der Vereinigungsparteitag der russischen Sozialdemokratie berauschte sich an den Siegen der Kadetten, er verstand nicht, die revolutionäre Bedeutung des gegenwärtigen Augenblicks richtig zu bewerten, er entzog sich der Aufgabe, aus der Erfahrung der Periode vom Oktober bis zum Dezember alle erforderlichen Schlussfolgerungen zu ziehen. Vor die Notwendigkeit aber, sich diese Erfahrung zu eigen zu machen, sah sich die Partei viel schneller und unmittelbarer gestellt, als manche Verehrer des Parlamentarismus gedacht hatten. Die Kopflosigkeit, die die zentralen Körperschaften unserer Partei im entscheidenden Augenblick an den Tag legten, war das unvermeidliche Ergebnis dieser Lage der Dinge. Die Vereinigung des politischen Massenstreiks mit dem bewaffneten Aufstand ist wiederum ein Gebot der ganzen Lage der Dinge. Hierbei treten die schwachen Seiten des Streiks als eines selbständigen Kampfmittels besonders anschaulich zutage. Alle haben sich davon überzeugt, dass eine außerordentlich wichtige Vorbedingung für den Erfolg eines politischen Streiks seine Plötzlichkeit ist, die Möglichkeit, die Regierung zu überraschen. Jetzt ist das unmöglich. Die Regierung hat im Dezember gelernt, Streiks zu bekämpfen, und ist im gegenwärtigen Augenblick recht solide zu diesem Kampfe gerüstet. Alle weisen darauf hin, dass die Eisenbahnen im Generalstreik von äußerster Wichtigkeit sind. Wenn die Eisenbahnen stillgelegt werden, hat der Streik alle Aussichten, zum Generalstreik zu werden. Wenn es nicht gelingt, die Eisenbahn völlig still zu legen, wird der Streik – das kann man fast mit Bestimmtheit sagen – kein Generalstreik sein. Für die Eisenbahner aber ist es ganz besonders schwierig, in den Streik zu treten: die Züge für Strafexpeditionen stehen bereit, bewaffnete militärische Abteilungen sind überall längs der Eisenbahnlinien, auf die Stationen, manchmal sogar auf die einzelnen Züge verteilt. Unter solchen Bedingungen kann – oder mehr als das – muss der Streik unvermeidlich in der Mehrzahl der Fälle den direkten und unmittelbaren Zusammenstoß mit der bewaffneten Macht bedeuten. Der Lokomotivführer, der Telegraphist, der Weichensteller werden sofort vor das Dilemma gestellt sein: entweder an Ort und Stelle erschossen zu werden (Golutwino, Ljuberzy und andere Stationen des russischen Eisenbahnnetzes haben nicht umsonst bereits revolutionären Ruf im ganzen Volke erlangt), oder die Arbeit aufzunehmen und den Streik zu brechen. Wir haben natürlich das Recht, ein wirklich heldenhaftes Verhalten von vielen, von sehr vielen Eisenbahnarbeitern und -beamten zu erwarten, die durch die Tat bewiesen haben, dass sie der Sache der Freiheit ergeben sind. Selbstverständlich liegt uns der Gedanke fern, die Möglichkeit eines Eisenbahnerstreiks und seines Erfolges zu leugnen. Aber wir haben nicht das Recht, uns über die wahre Schwierigkeit der Aufgabe hinwegzutäuschen: es würde die allerschlechteste Politik sein, solche Schwierigkeiten totzuschweigen. Wenn man aber der Wirklichkeit gerade ins Auge blickt, wenn man keine Vogelstraußpolitik treibt, so wird es klar, dass aus dem Streik unvermeidlich und unverzüglich der bewaffnete Aufstand hervorwächst. Eisenbahnerstreik ist Aufstand, das ist nach dem Dezember unbestreitbar. Ohne Eisenbahnerstreik wird der Bahntelegraph nicht stillgelegt, wird die Beförderung von Briefen durch die Eisenbahn nicht unterbrochen, ist folglich auch ein Streik der Post- und Telegrafenbeamten in ernstlichem Ausmaße unmöglich. Aus der gegebenen Sachlage, wie sie sich nach dem Dezember 1905 gestaltet hat, ergibt sich daher mit unerbittlicher Notwendigkeit, dass der Streik gegenüber dem Aufstand untergeordnete Bedeutung hat. Unabhängig von unserm Willen, allen beliebigen „Direktiven" zum Trotz, wird die zugespitzte revolutionäre Lage die Demonstration in einen Streik, den Protest in einen Kampf, den Streik in den Aufstand verwandeln. Selbstverständlich kann der Aufstand, als bewaffneter Massenkampf, nur unter aktiver Beteiligung eines bestimmten Teiles des Heeres zur Entfaltung gelangen. Der Streik des Heeres, die Weigerung, auf das Volk zu schießen, kann daher unzweifelhaft in den einen oder anderen Fällen zum Siege eines nur friedlichen Streiks führen. Aber es bedarf doch wohl kaum eines Beweises, dass solche Fälle in einem außergewöhnlichen erfolgreichen Aufstand nur vereinzelte Episoden sein würden, und dass es nur ein einziges Mittel gibt, solche Fälle so häufig als möglich werden zu lassen, solchen Fällen so nahe als möglich zu kommen: die erfolgreiche Vorbereitung des Aufstandes, die Energie und die Kraft der ersten Aufstandsaktionen, die Demoralisierung des Heeres durch tollkühne Überfälle oder durch den Abfall großer Truppenkörper usw. Mit einem Wort, bei der Lage der Dinge, wie sie jetzt im Augenblick der Auflösung der Duma gegeben ist, kann es nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass der aktive Kampf geradewegs und unmittelbar zum Aufstand führt. Vielleicht ändert sich die Lage, dann muss man diese Schlussfolgerung überprüfen, aber es lässt sich durchaus nicht bestreiten, dass sie für die Gegenwart richtig ist. Es wäre daher geradezu eine Leichtfertigkeit, die an ein Verbrechen grenzt, zum Generalstreik in ganz Russland aufzufordern, ohne zum Aufstand aufzurufen, ohne klarzumachen, dass der Generalstreik unzertrennlich mit dem Aufstand verbunden ist. Deswegen müssen alle Kräfte darauf gerichtet werden, in der Agitation klarzumachen, dass die eine und die andere Form des Kampfes miteinander in Verbindung stehen, die Bedingungen vorzubereiten, die die drei Bäche des Kampfes in einen Strom zusammenfließen lassen würden: das Losschlagen der Arbeiter, den Aufstand der Bauern und die „Militärrevolte". Bereits seit langem, seit dem Sommer des vergangenen Jahres, seit der Zeit des berühmten Aufstandes des „Potemkin" sind diese drei Formen des wirklichen Volksaufstandes, d. h. des Massenaufstandes, der unendlich weit von einer Verschwörung entfernt ist, der aktiven Bewegung, des Aufstandes, der den Absolutismus stürzt, klar und deutlich erkennbar. Vom Zusammenfließen dieser drei Bäche des Aufstandes dürfte mehr als von irgend etwas anderem der Erfolg des Aufstandes in ganz Russland abhängen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein solcher Anlass zum Kampfe, wie die Auflösung der Duma, in starkem Maße zu dieser Vereinigung beiträgt, da selbst der zurückgebliebenste Teil der Bauernschaft (folglich aber auch unseres Heeres, das vorwiegend aus Bauern besteht) große Hoffnungen auf die Duma setzte. Hieraus ergibt sich der Schluss: gerade die Auflösung der Duma im stärksten Maße als Anlass dazu zu benutzen, die Agitation auf die Vorbereitung des allgemeinen Volksaufstandes zu konzentrieren. Den Zusammenhang zwischen dem politischen Streik und dem Aufstand klarzumachen. Alle Anstrengungen darauf zu richten, die Arbeiter, Bauern, Matrosen und Soldaten zu vereinigen und gemeinsam in den aktiven, bewaffneten Kampf treten zu lassen. Schließlich muss man auch, wenn man von der Form der Bewegung spricht, besonders den Kampf der Bauern erwähnen. Hier ist der Zusammenhang zwischen dem Streik und dem Aufstand besonders klar. Klar ist ebenfalls, dass hier das Ziel des Aufstandes nicht allein die völlige Zerstörung oder Beseitigung aller und jeglicher örtlichen Behörden und ihre Ersetzung durch neue, durch Volksbehörden (was das allgemeine Ziel jedes Aufstandes ist, gleichviel ob er in den Städten, in den Dörfern, im Heere oder sonstwo stattfindet) sein muss, – sondern auch die Vertreibung der Grundbesitzer und die Beschlagnahme ihrer Ländereien. Noch vor dem Beschluss der konstituierenden Nationalversammlung müssen die Bauern zweifellos danach streben, den Großgrundbesitz tatsächlich zu vernichten. Darüber braucht man nicht viel Worte zu verlieren, weil sich wohl niemand einen Bauernaufstand ohne Abrechnung mit den Grundbesitzern und ohne Beschlagnahme ihrer Ländereien vorstellen kann. Es versteht sich, dass Fälle der Vernichtung von Baulichkeiten, Inventar, Vieh usw. um so seltener sein werden, je bewusster und je besser organisiert dieser Aufstand ist. Vom militärischen Standpunkt aus sind Zerstörungen, die bestimmten militärischen Zielen dienen – z. B. das Verbrennen von Gebäuden oder manchmal auch von Inventar – Maßregeln, die durchaus rechtmäßig und in bestimmten Fällen geradezu unbedingt unerlässlich sind. Nur Pedanten (oder Volksverräter) können es besonders beklagen, dass die Bauern stets zu solchen Mitteln greifen, aber es hat keinen Zweck, sich zu verheimlichen, dass manchmal die Zerstörung von Inventar nur ein Ergebnis der Unorganisiertheit ist, eine Folge der Unfähigkeit, das Eigentum des Feindes an sich zu nehmen und davon Besitz zu ergreifen, anstatt es zu zerstören, – oder ein Ergebnis der Schwäche, wenn nämlich der Kämpfende sich an dem Feind rächt, weil er nicht die Kraft hat, den Feind zu vernichten, zu zermalmen. Wir müssen natürlich in unserer Agitation den Bauern einerseits die völlige Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit des erbarmungslosen Kampfes gegen den Feind – bis zur Zerstörung seines Eigentums – auf jede Art und Weise klarzumachen suchen, andererseits aber zeigen, dass von dem Grade der Organisiertheit die Möglichkeit eines bedeutend vernünftigeren und vorteilhafteren Ausgangs abhängt: der Ausrottung des Feindes (der Grundbesitzer und der Beamten, insbesondere der Polizei) und der Übergabe alles Eigentums in den Besitz des Volkes oder in den Besitz der Bauern ohne irgendwelche (oder mit möglichst geringer) Zerstörung dieses Eigentums. IV. In engster Verbindung mit der Frage der Kampfform steht die Frage der Organisation für den Kampf. Auch in dieser Hinsicht hat die große geschichtliche Erfahrung der Monate Oktober bis Dezember 1905 unverwischliche Spuren in der gegenwärtigen revolutionären Bewegung hinterlassen. Die Räte der Arbeiterdeputierten und ähnliche Körperschaften (Bauernkomitees, Eisenbahnerkomitees, Räte der Soldatendeputierten usw.) genießen ungeheure und durchaus verdiente Autorität. Gegenwärtig dürfte es nicht leicht sein, einen Sozialdemokraten oder einen Revolutionär einer anderen Partei und Richtung zu finden, der nicht im Allgemeinen für solche Organisationen wäre und der nicht in Sonderheit empfehlen würde, sie im gegenwärtigen Augenblick zu schaffen. Darüber gibt es wohl keine Meinungsverschiedenheiten oder zumindest keine einigermaßen ernsten Meinungsverschiedenheiten. Deshalb brauchen wir bei dieser Frage eigentlich nicht zu verweilen. Es gibt jedoch eine Seite der Sache, die man ganz besonders sorgfältig behandeln muss, weil sie besonders oft unbeachtet bleibt. Es handelt sich darum, dass die Rolle, die die Räte der Arbeiterdeputierten (der Kürze halber werden wir von ihnen sprechen, da sie für alle Organisationen dieser Art typisch sind) in den großen Oktober- und Dezembertagen gespielt haben, diese Körperschaften mit einem solchen Zauber umgeben hat, dass man sich ihnen gegenüber manchmal beinahe verhält, als wären sie ein Fetisch. Man bildet sich ein, dass diese Organe stets und unter allen Umständen für die revolutionäre Massenbewegung „notwendig und ausreichend" seien. Hieraus ergibt sich urteilsloses Verhalten bei der Wahl des Augenblicks zur Schaffung solcher Körperschaften, zu der Frage, welcher Art die Bedingungen für den Erfolg ihrer Tätigkeit sind. Die Erfahrung der Periode vom Oktober bis Dezember hat die lehrreichsten Fingerzeige darüber gegeben. Die Räte der Arbeiterdeputierten sind Organe des unmittelbaren Massenkampfes. Sie entstanden als Organe des Streikkampfes. Sie wurden sehr rasch, unter dem Druck der Notwendigkeit, zu Organen des allgemeinen revolutionären Kampfes gegen die Regierung. Sie verwandelten sich unwiderstehlich, kraft der Entwicklung der Ereignisse und des Überganges vom Streik zum Aufstand, in Organe des Aufstandes. Dass eine Reihe von „Räten" und „Komitees" im Dezember diese und keine andere Rolle gespielt hat, ist eine durchaus unbestreitbare Tatsache. Und die Ereignisse haben aufs Anschaulichste und Überzeugenste gezeigt, dass die Kraft und die Bedeutung solcher Organe in einer Zeit des Kampfes ganz von der Kraft und dem Erfolg des Aufstandes abhängen. Nicht irgendeine Theorie, nicht irgend jemandes Aufrufe, nicht eine von irgend jemand erdachte Taktik, keine Parteidoktrine, sondern die Wucht der Tatsachen hat diese parteilosen Massenorgane von der Notwendigkeit des Aufstandes überzeugt und sie zu Organen des Aufstandes gemacht. Auch in der gegenwärtigen Zeit bedeutet die Schaffung von solchen Organen, die Schaffung von Organen des Aufstandes, bedeutet die Aufforderung zu ihrer Schaffung die Aufforderung zum Aufstand. Das zu vergessen oder vor den breiten Volksmassen zu vertuschen, wäre ganz unverzeihliche Kurzsichtigkeit und allerschlechteste Politik. Wenn dem so ist – und zweifellos ist dem so –, so ergibt sich daraus der Schluss, dass „Räte" und ähnliche Massenkörperschaften für die Organisierung des Aufstandes noch nicht genügen. Sie sind erforderlich, um die Massen zusammenzuschweißen, sie für den Kampf zu vereinigen, ihnen die von der Partei aufgestellten (oder von den Parteien gemeinsam ausgegebenen) Losungen der politischen Führung zu übermitteln, das Interesse der Massen zu wecken und die Massen in den Kampf zu ziehen. Aber sie reichen nicht aus, die Kräfte des unmittelbaren Kampfes zu organisieren, den Aufstand in der eigentlichen Bedeutung des Wortes zu organisieren. Eine kleine Illustration. Man hat die Räte der Arbeiterdeputierten nicht selten als Parlamente der Arbeiterklasse bezeichnet. Aber auch nicht ein Arbeiter wird sich dazu bereit finden, sein Parlament einzuberufen, um es der Polizei auszuliefern. Jeder erkennt die Notwendigkeit einer sofortigen Organisation der Kraft, einer militärischen Organisation zur Verteidigung seines „Parlaments", einer Organisation von Abteilungen bewaffneter Arbeiter. Nachdem jetzt die Tatsachen der Regierung deutlich gezeigt haben, wozu die „Räte" führen und was es für Körperschaften sind, nachdem sie sich vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet hat und nur auf die Schaffung von solchen Körperschaften wartet, um den Feind zu überfallen, ohne ihm die Zeit zu lassen, sich auf sich selbst zu besinnen und seine Tätigkeit zu entfalten, – müssen wir jetzt in unserer Agitation volle Klarheit darüber schaffen, dass es notwendig ist, die Dinge nüchtern zu betrachten, dass es notwendig ist, neben der Organisation der Räte eine militärische Organisation zu ihrer Verteidigung, zur Durchführung jenes Aufstandes zu schaffen, ohne den alle Räte und alle gewählten Vertrauensmänner der Massen ohnmächtig sein werden. Diese – wenn man sich so ausdrücken darf – „militärischen Organisationen", von denen wir sprechen, müssen danach streben, nicht die Masse durch ihre gewählten Vertrauensmänner, sondern die Masse der unmittelbaren Teilnehmer des Straßenkampfes und des Bürgerkrieges selbst zu erfassen. Diese Organisationen müssen als unterste Zelle sehr kleine lose Verbände, Zehnergruppen, Fünfergruppen oder vielleicht sogar Dreiergruppen haben. Man muss dem Gedanken die weiteste Verbreitung geben, dass ein Kampf herannaht, in dem jeder ehrliche Bürger verpflichtet ist, sich zu opfern und gegen die Unterdrücker des Volkes zu kämpfen. Weniger Förmlichkeiten, weniger Umstände, mehr Einfachheit in der Organisation, die über ein Höchstmaß von Beweglichkeit und Spannkraft verfügen muss. Alle diejenigen, die für die Sache der Freiheit eintreten wollen, müssen sich unverzüglich in aktive „Fünfergruppen" zusammenschließen, – in lose Verbände von Leuten eines Berufs, einer Fabrik, oder von Leuten, die durch Kameradschaft, Parteileben oder schließlich einfach durch gemeinsamen Wohnsitz miteinander verbunden sind (ein Dorf, ein Haus in einer Stadt oder eine Wohnung). Diese Verbände müssen sowohl Parteilose als auch Parteimitglieder umfassen und durch eine unmittelbare revolutionäre Aufgabe zusammengehalten werden: den Aufstand gegen die Regierung. Diese Verbände müssen auf breitester Grundlage und unbedingt vor Beschaffung von Waffen, unabhängig von der Frage der Bewaffnung gebildet werden. Keine Parteiorganisation wird die Massen „bewaffnen". Die Organisiertheit der Massen hingegen, ihre Zusammenfassung in leicht bewegliche kleine Kampfverbände wird im Augenblick der Aktion bei der Beschaffung von Waffen ungeheure Dienste leisten. Lose Kampfverbände, „Druschinen"5, um einen Ausdruck zu wählen, den die großen Dezembertage in Moskau so berühmt gemacht haben, werden im Augenblick des Ausbruchs riesigen Nutzen bringen. Eine Druschina, die zu schießen versteht, wird den Schutzmann entwaffnen, wird unversehens eine Streife überfallen, wird sich Waffen verschaffen. Eine Druschina von Leuten, die nicht zu schießen verstehen, oder sich keine Waffen verschafft haben, wird helfen, Barrikaden zu bauen, Kundschafterdienste zu leisten, das Verbindungswesen zu organisieren, den Feind in einen Hinterhalt zu locken, ein Gebäude in Brand zu stecken, das der Feind besetzt hält, Wohnungen zu besetzen, die zu Stützpunkten für die Aufständischen werden können, – mit einem Wort – die losen Verbände von Leuten, die entschlossen sind, auf Leben und Tod zu kämpfen, die die Örtlichkeit genau kennen, die aufs engste mit der Bevölkerung verbunden sind, werden Tausende der allerverschiedensten Aufgaben erfüllen. Möge in jeder Fabrik, in jeder Gewerkschaft, in jedem Dorf der Aufruf zur Organisierung solcher losen Kampfdruschinen ertönen. Leute, die einander gut kennen, werden beizeiten zu ihrer Gründung schreiten. Leute, die einander nicht kennen, werden Fünfergruppen und Zehnergruppen am Kampftag oder am Vorabend des Kampfes, am Kampfort bilden, wenn der Gedanke der Schaffung solcher Verbände weite Verbreitung erlangt und wirklich von der Masse aufgegriffen wird. Jetzt, wo die Auflösung der Duma wieder neue und neue Schichten aufgewühlt hat, kann man häufig die allerrevolutionärsten Äußerungen und Erklärungen zu hören bekommen von ganz einfachen Angehörigen des am wenigsten organisierten und seiner allgemeinen Physiognomie nach den „Schwarzhundertern" am nächsten stehenden gemeinen Stadtvolkes. Tragen wir also dafür Sorge, dass jedermann den Entschluss der Vorhut der Arbeiter und Bauern kennen lernt, in Bälde den Kampf für Land und Freiheit aufzunehmen, dass jedermann die Notwendigkeit erkennt, Druschinen von Kämpfern zu schaffen, dass jedermann von der Überzeugung durchdrungen ist, dass der Aufstand unvermeidlich und dass es ein Volksaufstand ist. Dann werden wir es durchsetzen – das ist durchaus keine Utopie –, dass es in jeder größeren Stadt nicht Hunderte von Druschinen-Mitgliedern, wie im Dezember in Moskau, sondern Tausende und aber Tausende gibt. Und dann werden keine Maschinengewehre standhalten, wie man in Moskau unter Hinweis darauf sagte, dass die dortigen Kampfdruschinen ihrem Wesen und ihrer Zusammensetzung nach die Massen nicht genügend erfasst hatten, dem Volke nicht genügend nahe standen. Also: Organisation von Räten der Arbeiterdeputierten, von Bauernkomitees und ähnlichen Körperschaften, die überall zu schaffen sind, außerdem Propaganda und Agitation für einen gleichzeitigen Aufstand, für eine sofortige Vorbereitung der Kräfte auf den Aufstand und für die Organisation von Massen-Freischaren, von „Druschinen". P. S. Das vorliegende Kapitel war bereits geschrieben, als wir von einer neuen „Wendung" in den Losungen unseres ZK erfuhren: für die Duma als Organ der Einberufung der Konstituante. Die Organisationsfrage wird folglich ergänzt durch die Frage der Organisierung der provisorischen revolutionären Regierung, denn das würde im Wesentlichen eine Körperschaft sein, die wirklich fähig ist, die Konstituante einzuberufen. Man darf nur nicht, wie es unsere Kadettophilen lieben, vergessen, dass die provisorische Regierung vor allem ein Organ des Aufstandes ist. Will die entschlafene Duma ein Organ des Aufstandes sein? Wollen die Kadetten ein Organ des Aufstandes sein? Bitte schön, Herrschaften! Im Kampf freuen wir uns über jeden Bundesgenossen aus der bürgerlichen Demokratie. Wenn das Bündnis mit euch sogar – wir bitten um Verzeihung! – für uns nichts anderes wäre, als es das Bündnis mit Frankreich für Russland ist (d. h. eine Geldquelle), so würde uns das auch in diesem Falle sehr freuen; wir sind Realpolitiker, Herrschaften. Wenn aber eure Beteiligung am Aufstand, ihr Herren Kadetten, ein einfacher und leerer menschewistischer Traum ist, – so werden wir nur sagen: was für kleinen und kleinlichen Träumereien ihr euch hingebt, Genossen Menschewiki. Seht euch nur vor, dass ihr nicht eurer „unglücklichen Liebe" zu den Kadetten zum Opfer fallt, die eure Leidenschaft nicht erwidern können ... Die Frage der provisorischen Regierung ist theoretisch bereits mehrfach klargestellt worden. Die Möglichkeit der Beteiligung der Sozialdemokraten ist bewiesen. Was aber jetzt, nach der Oktober-Dezember-Periode, interessiert, ist eine andere, die praktische Behandlung dieser Frage. Die Räte der Arbeiterdeputierten usw. waren doch in Wirklichkeit Keimzellen der provisorischen Regierung; unvermeidlich wäre ihnen die Macht im Falle des Sieges des Aufstandes zugefallen. Das Schwergewicht muss auf das Studium dieser geschichtlich gegebenen Keime der neuen Macht, auf das Studium der Bedingungen ihrer Arbeit und ihres Erfolges verlegt werden. Das ist im gegebenen Augenblick dringender, interessanter, als Vermutungen über die provisorische revolutionäre Regierung „im allgemeinen" anzustellen. V. Es bleibt uns noch übrig, über den Zeitpunkt der Aktion ins Reine zu kommen. Die zärtliche Liebe zur Kadettenduma hat bei dem rechten Flügel der Sozialdemokraten die Forderung einer sofortigen Aktion hervorgerufen. Dieser Gedanke hat ein glänzendes Fiasko erlitten. Das Verhalten der Massen der Arbeiterklasse und der städtischen Bevölkerung überhaupt hat gezeigt, dass der Ernst der Lage erkannt oder gefühlt wird. In Wirklichkeit erwartet man natürlich durchaus keinen Kampf um die Duma, sondern einen Kampf für den Sturz der alten Macht. Die Verzögerung war eine Folge der allgemeinen Stimmung, des Wunsches, sich zu dem wirklich entscheidenden und verzweifelten Kampf vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass die einzelnen Kampfhandlungen in Einklang miteinander stehen. Es ist möglich und sogar überaus wahrscheinlich, dass der neue Kampf ebenso spontan und unerwartet wie die früheren Kämpfe aus der wachsenden Erbitterung im Anschluss an einen der unvermeidlichen spontanen Ausbrüche entbrennen wird. Wenn die Sache so verlaufen wird, wenn ein solcher Gang der Entwicklung unvermeidlich ist, dann brauchen wir uns nicht mit dem Zeitpunkt der Aktion zu befassen, dann besteht unsere Aufgabe darin, unsere Agitation und unsere organisatorische Arbeit in allen oben aufgezeigten Richtungen zu verzehnfachen. Vielleicht werden indes die Ereignisse von uns Führer und die Bestimmung des Zeitpunktes zum Losschlagen verlangen. Wenn dem so sein sollte, so würden wir dazu raten, das Losschlagen in ganz Russland, den Streik und den Aufstand auf das Ende des Sommers oder den Anfang des Herbstes, auf Mitte oder Ende August anzusetzen. Es würde richtig sein, die Bausaison in den Stadtteilen und die Beendigung der sommerlichen Feldarbeiten auszunützen. Wenn es gelänge, eine Verständigung aller einflussreichen revolutionären Organisationen und Verbände über den Zeitpunkt des Losschlagens zu erzielen, dann wäre die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, zur angesetzten Frist loszuschlagen. Ein gleichzeitiger Kampfbeginn in ganz Russland wäre ein ungeheurer Vorteil. Es wäre sogar wahrscheinlich kein Unglück, dass die Regierung von der Festsetzung des Zeitpunktes unterrichtet wäre; handelt es sich doch nicht um eine Verschwörung, nicht um einen militärischen Überfall, der plötzlich durchgeführt werden muss. Das Heer wäre wahrscheinlich in ganz Russland besonders demoralisiert, wenn es Woche um Woche durch den Gedanken der Unvermeidlichkeit des Kampfes beunruhigt würde, wenn man es wochenlang unter den Waffen hielte, alle möglichen Organisationen aber zusammen mit einer Masse von „parteilosen" Revolutionären ihre Agitation immer geschlossener betrieben. Auch einflussreiche Sozialdemokraten und Trudowiki aus der Duma könnten zum Erfolg des gleichzeitigen Losschlagens beitragen. Vereinzelte und gänzlich nutzlose Ausbrüche, wie „Meutereien" der Soldaten und hoffnungslose Aufstände der Bauern, könnte man vielleicht verhindern, wenn das gesamte revolutionäre Russland an die Unvermeidlichkeit dieses großen allgemeinen Kampfes glaubte. Wir wollen jedoch wiederholen, dass dies nur im Falle einer vollen Verständigung aller einflussreichen Organisationen möglich ist. Andernfalls bleibt der alte Weg des spontanen Anschwellens der Erbitterung. VI. Wir wollen kurz zusammenfassen. Die Auflösung der Duma ist eine völlige Rückkehr zum Absolutismus. Die Möglichkeit eines gleichzeitigen Losschlagens in ganz Russland wächst. Die Wahrscheinlichkeit der Verschmelzung aller Teilaufstände zu einem allgemeinen Aufstand wird größer. Wie nie zuvor fühlen die breiten Schichten der Bevölkerung, dass der politische Streik und der Aufstand als Kampf um die Macht unvermeidlich sind. Unsere Aufgabe ist es, die breiteste Agitation für den Aufstand in ganz Russland zu entfalten, über seine politischen und organisatorischen Aufgaben aufzuklären, alle Kräfte anzuspannen, so dass jedermann seine Unausbleiblichkeit erkennt, jedermann die Möglichkeit des allgemeinen Ansturms sieht und schon nicht mehr zum „Aufruhr", nicht zur „Demonstration", nicht zu einfachen Streiks und Krawallen schreitet, sondern zum Kampf um die Macht, zum Kampf, dessen Ziel der Sturz der Regierung ist. Die ganze Sachlage ist der Erfüllung dieser Aufgabe günstig. Das Proletariat bereitet sich darauf vor, an die Spitze des Kampfes zu treten. Die revolutionäre Sozialdemokratie steht vor der verantwortlichen, schwierigen, aber großen und dankbaren Aufgabe: der Arbeiterklasse als Vorhut des Aufstandes in ganz Russland zu helfen. Dieser Aufstand wird den Absolutismus stürzen und eine wirklich machtvolle Volksvertretung schaffen, d. h. die Konstituante. PS. Der vorliegende Artikel wurde vor Beginn des Sveaborger Aufstandes geschrieben. 1 Lenins Broschüre „Die Auflösung der Duma und die Aufgaben des Proletariats" wurde zwischen dem 25. (12.) und dem 30. (17.) Juli, dem Tage des Beginns des Aufstandes in Sveaborg, verfasst – ist aber erst nach dem Aufstand erschienen. Am 25. (12.) August 1906 wurde die Broschüre in Moskau beschlagnahmt und gegen den Verfasser ein Gerichtsverfahren eingeleitet. Am 19. (6.) September wurde die Beschlagnahme durch das Moskauer Appellationsgericht bestätigt. Die Broschüre fand nichtsdestoweniger nicht nur in Moskau und Petersburg, sondern auch in der Provinz Verbreitung. Das aus Anlass der Broschüre eingeleitete Verfahren wurde am 14. (1.) Februar 1907 eingestellt. Die Auflösung der Duma erfolgte unter folgenden Umständen. Am 3. Juli, (20. Juni), als die Debatten über die Agrarfrage in der Duma in vollem Gange waren, veröffentlichte die Regierung eine Mitteilung, deren zentraler Punkt die Feststellung der Unantastbarkeit der bestehenden Agrarordnung war. Als Antwort darauf trat die Duma in die Besprechung des „Aufrufes an das Volk ein" und gab gleichzeitig ihre Absicht kund, die Ausarbeitung eines neuen Bodengesetzes in Angriff zu nehmen, was den unmittelbaren Anlass zur Auflösung der Duma gab. Am Tage vor der endgültigen Erörterung des „Aufrufes", in der Nacht von 21. (8.) zum 22. (9.) Juli 1906 wurde das Taurische Palais geschlossen, und am nächsten Tage erschien das Manifest über die Auflösung der Duma. Die Regierung, die nicht wusste, wie die Auflösung von den breiten Massen aufgenommen werden würde, betonte in dem Manifest, dass das Gesetz über die Einrichtung der Duma selbst unverändert bestehen bleibe, und dem Senat wurde denn auch am gleichen Tage vorgeschlagen, die neue Duma zum 5. März (20. Februar) 1907 einzuberufen. 2 Die Artikel, von denen Lenin spricht, sind Leitartikel in fast jeder Nummer, angefangen vom 23. (10.) Juli, wo zum ersten Male in der Presse Nachrichten über die Auflösung der Duma auftauchten, so z. B. der Artikel „Zur Lage" in Nr. 125 von 26. (13.) Juli 1906. 3 Lenin hat hier die vom Zentralkomitee der SDAPR nach Auflösung der ersten Reichsduma ausgearbeiteten taktischen Losungen im Auge. Dem auf dem Stockholmer Parteitag gewählten Zentralkomitee gehörten sieben Menschewiki an (W. M. Rosanow, L. I. Goldmann, L. M. Chintschuk, W. N. Krochmal, N. Rachmetjew, L. N. Radtschenko und P. N. Kolokolnikow) und drei Bolschewiki (W. Djesnitzki [Strojew], L. B. Krassin [Simin] und A. Rykow, der später von A. Bogdanow [Maximow, A. Malinowski] abgelöst wurde). Sobald die Nachrichten über die Auflösung der Duma bekannt wurden, schlug der bolschewistische Teil des Zentralkomitees vor, unverzüglich einen Aufruf an die Arbeiter herauszugeben, der die Notwendigkeit eines allgemeinen Volksaufstandes für die konstituierende Versammlung erläutern sollte, worin er den einzigen Weg zur Eroberung des Bodens und der Freiheit erblickte. Da aber eine sofortige Aktion des Proletariats, solange sich die Bauernschaft nicht erhoben hatte, mit einer Niederlage enden konnte, so schlugen die Bolschewiki dem Zentralkomitee vor: „Im Hinblick auf die in allernächster Zukunft vorauszusehende Aktion der Bauernschaft soll man sich vorbereiten und auf die Aufforderung warten." Das Zentralkomitee lehnte den bolschewistischen Vorschlag ab und nahm an den Arbeiten der Wiborger Konferenz teil. Nach Beendigung der Konferenz beschloss das ZK unter dem Einfluss der sich entfaltenden Ereignisse, sich an die Arbeiter zu wenden und sie aufzufordern, sich unter der Losung: „Wiederaufnahme der Tagung der Duma zum Zwecke der Einberufung der Konstituante", zum politischen Generalstreik vorzubereiten. Die bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees traten mit einem scharfen Protest gegen diese Losung auf und reichten dem Zentralkomitee eine entsprechende Erklärung ein. Der Protest wurde von dem in seiner Mehrheit aus Bolschewiki bestehenden Petersburger Komitee unterstützt. Unter dem doppelten Druck der bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees und des Petersburger Komitees beschloss das Zentralkomitee in der nächsten Sitzung, auf den Aufruf zur Vorbereitung des Streiks zu verzichten zugunsten eines Aufrufs zum sofortigen Streik, für den es die Losung ausgab: „Kampf gegen die Regierung zur Verteidigung der Duma zum Zwecke der Einberufung der Konstituante." Bei der Aufforderung, die Auflösung der Duma durch einen sofortigen allgemeinen Volksstreik zu beantworten, ließ sich das Zentralkomitee von folgenden Motiven leiten: 1. Die Auflösung der Duma wird Unzufriedenheit in allen Bevölkerungsschichten auslösen, was den proletarischen Streik vor einer Isolierung bewahrt, 2. die Arbeit der Duma, besonders ihre Auflösung hat das ganze Volk überzeugt, dass die Hauptaufgabe gegenwärtig darin besteht, dem Absolutismus, als dem Haupthindernis der Verwirklichung der Volkswünsche, die Macht zu entreißen, 3. ein Aufschub der Aktion droht mit einer Wiederholung der Ereignisse des Dezemberaufstandes in Moskau. Den Umstand, dass im Lande keine offenen Anzeichen der Streikstimmung vorhanden waren, erklärte das ZK damit, dass die Masse noch nicht Zeit gehabt habe, sich mit den Begleitumständen der Auflösung der Duma, ebensowenig wie mit dem Wiborger Aufruf, bekanntzumachen. Die Konferenz der linken Parteien und Organisationen (Sozialdemokraten, Bund, Trudowiki, Sozialrevolutionäre, Bauernbund usw.), der vorgeschlagen wurde, sich dem Beschluss des sofortigen Streiks anzuschließen, weigerte sich, das ZK zu unterstützen, hielt den Streik für unzeitgemäß und glaubte, dass er, gerade unter der Losung der Verteidigung der Duma, wenig Aussicht auf Erfolg habe. Daraufhin änderte das ZK fast unmittelbar vor dem Kronstädter Aufstand zum dritten Mal seinen Vorschlag und nahm folgende taktische Losung an: „Für die Duma als das Organ der Macht, das die Konstituante einberufen wird". Der neue Protest der bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees vom 2. August (20. Juli) gegen diese im Grunde genommen konstitutionell-demokratische Losung blieb ergebnislos, der am gleichen Tage ausgebrochene Aufstand in Kronstadt aber zwang das ZK abermals, nach neuen Losungen zu suchen. Die Bewertung aller Schwankungen des Zentralkomitees gab Lenin in dem Artikel: „Die politische Krise und das Fiasko der opportunistischen Taktik". 4 Der unglückliche Vorschlag eines Demonstrationsstreiks wurde dem Zentralkomitee von einem seiner menschewistischen Mitglieder in der Sitzung unterbreitet, die einberufen wurde, nachdem die Konferenz der linken Parteien und Organisationen (siehe vorige Anmerkung) es abgelehnt hatte, den Beschluss des Zentralkomitees über den Streik zu unterstützen. Das erwähnte Mitglied des Zentralkomitees schlug vor, einen dreitägigen Demonstrationsstreik unter der Losung: „Für die Duma, gegen die Kamarilla" zu erklären. Diese Losung wurde von einigen Menschewiki unterstützt. Das Zentralkomitee lehnte diesen Vorschlag jedoch ab, fasste aber eine Resolution, in der es „jetzt schon partielle Massenprotestaktionen in allen Schichten der Bevölkerung gegen die Auflösung der Duma" empfahl, wobei gleichzeitig auch die dritte Losung des ZK: „Für die Duma als das Organ der Macht, das die Konstituante einberufen wird" – angenommen wurde. 5 Altes russisches Wort für Militärabteilungen, bes. Landwehr; 1905 nannten sich die bewaffneten Kampfabteilungen der Arbeiter so. Die Red. |