Wladimir I. Lenin: Neue Zeiten, alte Fehler in neuer Gestalt1 20. August 1921 [Ausgewählte Werke, Band 9. Moskau-Leningrad 1936, S. 260-268] Jede eigenartige Wendung der Geschichte ruft gewisse Veränderungen in der Form der kleinbürgerlichen Schwankungen hervor, die stets neben dem Proletariat zu verzeichnen sind, stets in diesem oder jenem Maße in das Proletariat eindringen. Der kleinbürgerliche Reformismus, d. h. das mit gutherzigen demokratischen und „sozialdemokratischen“ Phrasen und ohnmächtigen Wünschen bemäntelte Lakaientum gegenüber der Bourgeoisie, und der kleinbürgerliche Revolutionarismus, drohend, aufgeblasen, großtuerisch in Worten, ein zersplittertes, atomisiertes, kopfloses Nichts in Wirklichkeit – das sind die zwei „Ströme“ dieser Schwankungen. Sie sind unvermeidlich, solange die tiefsten Wurzeln des Kapitalismus nicht beseitigt sind. Ihre Form ändert sich jetzt im Zusammenhang mit der bekannten Wendung der ökonomischen Politik der Sowjetmacht. Das Grundmotiv bei den Menschewistelnden ist: „Die Bolschewiki haben kehrtgemacht zum Kapitalismus, das ist ihr Tod. Die Revolution erweist sich doch als eine bürgerliche, auch die Oktoberrevolution! Es lebe die Demokratie! Es lebe der Reformismus!“ Ob das rein menschewistisch oder in der Art der Sozialrevolutionäre gesagt wird, im Geiste der II. Internationale oder der Internationale Zweieinhalb, der Kern ist derselbe. Das Grundmotiv bei den Halbanarchisten vom Schlage der deutschen „Kommunistischen Arbeiterpartei“ oder jenes Teils unserer ehemaligen Arbeiteropposition, der die Partei verlassen hat oder sich von ihr entfernt, ist: „Die Bolschewiki glauben jetzt nicht an die Arbeiterklasse!“ Die Losungen, die daraus abgeleitet werden, gleichen mehr oder minder denen von Kronstadt im Frühjahr 1921. Möglichst nüchtern und genau die Berechnung der wirklichen Klassenkräfte und die unbestreitbaren Tatsachen dem Gejammer und der Panik der Philister des Reformismus und der Philister des Revolutionarismus entgegenstellen – das ist die Aufgabe der Marxisten. Man erinnere sich der Hauptetappen unserer Revolution. Erste, sozusagen rein politische Etappe, vom 25. Oktober/7. November bis zum 5./18. Januar, bis zum Auseinanderjagen der Konstituante. In etwa zehn Wochen haben wir für die wirkliche und vollständige Vernichtung der Reste des Feudalismus in Russland hundertmal mehr getan, als die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre in den acht Monaten ihrer Macht (März [Februar]-November [Oktober] 1917). Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre und im Auslande alle Helden der Internationale Zweieinhalb waren zu jener Zeit jämmerliche Helfershelfer der Reaktion. Die Anarchisten standen entweder verwirrt abseits, oder sie halfen uns. War damals die Revolution eine bürgerliche? Natürlich ja – insofern unser feststehendes Werk die Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution war, insofern es innerhalb der „Bauernschaft“ noch keinen Klassenkampf gab. Aber gleichzeitig haben wir gigantisch viel über die bürgerliche Revolution hinaus, für die sozialistische, proletarische Revolution geleistet: (1) Wir haben wie nie zuvor die Kräfte der Arbeiterklasse entwickelt, damit sie die Staatsgewalt ausnutze. (2) Wir haben den Fetischen der spießbürgerlichen Demokratie, der Konstituante und den bürgerlichen „Freiheiten“, wie die Pressefreiheit für die Reichen, einen in der ganzen Welt zu spürenden Schlag versetzt. (3) Wir haben den Rätetypus des Staates geschaffen, ein gigantischer Schritt vorwärts seit 1793 und 1871. Zweite Etappe. Der Brester Friede. Orgien der revolutionären Phrase gegen den Frieden – der halbpatriotischen Phrase bei den Sozialrevolutionären und den Menschewiki, der „linken“ Phrase bei einem Teil der Bolschewiki. „Haben sie einmal mit dem Imperialismus ihren Frieden gemacht, so sind sie verloren“ – behauptete in panischem Schrecken oder mit Schadenfreude der Spießer. Aber die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki schlossen als Teilnehmer des bürgerlichen Raubzugs gegen die Arbeiter Frieden mit dem Imperialismus. Wir „schlossen Frieden“, indem wir dem Räuber einen Teil unseres Hab und Guts abtraten, um die Macht der Arbeiter zu retten, um dem Räuber noch stärkere Schläge zu versetzen. Phrasen, dass wir „an die Kräfte der Arbeiterklasse nicht glaubten“, haben wir damals zur Genüge gehört, aber wir haben uns durch die Phrase nicht täuschen lassen. Dritte Etappe. Der Bürgerkrieg von den Tschechoslowaken und den „Konstituanteanhängern“ bis zu Wrangel, 1918 bis 1920. Unsere Rote Armee existierte zu Anfang des Krieges noch gar nicht. Diese Armee ist auch heute noch eine verschwindend geringe Größe gegenüber einer beliebigen Armee der Ententeländer, wenn man die materiellen Kräfte vergleicht. Und trotz alledem trugen wir im Kampf gegen die weltumspannende Macht der Entente den Sieg davon. Das Bündnis der Bauern und Arbeiter unter Führung der proletarischen Staatsmacht – eine weltgeschichtliche Errungenschaft – wurde auf eine nie gesehene Höhe gehoben. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre spielten die Rolle von Helfershelfern der Monarchie, direkten (als Minister, Organisatoren, Propagandisten) und verkappten (die „raffinierteste“ und niederträchtigste Haltung der Tschernow und Martow, die ihre Hände in Unschuld wuschen, in Wirklichkeit aber mit der Feder gegen uns arbeiteten). Die Anarchisten zappelten ebenso hilflos hin und her: ein Teil half uns, ein anderer Teil schädigte die Arbeit durch Geschrei gegen die militärische Disziplin oder durch Skepsis. Vierte Etappe. Die Entente ist gezwungen, Intervention und Blockade einzustellen (für lange?). Das unerhört ruinierte Land beginnt sich kaum erst zu erholen, erst jetzt sieht es die ganze Tiefe des Ruins, es erduldet die qualvollsten Leiden, den Stillstand der Industrie, Missernten, Hungersnot, Seuchen. Wir haben die höchste und zugleich damit die schwierigste Stufe in unserem weltgeschichtlichen Kampf erreicht. Der Feind ist im gegebenen Augenblick und für die gegebene Zeitperiode nicht derselbe, der er gestern war. Der Feind, das sind nicht die Horden der Weißgardisten unter dem Kommando der Gutsherren, die von allen Menschewiki und Sozialrevolutionären, von der ganzen internationalen Bourgeoisie unterstützt werden. Der Feind, das ist der wirtschaftliche Alltag in einem kleinbäuerlichen Lande mit einer ruinierten Großindustrie. Der Feind ist das kleinbürgerliche Element, das uns wie die Luft umgibt und sehr stark in die Reihen des Proletariats eindringt. Das Proletariat aber ist deklassiert, d. h. aus seinem Klassengeleise geworfen. Die Fabriken und Werke stehen still – das Proletariat ist geschwächt, zersplittert, entkräftet. Das kleinbürgerliche Element im Innern des Staates wird aber von der immer noch weltumspannenden Macht der gesamten internationalen Bourgeoisie unterstützt. Nun, wie sollte man da nicht Angst bekommen? Besonders solche Helden wie die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, wie die Ritter der Internationale Zweieinhalb, wie die hilflosen Anarchisten, wie die Liebhaber der „linken“ Phrase. „Die Bolschewiki schwenken zum Kapitalismus ab, mit den Bolschewiki ist es aus, die Revolution ist auch bei ihnen nicht über den Rahmen der bürgerlichen Revolution hinausgekommen.“ Dieses Gejammer hören wir zur Genüge. Aber wir haben uns schon daran gewöhnt. Wir verkleinern die Gefahr nicht. Wir schauen ihr direkt ins Gesicht. Wir sagen den Arbeitern und Bauern: die Gefahr ist groß – mehr Geschlossenheit, Ausdauer, Kaltblütigkeit, werft die Nachbeter der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die Panikmacher und Schreihälse mit Verachtung hinaus! Die Gefahr ist groß. Der Feind ist ökonomisch weit stärker als wir, genau so wie er gestern militärisch weit stärker war als wir. Wir wissen das, und im Wissen liegt unsere Stärke. Wir haben für die Säuberung Russlands vom Feudalismus und für die Entwicklung aller Kräfte der Arbeiter und Bauern, für den Weltkampf gegen den Imperialismus und für die von den Plattheiten und Gemeinheiten der II. Internationale und der Internationale Zweieinhalb befreite internationale proletarische Bewegung bereits so gigantisch viel getan, dass panisches Geschrei auf uns nicht wirkt. Unsere revolutionäre Tätigkeit haben wir bereits vollauf und im Überfluss „gerechtfertigt“, indem wir der ganzen Welt durch Taten bewiesen haben, wozu der proletarische revolutionäre Geist fähig ist im Unterschied zu der menschewistisch-sozialrevolutionären „Demokratie“ und dem feigen, durch Paradephrasen bemäntelten Reformismus. Wer vor Beginn eines großen Kampfes die Niederlage fürchtet, der kann sich nur zur Verhöhnung der Arbeiter Sozialist nennen. Gerade weil wir uns nicht scheuen, der Gefahr ins Auge zu blicken, nützen wir unsere Kräfte besser zum Kampf aus – erwägen wir die Chancen nüchterner, vorsichtiger, berechnender –, machen wir alle Zugeständnisse, die uns stärken und die Kräfte des Feindes zersplittern (wie jetzt sogar der Dümmste einsieht, dass der „Brester Friede“ ein Zugeständnis war, das uns stärkte und die Kräfte des internationalen Imperialismus zersplitterte). Die Menschewiki schreien, die Naturalsteuer, die Freiheit des Handels, die Zulassung der Konzessionen und des Staatskapitalismus bedeute den Zusammenbruch des Kommunismus. Diesen Menschewiki hat sich im Auslande der frühere Kommunist Levi hinzugesellt; diesen Levi musste man verteidigen, solange man versuchen konnte, die von ihm begangenen Fehler als Reaktion auf eine Reihe von Fehlern zu erklären, die von den „linken“ Kommunisten, besonders im März 1921 in Deutschland, gemacht wurden; diesen Levi kann man nicht verteidigen, wenn er, statt sein Unrecht einzugestehen, auf der ganzen Linie zum Menschewismus hinabgleitet. Die zeternden Menschewiki verweisen wir einfach darauf, dass die Kommunisten schon im Frühjahr 1918 die Idee eines Blocks, eines Bündnisses mit dem Staatskapitalismus gegen das kleinbürgerliche Element proklamiert und verteidigt haben. Vor drei Jahren! In den ersten Monaten des bolschewistischen Sieges! Nüchternheit besaßen die Bolschewiki schon damals, und seitdem hat niemand die Richtigkeit unserer nüchternen Einschätzung der wirklich vorhandenen Kräfte widerlegen können. Der bei dem Menschewismus gelandete Levi gibt den Bolschewiki (deren Besiegung durch den Kapitalismus er ebenso „prophezeit“, wie alle Spießbürger, Demokraten, Sozialdemokraten usw. unser Verderben im Falle, dass wir die Konstituante auseinanderjagen, prophezeit haben!) den Rat, sich an die gesamte Arbeiterklasse um Hilfe zu wenden! Denn bisher, seht ihr wohl, hätte ihnen nur ein Teil der Arbeiterklasse geholfen! Hier stimmt Levi bemerkenswerterweise mit jenen Halbanarchisten und Schreihälsen, zum Teil mit manchen von der ehemaligen „Arbeiteropposition“ überein, die so gern tönende Phrasen dreschen über das Thema, dass die Bolschewiki jetzt „an die Kräfte der Arbeiterklasse nicht glauben“. Die Menschewiki sowohl wie die Anarchistelnden verwandeln diesen Begriff „Kräfte der Arbeiterklasse“ in einen Fetisch, ohne fähig zu sein, über seinen tatsächlichen, konkreten Inhalt nachzudenken. An die Stelle der Untersuchung und der Analyse dieses Inhalts wird die Deklamation gesetzt. Die Herrschaften aus der Internationale Zweieinhalb, die sich Revolutionäre nennen möchten, erweisen sich in Wirklichkeit in jeder ernsten Lage als Konterrevolutionäre, denn sie fürchten die gewaltsame Zerstörung des alten Staatsapparates, sie glauben nicht an die Kräfte der Arbeiterklasse. Als wir das von den Sozialrevolutionären und Co. sagten, war das bei uns keine Phrase. Jedermann weiß, dass die Oktoberrevolution in der Tat neue Kräfte, eine neue Klasse emporbrachte – dass die besten Vertreter des Proletariats heute Russland regieren, eine Armee geschaffen, sie geführt haben, eine lokale Verwaltung usw. geschaffen haben, die Industrie leiten usf. Wenn es in dieser Verwaltung bürokratische Auswüchse gibt, so verhehlen wir dieses Übel nicht, sondern decken es auf, bekämpfen es. Wer über den Kampf gegen die Entstellung der neuen Ordnung ihren Inhalt vergisst, wer vergisst, dass die Arbeiterklasse einen Staat vom Rätetypus geschaffen hat und ihn leitet, der ist einfach denkunfähig und redet ins Blaue hinein. Doch die „Kräfte der Arbeiterklasse“ sind nicht grenzenlos. Wenn der Zustrom frischer Kräfte aus der Arbeiterklasse jetzt schwach, manchmal sehr schwach ist, wenn trotz aller Dekrete und Aufrufe, trotz aller Agitation, trotz aller Befehle, „Parteilose heranzuziehen“, der Kräftezustrom dennoch schwach ist, so heißt es zur leeren Phrasendrescherei herabsinken, wenn man mit der Deklamation vom „mangelnden Glauben an die Kräfte der Arbeiterklasse“ sich darüber hinwegsetzen will. Ohne eine gewisse „Atempause“ gibt es diese neuen Kräfte nicht; sie werden nur langsam heranwachsen; sie können nicht anders als auf der Grundlage einer wiederhergestellten Großindustrie (d. h. genauer und konkreter gesprochen, auf der Grundlage der Elektrifizierung) entstehen. Nach den ungeheuer großen, in der Welt noch nie dagewesenen Anstrengungen braucht die Arbeiterklasse in einem kleinbäuerlichen verwüsteten Land, eine Arbeiterklasse, die durch Deklassierung stark mitgenommen worden ist, einen bestimmten Zeitraum, damit neue Kräfte heranwachsen und nachrücken können, damit die alten und abgenutzten „repariert“ werden können. Die Schaffung eines Kriegs- und Staatsapparats, der fähig war, die Prüfungen der Jahre 1917-1921 siegreich zu bestehen, war ein großes Werk, das die realen (nicht die in den Deklamationen der Schreier existierenden) „Kräfte der Arbeiterklasse“ beansprucht, mitgenommen, erschöpft hat. Das muss man begreifen und mit der Notwendigkeit, richtiger: mit der Unvermeidlichkeit eines verlangsamten Zuwachses neuer Kräfte der Arbeiterklasse rechnen. Wenn die Menschewiki über den „Bonapartismus“ der Bolschewiki zetern (die sich angeblich auf das Heer und den Apparat stützen, gegen den Willen der „Demokratie“), so kommt darin die Taktik der Bourgeoisie vortrefflich zum Ausdruck, und Miljukow tut recht daran, sie zu unterstützen, die „Kronstädter“ Losungen (vom Frühjahr 1921) zu unterstützen. Die Bourgeoisie kalkuliert ganz richtig, dass die wirklichen „Kräfte der Arbeiterklasse“ gegenwärtig aus der machtvollen Avantgarde dieser Klasse (der Kommunistischen Partei Russlands, die sich die Rolle, den Namen, die Kraft einer „Avantgarde“ der einzig revolutionären Klasse nicht mit einem Schlag, sondern im Verlauf von 25 Jahren durch Taten errungen hat) bestehen, plus Elemente, die durch Deklassierung am meisten geschwächt sind und den menschewistischen und anarchistischen Schwankungen am stärksten unterliegen. Unter der Losung „Mehr Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse“ wird gegenwärtig in Wirklichkeit eine Stärkung der menschewistischen und anarchistischen Einflüsse betrieben: Kronstadt hat das im Frühjahr 1921 mit aller Anschaulichkeit gezeigt und dargetan. Jeder klassenbewusste Arbeiter muss diejenigen, die über unseren „mangelnden Glauben an die Kräfte der Arbeiterklasse“ schreien, entlarven und zum Teufel jagen, denn diese Schreier sind in Wirklichkeit Helfershelfer der Bourgeoisie und der Gutsherren, zu deren Gunsten sie eine Schwächung des Proletariats durch Erweiterung des Einflusses der Menschewiki und der Anarchisten herbeizuführen suchen. Hier liegt „der Hund begraben“, wenn man nüchtern in den wirklichen Inhalt des Begriffs „Kräfte der Arbeiterklasse“ eindringt! Wo ist eure Arbeit, ihr guten Leute, wo sind eure Leistungen zur realen Heranholung der Parteilosen an die wichtigste „Front“ der Gegenwart, an die Wirtschaftsfront, an das Werk des wirtschaftlichen Aufbaus? Diese Frage müssen die klassenbewussten Arbeiter den Schreiern stellen. So kann und soll man immer die Schreier entlarven, den Beweis erbringen, dass sie in Wirklichkeit den Aufbau der Wirtschaft nicht fördern, sondern hindern, dass sie der proletarischen Revolution nicht helfen, sondern sie hindern, dass sie nicht proletarische, sondern kleinbürgerliche Bestrebungen verfechten, dass sie einer fremden Klasse Dienste leisten. Unsere Losung ist: Nieder mit den Schreiern! Nieder mit den unbewussten Helfershelfern der Weißgardistenbande, die die Fehler der unglückseligen Kronstädter vom Frühjahr 1921 wiederholen! An die sachliche, praktische Arbeit, die die Eigenart der gegenwärtigen Situation und ihre Aufgaben zu begreifen vermag! Was uns Not tut, sind nicht Phrasen, sondern Taten. Die nüchterne Prüfung dieser Eigenart und der wirklichen, nicht der zusammenfantasierten Klassenkräfte sagt uns folgendes : - Nach einer in der Welt noch nie dagewesenen Periode von Erfolgen der proletarischen schöpferischen Kraft auf militärischem, administrativem, allgemeinpolitischem Gebiet trat nicht zufällig, sondern unvermeidlich, nicht durch das Verschulden von Personen oder Parteien, sondern kraft objektiver Ursachen die Periode eines viel langsameren Heranwachsens neuer Kräfte ein. In der wirtschaftlichen Arbeit ist das Aufbauen unvermeidlich schwieriger, langsamer, allmählicher; das ergibt sich aus dem Wesen dieser Arbeit, verglichen mit der militärischen, administrativen, allgemeinpolitischen. Das ergibt sich aus ihrer besonderen Schwierigkeit und aus ihrer tieferen Bodenverwurzelung, wenn man sich so ausdrücken darf. Deshalb werden wir mit größter, mit dreifacher Vorsicht unsere Aufgaben in dieser neuen, höheren Etappe des Kampfes zu bestimmen suchen. Wir werden diese Aufgaben etwas bescheidener bestimmen; wir werden etwas mehr Zugeständnisse machen, .natürlich in den Grenzen dessen, was das Proletariat zugestehen kann, wenn es herrschende Klasse bleiben will; möglichst rasche Aufbringung einer mäßigen Naturalsteuer und möglichst großer Spielraum für die Entwicklung, Festigung und Wiederherstellung der Bauernwirtschaft; wir werden die uns nicht unbedingt notwendigen Betriebe an Pächter abgeben, auch an Privatkapitalisten und an ausländische Konzessionäre. Wir brauchen einen Block oder ein Bündnis des proletarischen Staates mit dem Staatskapitalismus gegen das kleinbürgerliche Element. Dieses Bündnis muss man geschickt verwirklichen, nach der Regel: „Siebenmal messen, einmal abschneiden“. Wir werden unmittelbar für uns ein etwas kleineres Arbeitsgebiet lassen, nur das, was absolut unumgänglich ist. Wir werden die geschwächten Kräfte der Arbeiterklasse auf weniger konzentrieren, dafür aber fester Fuß fassen, wir werden uns nicht einmal und nicht zweimal, sondern vielmals durch die praktische Erfahrung kontrollieren. Schritt für Schritt, Zoll für Zoll – anders kann ein solches „Heer“ wie das unsrige auf einem so schwierigen Weg, in einer so schwierigen Lage, unter solchen Gefahren heute nicht vorrücken. Wem diese Arbeit „langweilig“, „uninteressant“, „unverständlich“ ist, wer die Nase rümpft oder in Panik verfällt oder sich an Deklamationen über das Fehlen des „früheren Elans“, des „früheren Enthusiasmus“ usw. berauscht, den soll man lieber „von der Arbeit befreien“ und kaltstellen, damit er keinen Schaden anrichten kann, denn er ist nicht willens oder nicht fähig, über die Eigenart der gegenwärtigen Stufe, der gegenwärtigen Etappe des Kampfes nachzudenken. Unter Bedingungen, wo das Land ungeheuer verwüstet ist und die Kräfte des Proletariats durch eine Reihe fast übermenschlicher Anstrengungen erschöpft sind, nehmen wir das Schwierigste in Angriff: das Fundament einer wirklich sozialistischen Wirtschaft zu legen, einen richtigen Warenaustausch (besser gesagt: Produktenaustausch) der Industrie mit der Landwirtschaft herbeizuführen. Noch ist der Feind viel stärker als wir; der anarchische, schleichhändlerische, individuelle Warenaustausch untergräbt unsere Arbeit auf Schritt und Tritt. Wir sehen klar die Schwierigkeiten und werden sie systematisch, hartnäckig überwinden. Mehr Initiative und Selbsttätigkeit in der Provinz, mehr Kräfte dorthin, mehr Beachtung ihrer praktischen Erfahrung. Die Arbeiterklasse kann ihre Wunden nicht anders heilen, ihre proletarische „Klassenkraft“ nicht anders wiederherstellen, die Bauernschaft kann in ihrem Vertrauen zu der proletarischen Führung nicht anders bestärkt werden, als nach Maßgabe des tatsächlichen Erfolges bei der Wiederherstellung der Industrie und der Herstellung eines richtigen staatlichen Produktenaustausches, der sowohl für den Bauer als auch für den Arbeiter vorteilhaft ist. Nach Maßgabe dieser Erfolge werden wir auch einen Zustrom .neuer Kräfte bekommen, vielleicht nicht so rasch, wie es jeder von uns haben möchte, aber wir werden ihn bekommen. An die Arbeit, an eine langsamere und vorsichtigere, eine ausdauerndere und zähere Arbeit! 1 Der Artikel „Neue Zeiten, alte Fehler in neuer Gestalt“ ist im August 1921, ein halbes Jahr nach dem Übergang zur neuen ökonomischen Politik, geschrieben und gleich darauf in der „Prawda“ Nr. 190 veröffentlicht worden. Die Revolution machte zu jener Zeit eine außerordentlich schwere Etappe ihrer Entwicklung durch. Missernte und Hungersnot versetzten der Volkswirtschaft einen schweren Schlag. Bis zum Herbst 1921 war in sämtlichen wichtigen Zweigen der Volkswirtschaft ein Rückgang der Produktion zu beobachten. Erst seit dem Herbst 1921 machte sich eine gewisse Besserung bemerkbar. Das lässt sich am besten aus der Kohlenförderung in den einzelnen Quartalen des Jahres 1921 ersehen. So betrug die Kohlenförderung im ersten Vierteljahr 144 Millionen Pud, im zweiten – 117 Millionen Pud, im dritten – 75 Millionen Pud und stieg erst im vierten Quartal auf 210 Millionen Pud. Die Produktion der Textilfabriken war im Jahre 1921 niedriger als im Jahre 1920, wobei eine Besserung der Lage erst gegen Ende des Jahres 1921 eintrat. Im Allgemeinen setzte die Besserung der wirtschaftlichen Lage infolge des Übergangs zur neuen ökonomischen Politik erst im letzten Vierteljahr 1921 ein. Unter den überaus schwierigen Bedingungen der wirtschaftlichen Zerrüttung, des Schwankens der Bauernschaft, einer beträchtlichen Entwicklung des Bandenunwesens im Dorfe, der Zersplitterung der Kräfte der Arbeiterklasse führte die Partei eine grundlegende Umgestaltung ihrer ganzen ökonomischen Politik durch und stellte ihre ganze Arbeit im Einklang mit den neuen Bedingungen des revolutionären Kampfes um. In dieser Situation führte die Partei einen schonungslosen Kampf gegen zwei Strömungen der kleinbürgerlichen Schwankungen in der Arbeiterklasse: gegen den kleinbürgerlichen Reformismus und gegen den kleinbürgerlichen Revolutionarismus. Die kleinbürgerlichen Parteien und Richtungen versuchten die Schwierigkeiten der Revolution zur Stärkung ihres Einflusses auf die Arbeitermassen auszunutzen. Die Menschewiki und ihre Nachbeter versuchten den Arbeitern zu „beweisen“, dass die neue ökonomische Politik die Rückkehr zum Kapitalismus bedeute, und forderten die Übergabe aller Positionen an den Kapitalismus und seine völlige Wiederherstellung. Von „links“ her wandten sich gegen die Partei die aus der Kommunistischen Internationale ausgeschlossenen Halbanarchisten (z. B. die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands und die „Arbeiteropposition“ innerhalb der KPR). Das kleinbürgerliche Element fand bei den rückständigen Schichten der Arbeiterklasse, deren Kräfte damals zersplittert waren, einen gewissen Widerhall. Die kleinbürgerlichen Stimmungen steckten auch einzelne Schichten der Parteimitglieder an. Die einen von ihnen lehnten die neue ökonomische Politik überhaupt ab, die anderen fassten sie im kleinbürgerlichen Sinne auf. Eine gewisse Schicht von Parteimitgliedern, vorwiegend junge Kommunisten aus bäuerlichen Kreisen und aus dem Sowjetapparat, fassten die Einführung der neuen ökonomischen Politik als Beendigung des Kampfes gegen den Kapitalismus, als Rückkehr zur kapitalistischen Entwicklung und zur spießbürgerlichen wirtschaftlichen Wohlfahrt und Gemächlichkeit auf. Eine andere Schicht, die sich aus einzelnen Arbeitern und insbesondere aus Intellektuellen zusammensetzte, erblickte in der neuen ökonomischen Politik ein Verzicht auf die kommunistischen Grundsätze und übte von „links“ an der Parteilinie Kritik. Diese Schicht begriff den Sinn der Wendung nicht, die von der Partei vollzogen wurde. Eben von diesen „linken“ Phrasendreschern sagte Lenin, dass die Arbeit, die die Partei leistet, für sie „langweilig“, „uninteressant“, „unverständlich“ ist. In rücksichtslosem Kampf gegen die rechts- und „links“opportunistischen Stimmungen und Ansichten führte die Partei Ihre Linie durch. Dem „Gejammer und der Panik der Philister des Reformismus und der Philister des Revolutionarismus“ stellte die Partei die nüchterne und genaue Einschätzung der Klassenkräfte und die unbestreitbaren Tatsachen entgegen, indem sie erfolgreich die größten Schwierigkeiten des revolutionären Kampfes und des Aufbaus überwand. |