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Wladimir I. Lenin 19141100 Der Krieg und die russische Sozialdemokratie

Wladimir I. Lenin: Der Krieg und die russische Sozialdemokratie1

[Geschrieben im Oktober 1914. Zum ersten Mal veröffentlicht am 1. November 1914 in der Zeitung „Sozialdemokrat" Nr. 33. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 76-84]

Der europäische Krieg, im Verlauf von Jahrzehnten vorbereitet von den Regierungen und bürgerlichen Parteien aller Länder, ist da. Das Anwachsen der Rüstungen, die äußerste Zuspitzung des Kampfes um die Märkte in der Epoche des jüngsten, des imperialistischen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus in den vorgeschrittenen Ländern, die dynastischen Interessen der rückständigsten osteuropäischen Monarchien mussten mit Unvermeidlichkeit diesen Krieg heraufführen, und sie haben ihn heraufgeführt. Territoriale Annexionen und Unterjochung fremder Nationen, Niederkämpfung der Konkurrenz machenden Nation, Plünderung ihrer Reichtümer, Ablenkung der Aufmerksamkeit der werktätigen Massen von den inneren politischen Krisen in Russland, Deutschland, England und in anderen Ländern, Spaltung und nationalistische Verdummung der Arbeiterschaft und Vernichtung ihrer Avantgarde zum Zwecke der Schwächung der revolutionären Bewegung des Proletariats, – dies ist der einzige wirkliche Inhalt, die Bedeutung und der Sinn des gegenwärtigen Kriegs.

Der Sozialdemokratie obliegt vor allem die Pflicht, diese eigentliche Bedeutung des Kriegs aufzudecken und die von den herrschenden Klassen, den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie zur Verteidigung des Kriegs verbreiteten Lügen, Sophismen und „patriotischen“ Phrasen schonungslos zu entlarven.

Die eine Gruppe der kriegführenden Nationen wird angeführt von der deutschen Bourgeoisie. Sie beschwindelt die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen mit der Behauptung, sie führe den Krieg zur Verteidigung der Heimat, der Freiheit und der Kultur, sie führe ihn um die Befreiung der vom Zarismus unterdrückten Völker und um die Vernichtung des reaktionären Zarismus. In Wirklichkeit war aber gerade diese Bourgeoisie, vor den preußischen Junkern mit Wilhelm II. an der Spitze katzbuckelnd, stets der neueste Bundesgenosse des Zarismus und Feind der revolutionären Arbeiter- und Bauernbewegung in Russland. In der Tat wird diese Bourgeoisie, wie immer der Krieg ausgehen möge, gemeinsam mit den Junkern alle Anstrengungen machen, um die Zarenmonarchie gegen die Revolution in Russland zu unterstützen.

In der Tat unternahm die deutsche Bourgeoisie einen Raubfeldzug gegen Serbien, weil sie dieses Land unterwerfen und die nationale Revolution der Südslawen ersticken wollte, und gleichzeitig warf sie die Hauptmasse ihrer Streitkräfte gegen die freieren Länder, Belgien und Frankreich, um den reicheren Konkurrenten auszurauben. Während sie Legenden von einem Verteidigungskrieg in die Welt setzte, in dem sie sich angeblich befinde, wählte die deutsche Bourgeoisie in Wirklichkeit den von ihrem Standpunkt günstigsten Moment für den Krieg, die letzten Errungenschaften der Kriegstechnik ausnutzend und den von Russland und Frankreich bereits vorgesehenen und beschlossenen neuen Rüstungen zuvorkommend.

Die andere Gruppe der kriegführenden Nationen wird angeführt von der englischen und französischen Bourgeoisie, die die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen mit der Behauptung beschwindelt, sie führe den Krieg zur Verteidigung der Heimat, der Freiheit und der Kultur gegen den deutschen Militarismus und Despotismus. In der Tat aber war diese Bourgeoisie schon längst daran, vermittelst ihrer Milliarden die Truppen des russischen Zarismus, dieser reaktionärsten und barbarischsten Monarchie Europas, zu ihren Soldtruppen zu machen und sie zum Angriff auf Deutschland vorzubereiten.

In der Tat stellt das Kampfziel der englischen und französischen Bourgeoisie nichts anderes dar als die Annexion der deutschen Kolonien und die Niederkämpfung der konkurrierenden Nation, die sich durch rapidere ökonomische Entwicklung auszeichnet. Um solch edler Ziele willen reichen die „fortschrittlichen“ demokratischen Nationen dem barbarischen Zarismus die Hand zu noch schärferer Unterdrückung Polens, der Ukraine usw. und zu noch schärferer Fesselung der Revolution in Russland.

Die beiden kriegführenden Ländergruppen stehen einander durchaus nicht nach in ihren Räubereien, Bestialitäten und endlosen Kriegsgräueln, aber um das Proletariat zum Narren zu halten und seine Aufmerksamkeit abzulenken von dem einzig wirklichen Befreiungskriege, nämlich vom Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie des „eigenen“ wie der „fremden“ Länder, um dieses höheren Zieles willen bemüht sich die Bourgeoisie eines jeden Landes, mit verlogenen patriotischen Phrasen die Bedeutung „ihres“ nationalen Kriegs zu erhöhen und glauben zu machen, dass sie ihren Gegner nicht zum Zwecke der Ausräubung und Annexion von Territorien niederschlagen wolle, sondern zum Zwecke der „Befreiung“ aller anderen Völker, wobei nur das eigene ausgenommen ist.

Je eifriger jedoch in allen Ländern Regierung und Bourgeoisie bestrebt sind, die Einheit der Arbeiter zu zerschlagen und sie gegeneinander zu hetzen, je heftiger um dieses hehren Zieles willen das Regime des Kriegszustands und der Militärzensur wütet (diese richtet sich sogar jetzt, im Kriege, mit viel größerer Schärfe gegen den „inneren“ Feind als gegen den äußeren) – um so dringlicher ist es Pflicht des klassenbewussten Proletariats, seine Klasseneinheit, seinen Internationalismus, seine sozialistischen Überzeugungen zu verteidigen gegen den zügellos wilden Chauvinismus der „patriotischen“ Bourgeoisclique in allen Ländern. Wollten die klassenbewussten Arbeiter auf die Ausführung dieser Aufgabe verzichten, so hieße das Verzicht leisten auf alle ihre Emanzipationsziele und demokratischen Bestrebungen, gar nicht zu reden von den sozialistischen Bestrebungen.

Mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit muss man konstatieren, dass die sozialistischen Parteien der bedeutendsten europäischen Länder diese ihre Aufgabe nicht erfüllt haben und dass die Haltung der Führer dieser Parteien, insbesondere der deutschen Partei, an direkten Verrat an der Sache des Sozialismus grenzt. In einem Moment von höchster weltgeschichtlicher Bedeutung versuchen die Führer der jetzigen, der zweiten sozialistischen Internationale (1889-1914) in ihrer Mehrheit den Sozialismus durch den Nationalismus zu ersetzen. Ihrem Verhalten ist es zu verdanken, dass die Arbeiterparteien dieser Länder sich dem verbrecherischen Auftreten der Regierung nicht in den Weg stellten, sondern die Arbeiterklasse aufforderten, ihren Standpunkt mit dem der imperialistischen Regierungen in Übereinstimmung zu bringen. Mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten, mit dem Aufgreifen der chauvinistischen („patriotischen“) Losungen der Bourgeoisie „ihrer“ Länder, mit der Rechtfertigung und Verteidigung des Kriegs, mit dem Eintritt in die bürgerlichen Ministerien der kriegführenden Länder usw. haben die Führer der Internationale am Sozialismus Verrat geübt. Die einflussreichsten sozialistischen Führer und die einflussreichsten sozialistischen Presseorgane im heutigen Europa stehen auf dem chauvinistisch-bürgerlichen und liberalen, nicht im Mindesten aber auf dem sozialistischen Standpunkt. Die Verantwortung für diese Schändung des Sozialismus liegt in erster Linie auf den deutschen Sozialdemokraten, die die stärkste und einflussreichste Partei der Zweiten Internationale darstellten. Ebenso wenig aber kann auch das Verhalten der französischen Sozialisten gerechtfertigt werden, die Ministerposten annehmen in der Regierung derselben Bourgeoisie, die ihre Heimat verraten und sich mit Bismarck zur Niederwerfung der Kommune vereinigt hatte.

Die deutschen und österreichischen Sozialdemokraten suchen die Unterstützung, die sie dem Krieg angedeihen lassen, mit der Vorspiegelung zu rechtfertigen, dass eben dies ihren Kampf gegen den russischen Zarismus bedeute. Wir russischen Sozialdemokraten erklären, dass wir einen solchen Rechtfertigungsversuch als einen bloßen Sophismus betrachten. Die revolutionäre Bewegung gegen den Zarismus hat in unserem Lande in letzter Zeit erneut gewaltige Dimensionen angenommen. An der Spitze dieser Bewegung schritt während all dieser Zeit die russische Arbeiterklasse. Die Millionen erfassenden politischen Streiks der letzten Jahre wurden unter der Losung: Sturz des Zarismus, und mit der Forderung der demokratischen Republik durchgeführt. Noch gerade am Vorabend des Kriegs hatte Poincaré, der Präsident der französischen Republik, während seines Besuches bei Nikolaus II. selbst Gelegenheit, auf den Straßen von Petersburg die Barrikaden zu sehen, die die russischen Arbeiter mit ihren Händen errichtet hatten. Das russische Proletariat schreckte vor keinem Opfer zurück, um die ganze Menschheit von dem Schandfleck der Zarenmonarchie zu befreien. Wir müssen aber erklären: wenn irgend etwas dazu angetan ist, den Untergang des Zarismus unter bestimmten Bedingungen aufzuhalten, wenn etwas imstande ist, dem Zarismus in seinem Kampf gegen die gesamte russische Demokratie Unterstützung zu bringen, so ist das gerade der heutige Krieg, der dem Zarismus für seine reaktionären Zwecke den Geldsack der englischen, französischen und russischen Bourgeoisie zur Verfügung gestellt hat. Und wenn etwas den revolutionären Kampf der russischen Arbeiterklasse gegen den Zarismus zu erschweren vermag, so ist es gerade das Verhalten der Führer der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, das die chauvinistische Presse in Russland nicht aufhört, uns als Muster vor Augen zu halten.

Selbst wenn angenommen werden könnte, das Kräfteverhältnis habe so sehr zuungunsten der deutschen Sozialdemokratie gestanden, dass es sie in die Zwangslage versetzt habe, auf jede Art von revolutionärer Aktion zu verzichten, so durfte sie sich auch in diesem Falle nicht mit dem chauvinistischen Lager vereinigen, durfte sie nicht Schritte tun, die die italienischen Sozialisten zu der berechtigten Erklärung veranlasst haben: die Führer der deutschen Sozialdemokraten entehren das Banner der proletarischen Internationale.

Unsere Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, hat aus Anlass des Kriegs bereits ungeheure Opfer gebracht und wird sie noch weiter bringen. Unsere gesamte legale Arbeiterpresse ist vernichtet. Die Mehrzahl der Gewerkschaftsverbände ist geschlossen, eine Unmenge von Genossen ist verhaftet und verbannt. Und dennoch hielt es unsere parlamentarische Vertretung – die Russische Sozialdemokratische Arbeiter-Fraktion in der Reichsduma für ihre unbedingte sozialistische Pflicht, nicht für die Kriegskredite zu stimmen und sogar, zu noch energischerer Bekundung ihres Protests, den Sitzungssaal der Duma zu verlassen, – hielt sie es für ihre Pflicht, die Politik der europäischen Regierungen als imperialistische Politik an den Pranger zu stellen. Und trotz verzehnfachter Bedrückung durch die zaristische Regierung geben unsere proletarischen Genossen in Russland bereits die ersten illegalen Aufrufe gegen den Krieg heraus, in Erfüllung der Pflicht, die sie der Demokratie und der Internationale schulden.

Wenn die Vertreter der revolutionären Sozialdemokratie in Gestalt der deutschen Parteiminderheit und der besten Sozialdemokraten in den neutralen Ländern ein brennendes Gefühl der Scham über diesen Bankrott der II. Internationale empfinden; wenn in England wie in Frankreich gegen den Chauvinismus der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien Stimmen von Sozialisten laut werden; wenn der Opportunismus z. B. in Gestalt der längst auf national-liberalem Boden stehenden „Sozialistischen Monatshefte in Deutschland ganz zu Recht seinen Sieg über den europäischen Sozialismus feiert, – so erfährt das Proletariat den allerübelsten Dienst, den man ihm antun kann, von Seiten der zwischen Opportunismus und revolutionärer Sozialdemokratie hin und her schwankenden Elemente (wie das „Zentrum“ in der deutschen Sozialdemokratie), die mit diplomatischen Phrasen den Zusammenbruch der II. Internationale zu verschweigen oder zu verdecken bestrebt sind.

Man muss diesen Zusammenbruch, im Gegenteil, offen zugeben und seine Ursachen begreifen, um die Möglichkeit zur Errichtung einer neuen, festeren, sozialistischen Vereinigung der Arbeiter aller Länder zu gewinnen.

Die Opportunisten haben sich hinweggesetzt über die Beschlüsse des Stuttgarter, des Kopenhagener und des Baseler Kongresses, die die Sozialisten aller Länder verpflichtet hatten, den Chauvinismus unter allen und jeden Umständen zu bekämpfen und jeden von der Bourgeoisie und den Regierungen begonnenen Krieg mit verstärkter Propagierung des Bürgerkriegs und der sozialen Revolution zu beantworten. Der Bankrott der II. Internationale ist der Bankrott des Opportunismus, für den die besonderen Verhältnisse der abgelaufenen (der sogenannten „friedlichen“) Geschichtsepoche die Basis gegeben hatten und der in den letzten Jahren zur faktischen Herrschaft in der Internationale gelangt war. Die Opportunisten haben diesen Zusammenbruch schon lange vorbereitet, indem sie die sozialistische Revolution preisgaben und durch den bürgerlichen Reformismus ersetzten; – indem sie den Klassenkampf mit seiner zu bestimmten Zeitpunkten notwendig werdenden Verwandlung in den Bürgerkrieg preisgaben und die Arbeitsgemeinschaft der Klassen predigten; – indem sie den bürgerlichen Chauvinismus unter dem Titel des Patriotismus und der Vaterlandsverteidigung predigten und den schon im Kommunistischen Manifest dargelegten Grundsatz ignorierten oder verleugneten: dass die Arbeiter kein Vaterland haben; – indem sie sich bei der Bekämpfung des Militarismus auf einen spießbürgerlich-sentimentalen Standpunkt festrannten, statt den revolutionären Krieg der Proletarier aller Länder gegen die Bourgeoisie aller Länder als Notwendigkeit anzuerkennen; – indem sie die unerlässliche Ausnützung des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Legalität in den Legalitäts-Fetisch verkehrten und die Verpflichtung zur Schaffung von illegalen Organisations- und Agitationsformen in Epochen der Krise der Vergessenheit anheimfallen ließen. Die natürliche „Ergänzung“ des Opportunismus, die – nicht minder bürgerliche und dem proletarischen, d. h. marxistischen Standpunkt nicht minder feindliche – anarchosyndikalistische Richtung, tat sich hervor durch ein nicht minder schmähliches, selbstzufriedenes Nachplappern der Losungen des Chauvinismus während der gegenwärtigen Krise.

Man kann in gegenwärtiger Zeit die Aufgaben des Sozialismus nicht erfüllen, den wirklichen internationalen Zusammenschluss der Arbeiter nicht verwirklichen, ohne den entschiedenen Bruch mit dem Opportunismus zu vollziehen und ohne die Massen über die Unvermeidlichkeit seines Fiaskos aufzuklären.

Die Aufgabe der Sozialdemokratie eines jeden Landes muss in erster Linie der Kampf gegen den Chauvinismus des betreffenden Landes sein. In Russland hat dieser Chauvinismus den bürgerlichen Liberalismus (die „Kadetten) restlos, zum Teil auch die Narodniki samt den Sozialrevolutionären und „rechten“ Sozialdemokraten erfasst. Insbesondere muss das chauvinistische Auftreten von Leuten, wie J. Smirnow, P. Maslow und G. Plechanow, angeprangert werden – ein Auftreten, auf das sich die „patriotische“ Bourgeoispresse alsbald stürzte, um es ausgiebig auszunutzen.

In der vorliegenden Situation kann vom Standpunkte des internationalen Proletariats nicht bestimmt werden, auf welcher Seite bei diesen zwei Gruppen von kriegführenden Nationen eine Niederlage das kleinere Übel für den Sozialismus darstellen würde. Allein es kann für uns russische Sozialdemokraten keinem Zweifel unterliegen, dass die Niederlage der Zarenmonarchie, die von allen Regierungen die reaktionärste und barbarischste ist, die die größte Zahl von Nationen und die größten Bevölkerungsmassen Europas und Asiens unter ihrem Joch hält, vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller in Russland lebenden Völker das geringste Übel wäre.

Die nächste politische Losung der europäischen Sozialdemokratie muss die Gründung der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa sein, wobei die Sozialdemokraten im Unterschied zur Bourgeoisie, die alles Mögliche zu „versprechen“ bereit ist, nur um das Proletariat in den allgemeinen Strom des Chauvinismus hineinzureißen, die Arbeiter darüber aufklären werden, dass diese Losung ganz und gar verlogen und sinnlos ist ohne die revolutionäre Beseitigung der deutschen, österreichischen und russischen Monarchie.

In Russland muss sich die Sozialdemokratie angesichts der größten Rückständigkeit dieses Landes, das seine bürgerliche Revolution noch nicht vollendet hat, nach wie vor die drei Grundbedingungen einer konsequenten demokratischen Umwälzung zur Aufgabe setzen: demokratische Republik (bei voller Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Nationen), Konfiskation des Großgrundbesitzes und Achtstundentag. In allen vorgeschrittenen Ländern aber stellt der Krieg die Losung der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung; diese Losung wird um so dringlicher, je größer die Lasten sind, die der Krieg auf die Schultern des Proletariats wälzt, und je aktiver dessen Rolle werden muss bei der Neuschaffung Europas, nach den Schrecken der modernen „patriotischen“ Barbarei, angesichts der gigantischen technischen Errungenschaften des Großkapitalismus. Die Tatsache, dass die Bourgeoisie die Gesetze der Kriegszeit dazu bestimmt, das Proletariat vollkommen mundtot zu machen, stellt das Proletariat vor die unbedingte Aufgabe, illegale Formen der Agitation und Organisation zu schaffen. Mögen die Opportunisten den „Schutz“ ihrer legalen Organisationen um den Preis des Verrats an ihren Überzeugungen erzielen, die revolutionären Sozialdemokraten werden die organisatorische Schulung und die Verbindungen der Arbeiterklasse dazu benutzen, die der Krisenepoche entsprechenden illegalen Formen des Kampfes für den Sozialismus zu schaffen und die Arbeiterschaft statt mit der chauvinistischen Bourgeoisie ihres Landes mit den Arbeitern aller Länder zu vereinigen. Die proletarische Internationale ist nicht untergegangen und sie wird nicht untergehen. Die Arbeitermassen werden über alle Hindernisse hinweg die neue Internationale schaffen. Der heutige Triumph des Opportunismus wird nicht von langer Dauer sein. Je mehr Opfer der Krieg heischen wird, desto klarer werden die Arbeitermassen den von den Opportunisten an der Arbeitersache geübten Verrat begreifen, desto besser werden sie die Notwendigkeit einsehen, dass man die Waffe gegen die Regierungen und gegen die Bourgeoisie eines jeden Landes kehren muss.

Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Losung, wie sie aus der Erfahrung der Kommune hervorgeht, wie sie in der Resolution des Baseler Kongresses (1912) niedergelegt ist und wie sie sich aus allen Bedingungen des imperialistischen Kriegs zwischen hochentwickelten bürgerlichen Ländern ergeben muss. So groß auch die Schwierigkeiten dieser Umwandlung in dem einen oder dem andern Augenblick erscheinen mögen, – niemals werden die Sozialisten auf die systematische, zähe, unbeirrbare Vorbereitungsarbeit in dieser Richtung verzichten, nachdem der Krieg einmal zur Tatsache geworden ist.

Nur auf diesem Wege wird das Proletariat imstande sein, sich aus seiner Abhängigkeit von der chauvinistischen Bourgeoisie loszureißen und in dieser oder jener Form, mehr oder minder rasch, entschlossene Schritte zu tun auf der Bahn zur wirklichen Freiheit der Völker und auf der Bahn zum Sozialismus.

Es lebe die internationale Verbrüderung der Arbeiter gegen den Chauvinismus und Patriotismus der Bourgeoisie aller Länder!

Es lebe die vom Opportunismus befreite proletarische Internationale!

Das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands


1 Dieses Manifest des ZK der bolschewistischen Partei, das Lenin schrieb, wurde im November 1914 im Zentralorgan „Sozialdemokrat“ abgedruckt. Seiner Veröffentlichung ging in den Tagen des 19. und 20. (6. und 7.) September eine kleine Beratung der in der Schweiz (in Bern) befindlichen Bolschewiki voraus, in welcher Lenin seine ersten Thesen über den Krieg vorlegte. Die Beratung stimmte diesen Thesen zu, und sie wurden dann nach Russland übermittelt, wo sie von dem dort befindlichen Teil des ZK und von der bolschewistischen Dumafraktion beraten wurden, die sich ihnen in der Hauptsache anschlossen. Auf Grund dieser Thesen, die bereits die Hauptgedanken des Manifestes enthielten, wurde auch dieses Manifest ausgearbeitet, das ein Dokument von großer geschichtlicher Bedeutung ist. Dieses Manifest bildete die Fortsetzung des langjährigen Kampfes Lenins und der bolschewistischen Partei gegen den Opportunismus und Sozialchauvinismus innerhalb der internationalen Sozialdemokratie und enthüllte den Verrat, den die II. Internationale und ihre Parteien am Sozialismus verübten, sowie den endgültigen Übergang dieser, nunmehr in überwiegender Mehrheit vom Sozialchauvinismus erfassten, Parteien ins Lager der Bourgeoisie; es war ferner der erste entscheidende Schlag, der während der Kriegsjahre gegen diesen Verrat geführt wurde. Es war gleichzeitig ein Aufruf zur Gründung der neuen, III. Internationale. Dieses Dokument hat der chauvinistischen Losung der Verteidigung des „eigenen“ Vaterlandes die Losung der Niederlage des eigenen Vaterlandes gegenübergestellt, hat als Antwort auf den Weltkrieg den Arbeitern der ganzen Welt die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg verkündet und hat die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung gestellt. Diese Stellung Lenins und des ZK der bolschewistischen Partei ergab sich aus der Leninschen Auffassung des Imperialismus als des „Vorabends des Sozialismus“, als der Epoche der proletarischen Revolutionen. Der Imperialismus mit seiner außerordentlichen Verschärfung aller wirtschaftlichen und Klassengegensätze des Kapitalismus innerhalb jedes kapitalistischen Landes und im internationalen Umfange führt schon an und für sich, unabhängig von seiner unvermeidlichen Begleiterscheinung, den imperialistischen Kriegen, zu einer immer zunehmenden Verschärfung der Klassenkämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zum Heranwachsen der proletarischen Revolution. Außerdem aber lässt er die Imperialisten verschiedener Länder in Konflikte miteinander geraten, dadurch, dass er die kapitalistische Weiterentwicklung dieser Länder ohne Eroberung neuer Märkte für die Waren- und Kapitalausfuhr, ohne Neuaufteilung der längst aufgeteilten Welt unter den imperialistischen Räubern unmöglich macht. Der Krieg um diese Neuaufteilung wird unvermeidlich, und ebenso unvermeidlich werden alle wichtigsten imperialistischen Länder in diesen Krieg hineingezogen. Der erste Krieg um die Neuaufteilung der Welt war der Weltkrieg von 1914-1918. Lenin und das ZK der bolschewistischen Partei zeigten im Gegensatz zu den Sozialchauvinisten der II. Internationale den Arbeitermassen den räuberischen, imperialistischen Charakter des Krieges auf. Dadurch, dass der Krieg mit seiner ganzen Schwere, mit allen seinem unerhörten Elend auf den werktätigen Massen der kriegführenden Länder und vor allem auf dem Proletariat lastete und die Klassengegensätze in diesen Ländern bis zum höchsten Grade verschärfte, musste er die proletarischen Massen revolutionieren, die anfangs ebenfalls in bedeutendem Maße vom Chauvinismus erfasst worden waren, und musste sie schließlich an die einzig mögliche Antwort auf das Elend des Krieges heranführen: an die Aufgabe des Sturzes der Bourgeoisie. Der Krieg musste eine revolutionäre Situation herbeiführen Unter diesen Verhältnissen musste die Aufgabe jeder wirklich proletarischen Partei, die tatsächlich der Vortrupp des Proletariats und nicht eine Magd der Bourgeoisie sein wollte, darin bestehen, alle Möglichkeiten für die Umwandlung der revolutionären Situation in den kriegführenden Ländern des Westens in die proletarische Revolution vorzubereiten. In den westeuropäischen Parteien wurde diese Aufgabe nur von einzelnen, zahlenmäßig schwachen Gruppen von Sozialdemokraten erkannt, die sich ihre revolutionäre Gesinnung bewahrt hatten. Um so größer war die Verpflichtung für die bolschewistische Partei, für die Verwirklichung dieser Aufgabe zu kämpfen. Das Manifest des ZK stellte denn auch diese Aufgabe vor dem internationalen Proletariat auf die Tagesordnung.

Für die fortgeschrittenen Länder Westeuropas gab das Manifest die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg als Losung der sozialistischen Revolution aus, für Russland, wo noch der Sturz des Zarismus und die Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft bevorstanden, stellte es als Aufgabe die bürgerlich-demokratische Revolution. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Losung der sozialistischen Revolution für Russland keine Geltung hatte. Es bedeutete nur, wie auch in der Periode der Revolution 1905-1907, dass Russland auf dem Wege zur proletarischen Revolution die bürgerlich-demokratische Revolution durchmachen muss, ohne bei dieser stehen zu bleiben. In seinen folgenden Artikeln „Die Niederlage Russlands und die revolutionäre Krise“, „Einige Thesen“, „Über zwei Linien der Revolution“, die im vorliegenden Band abgedruckt sind, spricht Lenin, wie auch in den Jahren 1905-1907, in höchst klarer Weise von diesem Übergang von der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen Revolution, von dem Hinüberwachsen der einen in die andere. Als ersten Schritt der proletarischen Revolution in Europa stellte das Manifest unter anderem die Losung der Vereinigten Staaten von Europa auf, die mit der Losung der Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg verbunden wurde. Diese Losung kehrte in den weiteren Dokumenten der bolschewistischen Partei nicht mehr wieder. Sie wurde von Lenin sehr bald zurückgezogen, was von ihm im Artikel „Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa“ begründet wurde. [Aus Anm. 18 der Ausgewählten Werke, Band 5]

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