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Wladimir I. Lenin 19140417 Von den Formen der Arbeiterbewegung

Wladimir I. Lenin: Von den Formen der Arbeiterbewegung

Aussperrung und marxistische Taktik

[„Putj Prawdy“, Nr. 54, 4./17. April 1914. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 375-378]

Aussperrungen, d. h. Massenentlassungen der Arbeiter auf Grund einer Abmachung der Unternehmer sind eine ebenso notwendige und unvermeidliche Erscheinung in der kapitalistischen Gesellschaft wie die Streiks der Arbeiter. Dadurch, dass sich das Kapital mit seinem ganzen Gewicht auf die ruinierten Kleinproduzenten und auf das Proletariat wirft, droht es ständig, die Lebensbedingungen der Arbeiter bis zum direkten Hunger und Hungertode zu verschlechtern. Und in allen Ländern hat es Beispiele, sogar ganze Perioden im Leben der Völker gegeben, wo das Fehlen eines Widerstandes der Arbeiter diese einem unglaublichen Elend und allen Schrecken des Hungers auslieferte.

Der Widerstand der Arbeiter entspringt ihren Lebensbedingungen selbst: dem Verkauf der Arbeitskraft. Nur dank diesem Widerstand bewahren sich die Arbeiter, trotz der gewaltigen Opfer, die sie im Kampfe bringen, wenigstens ein einigermaßen erträgliches Lebensniveau. Aber das Kapital konzentriert sich immer mehr, die Unternehmerverbände nehmen zu, es erhöht sich die Zahl der Besitzlosen und der Arbeitslosen und gleichzeitig damit die Not des Proletariats, und für ein erträgliches Lebensniveau zu kämpfen wird immer schwieriger. Die Teuerung, die während der letzten Jahre rasch zunimmt, macht oft alle Anstrengungen der Arbeiter illusorisch.

Die Arbeiterorganisationen und in erster Linie die Gewerkschaften der Arbeiter ziehen eine stets größer werdende Masse des Proletariats zur Teilnahme am organisierten Kampf heran und machen damit den Widerstand der Arbeiter zu einem möglichst planmäßigen und systematischen. Der Streikkampf wird beim Bestehen von verschiedenen, die Massen erfassenden Gewerkschaften immer hartnäckiger; es finden seltener Streiks statt, aber jeder Konflikt pflegt größer zu sein.

Die Aussperrungen der Unternehmer werden durch die Verschärfung das Kampfes hervorgerufen und verschärfen ihn ihrerseits. Und das Proletariat, das sich im Kampfe zusammenschließt und im Kampfe sowohl sein Klassenbewusstsein als auch seine Organisation, sowie seine Erfahrung entwickelt, kommt immer mehr und mehr zu der immer festeren Überzeugung, dass eine gänzliche ökonomische Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft notwendig ist.

Die marxistische Taktik besteht in der Verbindung der verschiedenen Kampfmethoden, im geschickten Übergang von der einen zu der anderen, in der beständigen Steigerung des Bewusstseins der Massen und des Umfangs ihrer kollektivem Aktionen, von denen jede im einzelnen genommen bald offensiv, bald defensiv zu sein pflegt, alle zusammen aber zu einem immer tiefer gehenden und entscheidenden Konflikt führen.

In Russland fehlt die Hauptbedingung jener Entwicklung des Kampfes, wie wir sie in den westeuropäischen Ländern sehen: des Kampfes unter Beteiligung von festgefügten und sich systematisch entwickelnden Gewerkschaftsverbänden.

Zum Unterschied von Westeuropa, wo es schon längst politische Freiheit gibt, ist die Streikbewegung bei uns erst in den Jahren 1912-14 über die eng-gewerkschaftlichen Grenzen hinausgegangen. Die Liberalen bestritten dies, die liberalen Arbeiterpolitiker (Liquidatoren) begriffen es nicht oder schlossen die Augen davor. Doch die Tatsache musste anerkannt werden. In der Rede Miljukows in der Reichsduma anlässlich der Anfrage über die Lena-Ereignisse ist diese erzwungene, verspätete, halbe, platonische (d. h. nicht von praktischer Hilfe, sondern nur von Seufzen begleitete) Anerkennung der allgemeinen Bedeutung der Arbeiterbewegung deutlich zum Ausdruck gekommen1, Die Liquidatoren haben mit ihren liberalen Reden, über den „Streikfimmel“ und gegen die Verbindung von ökonomischen und anderen Momenten in der Streikbewegung (wir erinnern. daran, dass diese Reden der Herren Jeschow und Komp, im Jahre 1912 ihren Anfang nahmen!) den gerechtfertigten Widerwillen der Arbeiter hervorgerufen. Deshalb haben die Arbeiter die Herren Liquidatoren bewusst und entschieden in der Arbeiterbewegung „abgesetzt“.

Die Stellung der Marxisten zur Streikbewegung hat unter den Arbeitern keinerlei Schwankung und Unzufriedenheit hervorgerufen. Dabei haben die organisierten Marxisten die Bedeutung der Aussperrungen schon im Februar 1913 formell und offiziell eingeschätzt (allerdings auf einer Arena, die die Sklaven der Liberalen, die Herren Liquidatoren, nicht sehen). Schon im Februar 1913 hat ein formeller Beschluss der Marxisten mit Bestimmtheit und Betonung auf die Aussperrungen sowie auf die Notwendigkeit hingewiesen, sie in der Taktik zu berücksichtigen. Wie kann min sie berücksichtigen? In der Weise, dass man die Zweckmäßigkeit einzelner Aktionen aufmerksamer untersucht, die Formen des Kampfes ändert, die einen Formen durch andere ersetzt (gerade von einer Ersetzung war die Rede!), wobei die Steigerung der Formen die beständige Tendenz bleiben muss. Die klassenbewussten Arbeiter kennen sehr wohl auch einige konkrete Formen der Steigerung, die geschichtlich wiederholt erprobt wurden und die nur für die Liquidatoren „unverständlich“ und „fremd“ sind.

Am 21. März, gleich nach Verkündung der Aussperrung, haben die „Prawda“-Anhänger ihre klare Losung ausgegeben: die Zeit und die Formen der Aktionen nicht nach dem Willen der Fabrikanten zu wählen und nicht sofort in Streik zu treten. Die Arbeiterverbände und die organisierten Marxisten wussten und erkannten, dass diese Losung ihre eigene ist, ausgearbeitet von derselben Mehrheit des vorgeschrittenen Proletariats, die ihre Vertreter in den Versicherungsrat brachte und die die gesamte Tätigkeit der Petersburger Arbeiter leitet, trotz des das organisierenden und liberalen Geschreis der Liquidatoren.

Die Losung vom 21. März, nicht sofort in den Streik zu treten, war die Losung der Arbeiter, die wussten, dass sie imstande sein werden, die eine Form durch die andere zu ersetzen, dass sie — durch alle Änderungen der Formen der Bewegung hindurch — zur allgemeinen Hebung des Niveaus derselben gestrebt haben und streben werden.

Dass die Desorganisatoren der Arbeiterbewegung — die Liquidatoren und die Narodniki — die Sache der Arbeiter auch in diesem Falle zu desorganisieren versuchen werden, das wussten die Arbeiter, und sie rüsteten sich im voraus zur Gegenwehr.

Am 26. März brachten sowohl die liquidatorische als auch die Narodniki-Gruppe der Desorganisatoren, die den Willen der Mehrheit der klassenbewussten. Arbeiter Petersburgs und ganz Russlands durchbrechen, in ihren Zeitungen die in diesen Lagern üblichen bürgerlichen Plattheiten: die Narodniki schwatzten (zum Ergötzen der Liquidatoren) von „Leichtsinn“ (die klassenbewussten Arbeiter wissen längst, dass niemand leichtsinniger ist als die Narodniki), die Liquidatoren hielten liberale Reden (die bereits in Nr. 47 des „Putj Prawdy“ untersucht und gebrandmarkt wurden) und predigten den Ersatz der Streiks … nicht durch entsprechende, nicht durch höhere Formen, sondern … durch Petitionen und „Resolutionen“!!!

Die vorgeschrittenen Arbeiter schoben die schändlich-liberalen Ratschläge der Liquidatoren wie auch das leichtsinnige Geschwätz der Narodniki beiseite und gingen festen Schrittes ihren Weg.

Die Arbeiter haben, den alten Beschluss über den Ersatz der Streiks in gewissen Fällen der Aussperrung durch gewisse, ihnen entsprechende höhere Formen des Kampfes fest im Gedächtnis, und sie haben ihn richtig angewandt.

Die Provokation der aussperrenden Fabrikanten ist nicht gelungen. Die Arbeiter haben nicht den Kampf dort angenommen, wo ihn die Feinde den Arbeitern aufzwingen wollten, die Arbeiter haben rechtzeitig den Beschluss der organisierten Marxisten zur Anwendung gebracht und schreiten mit noch größerer Energie, noch eindeutiger und in Erkenntnis der ganzen Bedeutung ihrer Bewegung auf dem alten Wege vorwärts.

1 Lenin meint hier das Auftreten Miljukows in der Sitzung der IV. Reichsduma vom 8. April (26. März) 1914 bei der Behandlung der Interpellation über die Ereignisse an der Lena. Miljukow schloss sich in seiner Rede der Bekundung des „Dankes" an die Arbeiter an, die der Minister für Handel und Industrie den Arbeitern dafür ausgesprochen hatte, dass sie die „Lena-Gold-Fields-Aktiengesellschaft" „bestraft" hatten, „Den Arbeitern sei gedankt", sagte Miljukow: „dadurch, dass sie sich selbst verteidigten, verteidigten sie auch die Menschlichkeit" … „man muss den Arbeitern auch noch dafür Dank sagen, dass sie … das alte System… mit Füßen treten …"

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