Wladimir I. Lenin: Referat über das Thema „Proletariat und Krieg" 1./14. Oktober 19141 Zeitungsbericht [„Golos“ Nr. 37 und 38 25. und 27. Oktober 1914. Nach Sämtliche Werke, Band 18, 1929, S. 65-71] Der Referent teilte seinen Vortrag in zwei Teile: Darlegung des Charakters des gegenwärtigen Kriegs, Stellungnahme der Sozialisten zu diesem Krieg. Klarheit über den Charakter des Kriegs ist für den Marxisten notwendige Voraussetzung für den Entscheid darüber, welche Stellung er zum Krieg einnehmen soll. Zum Zwecke dieser Klarlegung hat man aber vor allem festzustellen, welcher Art die objektiven Bedingungen und die konkrete Situation dieses Kriegs sind. Man muss diesen Krieg in die geschichtliche Situation hineinstellen, in der er vor sich geht, erst dann kann man das eigene Verhältnis zu ihm bestimmen. Es ergibt sich sonst statt einer materialistischen eine eklektische Behandlung der Frage. Je nach der geschichtlichen Situation, je nach den Klassenverhältnissen usw. muss zu verschiedener Zeit auch die Stellung zum Krieg eine verschiedene sein. Es ist sinnlos, ein für allemal, prinzipiell jede Teilnahme am Krieg ablehnen zu wollen. Es ist anderseits ebenso sinnlos, die Kriege in Verteidigungs- und Angriffskriege zu scheiden. Marx im Jahre 1848 hasste Russland, weil damals in Deutschland die Demokratie nicht zu siegen, sich nicht zu entwickeln, das Land nicht zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuschweißen vermochte, solange die reaktionäre Hand des rückständigen Russland auf ihm lastete. Wenn man sich über die eigene Stellung zum gegenwärtigen Kriege klar werden will, muss man begreifen, worin er sich von den früheren Kriegen unterscheidet, worin seine Besonderheiten bestehen. Hat die Bourgeoisie solche Klarheit geschaffen? Nein. Und nicht nur, dass sie sie nicht geschaffen hat – sie wird sie auch in Zukunft in keinem Falle schaffen. Nach dem zu urteilen, was sich im Lager der Sozialisten abspielt, könnte man denken, dass auch sie von dem spezifischen Charakter dieses Kriegs keine Vorstellung haben. Dabei aber haben die Sozialisten ihn, diesen Krieg, vortrefflich dargestellt und vorausgesehen. Mehr noch: es gibt keine einzige Rede eines sozialistischen Abgeordneten, keinen einzigen Artikel eines sozialistischen Publizisten, worin sich nicht Aufklärung darüber fände. Sie, die Klärung der Frage, ist so einfach, dass man darauf ja nicht einmal seine Aufmerksamkeit richtet, und dabei liefert sie gerade den Schlüssel für die richtige Stellungnahme zu diesem Kriege. Der gegenwärtige Krieg ist ein imperialistischer Krieg, und darin besteht sein fundamentaler Charakter. Will man ihn klarmachen, so hat man zu untersuchen: was waren die früheren Kriege und was ist der imperialistische Krieg? Ziemlich ausführlich verweilt Lenin bei der Charakteristik der Kriege vom Ende des 18. und vom ganzen 19. Jahrhundert. Alle waren sie nationale Kriege, die die Schaffung von Nationalstaaten begleiteten und förderten. Diese Kriege bezeichneten den Untergang des Feudalismus und brachten den Kampf der neuen bürgerlichen Gesellschaft gegen die feudale zum Ausdruck. Der nationale Staat war eine notwendige Phase in der Entwicklung des Kapitalismus. Der Kampf für die Selbstbestimmung der Nationen, für ihre Selbständigkeit, für die Freiheit der Sprache, für die Volksvertretung diente diesem Ziele: der Schaffung von Nationalstaaten, – dieser auf einer gewissen Entwicklungsstufe des Kapitalismus notwendigen Basis für die Entwicklung der Produktivkräfte. Solchen Charakter tragen die Kriege von der Zeit der Großen Französischen Revolution bis zu den italienischen und preußischen Kriegen. Diese Aufgabe der nationalen Kriege wurde entweder durch die Demokratie selbst gelöst oder mit Hilfe eines Bismarck – unabhängig vom eigenen Wollen und Wissen der Beteiligten. Der Triumph der modernen Zivilisation, das volle Aufblühen des Kapitalismus, die Einfügung des ganzen Volkes und aller Nationen in das kapitalistische System, – das ist der Zweck, dem die nationalen Kriege, die Kriege vom Beginn des Kapitalismus gedient haben. Etwas anderes ist es mit dem imperialistischen Krieg. Und es gab denn auch darüber unter den Sozialisten aller Länder und aller Richtungen keine Meinungsverschiedenheiten. Auf allen Kongressen war man sich stets bei der Behandlung von Resolutionen über die Stellung zu einem möglichen Kriege ausnahmslos darüber einig, dass dieser Krieg nur ein imperialistischer sein könne. Die europäischen Länder haben alle schon die gleiche Stufe der kapitalistischen Entwicklung erreicht, sie haben allesamt bereits alles geboten, was der Kapitalismus zu bieten vermag. Der Kapitalismus hat seine höchste Form schon erreicht, er exportiert bereits nicht mehr Waren, sondern Kapital. Es wird ihm zu eng in seiner nationalen Hülle, und nunmehr geht der Kampf schon um die letzten freien Reste auf dem Erdball. Wenn die nationalen Kriege des 18. und 19. Jahrhunderts den Beginn des Kapitalismus kennzeichneten, so weisen die imperialistischen Kriege auf sein Ende. Imperialistische Politik füllte das ganze Ende des 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Imperialismus ist das, was dem gegenwärtigen Kriege einen ganz besonderen Stempel aufdrückt, ihn von allen vorhergegangenen unterscheidet. Nur wenn wir diesen Krieg in seinen spezifischen geschichtlichen Gesamtverhältnissen betrachten, wie das für den Marxisten unbedingt erforderlich ist, können wir unsere Stellung zum Kriege klar bestimmen. Andernfalls würden wir mit alten Begriffen und Argumenten operieren, wie sie einer anderen, einer alten Situation entsprachen. Zu solchen veralteten Begriffen gehört auch der des Vaterlands und die erwähnte Einteilung in Angriffs- und Verteidigungskriege. Natürlich gibt es auch jetzt noch im lebendigen Bilde der Wirklichkeit Flecken der alten Farbe. So sind es unter allen kriegführenden Ländern einzig und allein noch die Serben, die um ihre nationale Existenz kämpfen. In Indien und China können die klassenbewussten Proletarier ebenso keinen anderen Weg als den nationalen einschlagen, da sich ihre Länder noch nicht zu nationalen Staaten herausgebildet haben. Wenn China zu diesem Zwecke einen Angriffskrieg zu führen hätte, so könnten wir ihm nur unsere Sympathie zuwenden, weil das objektiv ein fortschrittlicher Krieg wäre. Ganz genau so konnte Marx im Jahre 1848 einen Angriffskrieg gegen Russland propagieren. Das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts sind also durch die imperialistische Politik charakterisiert. Der Imperialismus ist eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus, auf der er alles für ihn Mögliche bereits erfüllt hat und nun seinem Verfall zusteuert. Das ist eine besondere Epoche nicht im bloßen Bewusstsein der Sozialisten, sondern in den faktischen Verhältnissen. Der Kampf geht um die Teilung der übriggebliebenen Stücke. Das ist die letzte geschichtliche Aufgabe des Kapitalismus. Welchen Zeitraum diese Epoche einnehmen wird, – dies können wir nicht sagen. Vielleicht wird es mehrere solcher Kriege geben, aber man muss sich darüber klar sein, dass dies durchaus nicht mehr dieselben Kriege sind, wie sie früher geführt wurden, und dass dementsprechend die den Sozialisten bevorstehenden Aufgaben andere werden. Organisationen von bereits ganz anderem Typus können sich für die proletarische Partei zur Lösung dieser neuen Aufgaben nötig machen. In seiner Broschüre „Der Weg zur Macht“, in der er eingehend und aufmerksam die ökonomischen Erscheinungen untersuchte und aus ihnen mit höchster Vorsicht seine Schlüsse zog, konstatierte Kautsky, dass wir nun in eine Phase eintreten, die der friedlichen, allmählichen Entwicklung von vordem ganz und gar unähnlich ist… Welcher Art diese der neuen Phase entsprechende neue Form der Organisation sein muss, das ist jetzt noch schwer zu sagen. Klar ist jedoch, dass angesichts der neuen Aufgaben das Proletariat neue Organisationen zu schaffen oder die alten zu modifizieren haben wird. Um so unsinniger die Angst vor einer Erschütterung der Organisation, wie sie so krass bei den deutschen Sozialdemokraten in Erscheinung tritt, um so unsinniger die Legalitäts-Anbeterei um jeden Preis. Wir wissen, dass das Petersburger Komitee eine illegale Flugschrift gegen den Krieg herausgegeben hat. Dasselbe machten die kaukasische und einige andere russische Organisationen. Kein Zweifel, dass man auch im Auslande das machen und die Verbindungen aufrechterhalten kann. Die Legalität ist natürlich eine sehr wertvolle Sache, und nicht umsonst hat Engels gesagt: „Ihr Herren Bourgeois, durchbrecht doch Ihr zuerst die Gesetzlichkeit“.1 Der jetzige Verlauf der Dinge wird den deutschen Sozialdemokraten vielleicht eine Lehre sein, da die Regierung, die immer mit ihrer Legalität prahlte, sie jetzt mit der größten Ruhe auf der ganzen Linie durchbrochen hat. In dieser Hinsicht kann der grobe Befehl des Kommandanten von Berlin, der diesen Befehl im „Vorwärts“ auf der ersten Seite abzudrucken zwang, von Nutzen sein. Aber der „Vorwärts“ hat, nachdem er aus Furcht vor dem Verbot auf den Klassenkampf verzichtet und das Versprechen gegeben hatte, bis zum Kriegsende vom Klassenkampf die Finger zu lassen, selber mit sich Schluss gemacht. Er ist tot, wie der Pariser „Golos“, gegenwärtig die beste sozialistische Zeitung in Europa, richtig festgestellt hat. Gerade weil meine Differenzen mit Martow so häufig und so stark waren, muss ich mit um so größerer Bestimmtheit sagen, dass dieser Schriftsteller jetzt gerade das tut, was der Sozialdemokrat zu tun hat. Er kritisiert die eigene Regierung, er demaskiert die eigene Bourgeoisie, er schmäht die eigenen Minister. Sozialisten aber, die vor ihrer eigenen Regierung die Waffen gestreckt haben und sich nun damit befassen, die Minister und die herrschenden Klassen des anderen Landes zu entlarven und zu beschimpfen, erfüllen die Funktion von bürgerlichen Schriftstellern. Und Südekum selbst spielt objektiv eine Agentenrolle für die deutsche Regierung, so wie andere sie für die französisch russischen Alliierten spielen. Sozialisten, die sich keine Rechenschaft darüber gegeben haben, dass der gegenwärtige Krieg ein imperialistischer Krieg ist, und die ihn nicht historisch betrachten, werden von diesem Krieg nichts begreifen, und sind imstande, sich ihn mit kindlicher Naivität vorzustellen, dergestalt etwa, dass einer in der Nacht einem andern an die Gurgel gesprungen ist und die Nachbarn nun entweder dem Opfer des Überfalls Rettung bringen oder feige „hinter Schloss und Riegel“ (wie Plechanows Ausdruck lautet) sich selbst vor der Rauferei einschließen müssen.2 Wir werden es nicht erlauben, dass man sich selbst betrügt und Berater der Bourgeoisie den Krieg nach dem einfachen Schema erklären lässt: man hat so friedlich dahingelebt, einer griff an – der andere muss sich verteidigen. Genosse Lenin verliest ein Zitat aus einem Artikel von Luzzati, der in einer italienischen Zeitung abgedruckt war. Der italienische Politiker äußert in diesem Artikel seine Freude, dass als der großmächtige Sieger in diesem Krieg… das Vaterland, der Begriff des Vaterlands in Erscheinung getreten sei, und er wiederholt, man müsse sich der Worte Ciceros erinnern: „Das größte der Übel ist der Bürgerkrieg“. Das also haben die Bourgeois zu erreichen vermocht, das ist es, was sie am meisten erregt und erfreut, worauf sie eine Unmasse von Mitteln und Anstrengungen verwandt haben. Sie trachten, uns die Überzeugung beizubringen, dass dies nichts als der alte, der gewöhnliche, der nationale Krieg sei. Aber nein. Die Epoche der nationalen Kriege ist vorüber. Es handelt sich hier um einen imperialistischen Krieg, und die Aufgabe der Sozialisten heißt hier: den „nationalen“ Krieg in den Bürgerkrieg zu verwandeln. Diesen imperialistischen Krieg haben wir alle erwartet, auf ihn haben wir uns vorbereitet. Sobald es aber einmal so steht, ist es ganz und gar nicht wichtig, wer der Angreifer ist; zum Krieg hatten alle gerüstet, zum Angriff aber schritt der, dem dies im gegebenen Moment das Nützlichste schien. Genosse Lenin geht des Weiteren an die Bestimmung des Begriffs „Vaterland“ vom sozialistischen Gesichtspunkt. Diesen Begriff bestimmt klar und deutlich das „Kommunistische Manifest“ auf glänzenden Seiten, deren Inhalt die Erfahrung voll und ganz bestätigt und erhärtet hat. Lenin verliest eine Stelle aus dem „Kommunistischen Manifest“, an welcher der Vaterlandsbegriff als historische Kategorie betrachtet wird, die der Entwicklung der Gesellschaft in einem bestimmten Stadium entspricht, danach aber überflüssig wird. Das Proletariat kann nicht lieben, was es nicht hat. Das Proletariat hat kein Vaterland. Welches sind die Aufgaben der Sozialisten im gegenwärtigen Kriege? Genosse Lenin liest die Stuttgarter Resolution vor, die in Kopenhagen und Basel später bestätigt und ergänzt wurde. In dieser Resolution sind die Kampfesarten, die die Sozialisten gegen die zum Krieg drängenden Tendenzen anzuwenden haben, und ihre Pflichten in Bezug auf den Krieg, wenn er bereits ausgebrochen ist, klar angegeben. Diese Pflichten werden durch die Beispiele der russischen Revolution und der Pariser Kommune bestimmt. Die Stuttgarter Resolution war im Hinblick auf alle möglichen Strafgesetze vorsichtig gehalten, aber die Aufgabe ist darin klar gezeichnet. Die Pariser Kommune, das besagt: Bürgerkrieg. In welcher Frage, zu welcher Zeit und an welchem Ort, – das ist eine andere Frage, aber die Richtung unserer Tätigkeit ist klar festgelegt. Unter diesem Aspekt untersucht Genosse Lenin dann die Standpunkte, die die Sozialisten der verschiedenen Länder in Wirklichkeit eingenommen haben. Außer den Serben haben, wie dies der italienische „Avanti!“ vermerkt, die Russen ihre Pflicht erfüllt, und dies tut auch Keir Hardie, der die Politik des Edward Grey entlarvt. Hat der Krieg einmal begonnen, so ist es undenkbar, sich ihm zu entziehen. Man muss marschieren und als Sozialist seine Sache tun. Im Felde denken und überlegen die Menschen, vielleicht noch mehr als „zu Hause“. Dorthin muss man sich begeben und dort muss man das Proletariat für das Endziel organisieren, da es eine Utopie wäre, zu denken, das Proletariat werde auf friedlichem Wege sein Ziel erreichen. Man kann den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht machen, ohne die nationalen Rahmen zu sprengen, so wenig der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus möglich war ohne die nationalen Ideen. 1 Nach dem Ausdruck Engels’ in dem Artikel „Der Sozialismus in Deutschland“; „Neue Zeit“, 10. Jahrgang, 1891/92, Bd. I, Nr. 19. Gemeint ist die Stelle: „Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois!“ 2„Sich hinter Schloss und Riegel einschließen“: Ausdruck Plechanows in seinem Vortrag in Lausanne vom 11. Oktober 1914 über die „Stellungnahme der Sozialisten zum Kriege“. Bericht über das Referat im „Golos“, Nr. 31, 32, 33 vom 18., 20., 21. Oktober 1914. |