Wladimir I. Lenin: Die Arbeiterklasse und die Arbeiterpresse [„Trudowaja Prawda", Nr. 14 und 15, 13./26. und 14./27. Juni 1914 Gez.: W. Iljin. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 528-536] Es gibt für die klassenbewussten Arbeiter keine wichtigere Aufgabe als die, die Bedeutung ihrer Bewegung zu begreifen und sie genau zu erkennen. Die einzige – aber dafür auch unbesiegbare – Kraftquelle der Arbeiterbewegung, das ist das Klassenbewusstsein der Arbeiter und die Breite ihres Kampfes, d. h. die Beteiligung der Masse der Lohnarbeiter an ihm. Die marxistische Presse in St. Petersburg, die schon jahrelang besteht, liefert ein einzigartiges, ausgezeichnetes unersetzliches, durch alle und jeden nachprüfbares Material über die Breite der Arbeiterbewegung und über die Herrschaft der verschiedenen Richtungen in ihr. Dieses Material umgehen, wie das die Liberalen und die Liquidatoren tun, können nur Leute, die die Wahrheit zu verbergen wünschen. Genosse W. A. T. hat die vollständigen Angaben über die Geldsammlungen für die „prawdistischen" (marxistischen) Zeitungen und die der Liquidatoren in St. Petersburg für die Zeit vom 1. Januar bis zum 13. Mai 1914 zusammengestellt. Wir drucken die von ihm aufgestellte Tabelle vollständig ab, während wir im Text, um den Leser, nicht zu sehr mit Ziffern zu beschweren, hie und da runde Zahlen angeben werden. Hier die Tabelle des Gen. W. A. T.
Verweilen wir vor allem bei den Angaben über die Anzahl der Arbeitergruppen. Diese Angaben gibt es für die ganze Zeit des Bestehens der Zeitungen sowohl der „Prawda"-Richtung als auch jener der „Liquidatoren". Die Anzahl der Arbeitergruppen betrug:
Die Gesamtzahl der Gruppen ist 7095. Es gibt natürlich auch Gruppen, die wiederholt Beiträge gesammelt haben, doch fehlen Angaben über die Zahl dieser Gruppen. Wir sehen, dass alles in allem ein Fünftel der Gesamtzahl der Arbeitergruppen mit den Liquidatoren sympathisiert. Die „Prawda"-Richtung, ihre Beschlüsse, ihre Taktik haben in zweieinhalb Jahren vier Fünftel der klassenbewussten Arbeiter Russlands vereinigt. Es ist nützlich, diese Tatsache der Einheit der Arbeiter den Phrasen über die „Einheit" gegenüberzustellen, die von verschiedenen Intellektuellengrüppchen, von den „Wperjod"-Leuten, den „Plechanowianem", den „Trotzkisten" usf. usf. gemacht werden. Vergleichen wir die Angaben für die Jahre 1913 und 1914 (die Angaben für das Jahr 1912 sind unvergleichbar, denn die „Prawda" entstand im April und der „Lutsch" fünf Monate später). Wir sehen, dass die Zahl der Gruppen der „Prawda"-Richtung um 692, d. h. um 31,7 Prozent gestiegen ist, die Zahl der liquidatorischen dagegen um 10, d. h. um 1,5 Prozent Folglich ist die Bereitschaft der Arbeiter zur Unterstützung der Zeitungen der „Prawda"-Richtung zwanzig mal schneller gestiegen als ihre Bereitschaft zur Unterstützung der liquidatorischen Zeitungen Betrachten wir die Verteilung der Arbeiter beider Richtungen in ganz Russland:
Die Schlussfolgerung ist klar: je entwickelter die Arbeitermassen sind, je höher ihr Klassenbewusstsein und ihre politische Aktivität, desto stärker ist das Überwiegen der „Prawda"-Anhänger unter den Arbeitern. In Petersburg wurden die Liquidatoren fast ganz verdrängt (14 von 100); einigermaßen halten sie sich immer noch in der Provinz (32 von 100), wo die Massen sich in der Politik am wenigsten auskennen. Es ist äußerst lehrreich, hervorzuheben, dass die Angaben aus einer ganz anderen Quelle, nämlich über die Zusammensetzung der Bevollmächtigten der Arbeiter zu den Wahlen in die Versicherungsinstitutionen, den Angaben über die Arbeitergruppen bemerkenswert nahekommen. Bei den Wahlen in die Versicherungsbehörde der Hauptstadt gab es 37 Bevollmächtigte von den „Prawda"-Anhängern und 7 Liquidatoren, d. h. 84 Prozent und 16 Prozent. Von der Gesamtzahl der Bevollmächtigten machten die „Prawda"-Anhänger 70 Prozent (37 von 53) und bei den Wahlen in das Reichsversicherungsinstitut 47 von 57, d. h. 80 Prozent aus. Die Liquidatoren, Parteilosen und Narodniki sind eine geringe Minderheit von Arbeitern, die sich noch unter bürgerlichem Einfluss befinden. Weiter. Hier die interessanten Angaben über die durchschnittliche Höhe der Sammlungen der Arbeitergruppen:
Die „Prawda"-Gruppen zeigen uns eine sozusagen natürliche, begreifliche, normale Erscheinung: in dem gleichen Maße wie der Durchschnittslohn der Arbeitermassen steigt der Durchschnittsbeitrag der durchschnittlichen Arbeitergruppe. Bei den Liquidatoren dagegen beobachten wir, abgesehen von dem besonderen Sprung bei den Moskauer Gruppen (es sind ihrer nur 251), einen höheren Beitrag der Gruppen in der Provinz im Vergleich mit den Petersburger Gruppen!!! Wodurch lässt sich diese sonderbare Erscheinung erklären? Eine sichere Antwort auf diese Frage kann nur eine eingehendere Verarbeitung der Daten geben, die viele Mühe erfordert. Unsere hypothetische Antwort ist die: die Liquidatoren vereinigen die aus den am besten bezahlten Arbeitern bestehende Minderheit in einigen Zweigen der Industrie. In der ganzen Welt, wurde die Beobachtung gemacht, dass diese Arbeiter am stärksten an den liberalen und opportunistischen Ideen hängen, Bei uns in Petersburg wurden die Liquidatoren am längsten bei den Buchdruckern gelitten, und erst bei den letzten Wahlen in ihrer Gewerkschaft, am 27. April 19141, errangen die „Prawda"-Anhänger die Hälfte der Plätze auf der Liste der Vorstandmitglieder und die Mehrheit auf der Liste der Ersatzmänner. Die Buchdrucker neigen aber in allen Ländern am meisten zum Opportunismus, und einige ihrer Kategorien sind am besten bezahlt. Wenn unsere Schlussfolgerung über die Sympathie einer aus der Arbeiteraristokratie bestehenden Minderheit für die Liquidatoren nur hypothetisch ist, so unterliegt die Sache bei den Einzelpersonen keinem Zweifel. Von den Beiträgen der Nicht-Arbeiter machen mehr als die Hälfte die Beiträge der Einzelpersonen aus (531 von 713 bei uns, 266 von 453 bei den Liquidatoren). Die durchschnittliche Höhe dieser Beiträge (ist bei uns 1,96 Rubel, bei den Liquidatoren 6,05 Rubel!! Es ist klar, dass es sich im ersten Falle um untere Angestellte, Beamte und ähnliche kleinbürgerliche Elemente von halbproletarischem Charakter handelt. Bei den Liquidatoren dagegen sehen wir reiche Freunde aus der Bourgeoisie. Noch bestimmter kommen diese reichen Freunde aus der Bourgeoisie in der Gestalt der „Gruppen von Anhängern, Freunden usw." zum Vorschein. Uns gaben diese Gruppen 458,82 Rubel, d. h. 2 Prozent der gesamten Summe der Sammlungen, wobei die durchschnittliche Sammlung einer Gruppe 10,92 Rubel betrug, nur anderthalbmal mehr als die durchschnittliche Sammlung einer Arbeitergruppe. Den Liquidatoren dagegen gaben die in Frage stehenden Gruppen 2450,60 Rubel, d. h. mehr als 20 Prozent der gesamten Summe der Sammlungen, während die durchschnittliche Sammlung einer Gruppe 45,39 Rubel beträgt, d. h. sechsmal mehr als die durchschnittliche Sammlung einer Arbeitergruppe!! Fügen wir das Ausland hinzu, wo die Hauptquelle der Geldsammlungen die bürgerliche Studentenschaft ist. Uns gab das Ausland 49,79 Rubel, d. h. weniger als ¼ % Prozent; den Liquidatoren gab es 1709,17, d. h. 14 Prozent. Wenn wir die Einzelpersonen, die „Anhänger, Freunde" und das Ausland zusammen nehmen, erhalten wir als Ergebnis der Sammlungen aus diesen Quellen: Bei den „Prawda"-Anhängern 1555,23 Rubel, d. h. 7 Prozent aller Beiträge. Bei den Liquidatoren 5768,09 Rubel, d. h. 48 Prozent aller Beiträge. Bei uns liefert diese Quelle weniger als ein Zehntel dessen, was die Arbeitergruppen liefern (18.934 Rubel). Bei dem Liquidatoren mehr als die Arbeitergruppen (5296 Rubel)!! Die Schlussfolgerung ist klar: die Zeitung der Liquidatoren ist keine Arbeiterzeitung, sondern eine bürgerliche Zeitung. Sie erhält sich hauptsächlich aus Mitteln reicher Freunde aus der Bourgeoisie. Die tatsächliche Abhängigkeit der Liquidatoren von der Bourgeoisie ist weit größer, als unsere Angaben zeigen. Die Sache ist die, dass die Zeitungen, der „Prawda"-Richtung ihre finanziellen Berichte viele Male zur allgemeinem Kenntnis gebracht haben. Aus ihnen war ersichtlich, dass die Zeitung, unter Hinzufügung der Sammlungen zu den Einnahmen, ihre Kosten deckt. Bei einer Auflage von 40.000 (Durchschnitt für Mai 1914) ist das verständlich, trotz der Konfiskationen, und des Mangels an Inseraten. Die Liquidatoren dagegen haben nur einmal (Nr. 101 des „Lutsch") ihre Abrechnung veröffentlicht, die ein Defizit von 4000 Rubel aufweist, sind aber später zur allgemeinen bürgerlichen Gewohnheit übergegangen, keine Abrechnungen zu veröffentlichen. Bei einer Auflage ihrer Zeitung von 15.000 ist ein Defizit unvermeidlich, und gedeckt wird es offenbar immer wieder von reichen Freunden aus der Bourgeoisie. Die liberalen Arbeiterpolitiker lieben es, auf eine „offene Arbeiterpartei" anzuspielen, aber den wirklichen Arbeitern ihre tatsächliche Abhängigkeit von der Bourgeoisie offen aufzeigen wollen sie nicht! Uns, den Illegalen fällt es zu, die Liquidatoren-Liberalen über den Nutzen offener Abrechnungen zu belehren… Insgesamt ist das Verhältnis der Sammlungen von Arbeitern und Nichtarbeitern das folgende:
Die „Prawda"-Anhänger genießen zu einem Siebentel die Unterstützung von Nichtarbeitern2, und zwar, wie wir gesehen haben, der demokratischsten und am wenigsten bemittelten Schichten. Das Unternehmen der Liquidatoren ist in der Hauptsache ein bürgerliches Unternehmen, dem eine Minderheit der Arbeiter noch folgt. Die Angaben über die Quellen der Sammlungen zeigen uns auch die Klassenlage der Leser und Käufer einer Zeitung. Freiwillige Beiträge laufen nur von ständigen Lesern ein, die mit der Richtung einer Zeitung am bewusstesten sympathisieren. Und die Richtung einer Zeitung „passt sich" ihrerseits wohl oder übel an die am meisten „einflussreiche" Schicht des Leserkreises „an". Die Schlussfolgerungen, die sich aus unseren Angaben ergeben, sind erstens theoretische, d. h. solche, die der Arbeiterklasse zur Erkenntnis der Bedingungen ihrer Bewegung dienen; zweitens praktische, die direkte Fingerzeige für unsere Arbeit geben. Es wird zuweilen gesagt, es gebe in Russland zweierlei Arbeiterpresse. Sogar Plechanow hat dies kürzlich wiederholt. Aber das ist falsch. Wer so spricht, offenbart entweder seine völlige Ignoranz öder den geheimen Wunsch, den Liquidatoren bei der Ausübung des bürgerlichen Einflusses auf die Arbeiter zu helfen. Die Parteibeschlüsse haben längst und wiederholt (z. B. in den Jahren 1908 und 1910) den bürgerlichen Charakter des Liquidatorentums klar, deutlich und offen aufgezeigt. In den Artikeln der marxistischen Presse ist diese Wahrheit Hunderte von Malen klargelegt worden. Die Erfahrung einer Tageszeitung, die sich offen an die Massen wendet, musste unausbleiblich den tatsächlichen Klassencharakter der liquidatorischen Strömung bloßlegen. Die Erfahrung hat ihn bloßgelegt. Die Zeitung der Liquidatoren hat sich in Wirklichkeit als ein bürgerliches Unternehmen erwiesen, das eine Minderheit der Arbeiter hinter sich herführt. Vergessen wir außerdem nicht, dass die Zeitung der Liquidatoren fast bis zum Frühjahr 1914 das Organ des August-Blocks war. Von ihm sind erst jetzt die Letten abgefallen; die Liquidatoren haben verlassen und verlassen noch: Trotzki, Em-El, An, Burjanow, Jegorow; der Zerfall des Blocks dauert an. Die nächste Zukunft wird unvermeidlich sowohl den bürgerlichen Charakter der liquidatorischen Strömung als auch die Lebensunfähigkeit der Intellektuellen-Grüppchen – der „Wperjod"-Leute, der Plechanowianer, der Trotzkisten usf. – mit noch größerer Klarheit aufdecken. Die praktischen Schlussfolgerungen können auf die folgenden Punkte gebracht werden: 1. Die Zahl von 5674 Arbeitergruppen, die von den „Prawda"-Anhängern in weniger als zweieinhalb Jahren vereinigt worden sind, ist angesichts der schwierigen Verhältnisse in Russland ziemlich bedeutend. Aber das ist nur ein Anfang. Wir brauchen nicht Tausende sondern Zehntausende von Arbeitergruppen. Die Arbeit muss verzehnfacht werden. Von Hunderten von Arbeitern kopekenweise gesammelte 10 Rubel sind sowohl ideell als auch organisatorisch wichtiger und wertvoller als 100 Rubel von reichen Freunden aus der Bourgeoisie. Selbst in finanzieller Hinsicht zwingt die Erfahrung zu der Feststellung, dass es mit den Kopeken der Arbeiter möglich ist, eine fest fundierte Arbeiterzeitung zu schaffen, während es mit bürgerlichen Rubeln unmöglich ist. Das Unternehmen der Liquidatoren ist eine Seifenblase, die platzen muss und platzen wird. 2. Besonders zurückgeblieben ist bei uns die Provinz, wo volle 32 Prozent der Arbeitergruppen den Liquidatoren folgen!! Jeder klassenbewusste Arbeiter muss alle Kräfte anstrengen, um diesem traurigen und beschämenden Zustande ein Ende zu machen. Man muss sich aus allen Kräften auf die Provinz werfen. 3. Die Landarbeiter scheinen von der Bewegung fast überhaupt noch nicht berührt zu sein. Wie schwierig auch die Arbeit hier sein mag, sie muss in der hartnäckigsten und energischsten Weise geleistet werden. 4. Wie eine Mutter ihr krankes Kind sorgsam pflegt und es besser nährt, so müssen auch die klassenbewussten Arbeiter jene Bezirke und Fabriken sorgsamer pflegen, wo die Arbeiter am Liquidatorentum kranken. Diese von der Bourgeoisie ausgehende Krankheit ist in einer jungen Arbeiterbewegung unvermeidlich, doch sie geht bei richtiger Pflege und beharrlicher Behandlung vorüber, ohne bei den Arbeitern fürs ganze Leben besonders schädliche Spuren zu hinterlassen. Gesteigerte Nährung der kranken Arbeiter mit marxistischer Literatur, sorgsamere und populärere Erläuterung der Geschichte und der Taktik der Partei, des Sinnes der Beschlüsse der Marxisten über den bürgerlichen Charakter des Liquidatorentums, eingehenderes Verweilen bei der unbedingten Notwendigkeit der proletarischen Einheit, das heißt der Unterordnung der Minderheit der Arbeiter unter die Mehrheit, das heißt der Unterordnung des einen Fünftels unter die vier Fünftel der klassenbewussten Arbeiter Russlands – das ist eine unserer wichtigsten Aufgaben. 1Am 10. Mai (27. April) 1914 fand eine allgemeine Versammlung der Gewerkschaft der Buchdrucker in Petersburg statt. In der Versammlung wurde die Neuwahl des Vorstandes durchgeführt, der sich in den Händen der Menschewiki und parteiloser Elemente befand, die bestrebt waren, die Gewerkschaft von der revolutionären politischen Tätigkeit abzulenken. Eine hervorragende Rolle spielte in dieser Gewerkschaft der bekannte Liquidator A. B. Romanow (Nikitin). Die liquidatorische Haltung des Vorstandes trat kurz vor der Neuwahl im Zusammenhang mit dem Tage der Presse mit aller Klarheit zutage, als das verantwortliche führende Kollektiv der Buchdrucker zur Durchführung eines einheitlichen Tages der Presse aufforderte und in Nr. 11 der Zeitschrift „Nasche Petschatnoje Djelo" („Unsere Pressesache") vom 4. Mai (22. April) 1914 das Auftreten einer Gruppe von Rayonfunktionären der Gewerkschaft verurteilte, die im „Putj Prawdy" vorn 29. (16.) April die Buchdrucker in einem Aufruf aufgefordert hatten, Mittel für den eisernen Fonds des „Putj Prawdy" zu sammeln. Durch die Neuwahl wurde das Kräfteverhältnis im Vorstande geändert und eine beträchtliche Zahl von Plätzen im Vorstande fiel den Bolschewik] („Prawda"-Anhängern) und den mit ihnen Sympathisierenden zu. In den Verbandsvorstand wurden Bolschewiki und Menschewiki gewählt: N. Smirnow, Tkatschow, Gawrilow, Grigorjew, P. Jegorow, J. P. Antonow, D. J, Antipow, W. Iwanow, Bogomasow u. a. 2 Im Sammelband heißt es statt „Nichtarbeiter" „der Bourgeoisie". Die Red. |