Rosa Luxemburg: Der dritte Akt [Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 14. und 15. April 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 323-330] I. Am 14. Januar 1886 starb in Brüssel der zweiundachtzigjährige Jacob Kats, derselbe brave Kats, den Karl Grün noch in den 40er Jahren auf seinen Studienreisen in Belgien als den ersten Gründer der Arbeiterbewegung in Brüssel kennen lernte und bewunderte. Der originellste vielleicht der internationalen sozialistischen Pioniere, der Schöpfer der ersten Arbeitervereine, der ersten demokratischen Volkslieder, des ersten Volkstheaters in Flandern, starb verlassen und vergessen von der neuen Generation und, wie Cesar de Paepe erzählte, in tiefem Missmut über den Verfall der Arbeiterbewegung in Belgien. In der Arbeiterklasse Belgiens herrschte tatsächlich um die Hälfte der achtziger Jahre eine bleierne Windstille. Verschwunden waren die Früchte der zwanzigjährigen Mühen des alten Kats in den 40er und 50er Jahren, verschwunden gleichfalls die Spuren des erneuten Aufschwungs der Arbeiterbewegung unter dem Einfluss der Internationale in den 60er und Anfang 70er Jahre. Seit die Schöpfung Marxens1 in England und ihre Ableger in Belgien zusammengebrochen waren, wurde Belgien zu jenem berühmten „Paradiese des Kapitalismus", nach dem das Ausbeutertum ganz Europas mit neidischer Sehnsucht hinüberblickte. Das war in der Tat ein goldenes Zeitalter für die berufsmäßigen Verzehrer des Mehrwertes in jeglicher Gestalt, als in Belgien seit 1831 das ganze politische Leben nur durch die süß-einlullende parlamentarische Schaukel der Klerikalen mit den Liberalen geregelt wurde. Belgien kannte damals nichts von dem niedrigen MateriaIismus, der nachmalen in der Öffentlichkeit in so larmoyanter Weise seine Ansprüche geltend machen sollte. Lediglich höhere ideelle Interessen erschütterten die Ruhe des braven Bürgers, wenn er in seiner täglichen Zeitung die Berichte über die parlamentarischen Gefechte seiner Vertreter las. War nämlich die klerikale Partei am Ruder, so hörte man nur das Jammern der Liberalen über die vergewaltigte Gewissensfreiheit in der konfessionellen Schule. Und war den Klerikalen wieder einmal die liberale Partei am Ruder gefolgt, so vernahm man nur im Lande fromme Angstrufe über die bedrohte Religiosität und Moral des Volkes. Im Übrigen, d. h. was das Fleischliche betrifft, führten beide Parteien ein ganz kontinuierliches harmonisches Regime, das Alfred Defuisseaux in seinem berühmten „Catechisme du Peuple" (Volkskatechismus) so charakterisierte: „Welcher ist der erste Schrei eines katholischen Ministers, wenn er ans Ruder gelangt?" „Sein erster Schrei ist: Die Kassen sind leer, die Liberalen haben alles genommen." „Welcher ist der erste Schrei eines liberalen Ministers, wenn er ans Ruder gelangt?" „Sein erster Schrei ist: Die Kassen sind leer, die Klerikalen haben alles genommen." „Genommen" wurde nämlich auf jeden Fall. Das Budget des kleinen, angeblich vom Militarismus freien Staates wuchs von 1850 bis 1870 und weiter bis 1882 in den schönen Sprüngen: 118 Millionen Franken, 216 Millionen und 422 Millionen! Dabei bestand aber das einzige Ergebnis der jährlich wachsenden Opfer des Landes – in der Eroberung und Gründung des Kongostaates und in den steigenden skrupellosen Manipulationen der Nationalbank. Die Misere unter der Arbeiterschaft, namentlich in den Kohlengrubendistrikten, war grauenhaft, 14- und 16-stündige Arbeitszeit war keine Ausnahme. Die Löhne standen auf dem tiefsten Niveau, und meistens in Naturalien ausbezahlt, dienten sie nur zur völligen Versklavung des Arbeiters und namentlich zur kräftigen Kultivierung des – Spiritualismus.2 Schnaps und Gebete! Das waren die einzigen Tröster des belgischen Proletariers in dem „Paradiese" der 70er und 80er Jahre. Unwissenheit, Analphabetentum verrichteten eifrigst Dienste für den Schnaps und das Pfaffentum, denn auch die Liberalen hatten es in ihrer letzten Herrschaftsperiode 1878 bis 1884 nicht einmal bis zum obligatorischen Schulunterricht gebracht. Von so etwas wie Sozialreform, wie Arbeiterschutzgesetz gab es in dem gesegneten Belgien (in der Hauptsache gibt es auch heute noch) keine Spur. Das erste lächerlich kümmerliche Gesetz über die Arbeitszeit der Frauen und Kinder wurde erst 1889 unter grässlichsten Geburtswehen des Parlaments zustande gebracht. Die Parlamentarier des Zensuswahlrechts (42 Franken und 32 Centimes jährliche direkte Steuer, keinen Deut weniger!) dachten selbstverständlich nicht im Traume daran, sich um die proletarische Misere zu kümmern.. Hatten sie doch alle Hände voll zu tun, um sich wegen der Schul- und Kirchenfragen zu prügeln! … Nun riss aber die Saite. Und es war, wie unser Marx es einst für alle Länder voraussah, wieder eine industrielle Krise, die in der dumpfen Atmosphäre die Geister aufrüttelte. Das Jahr 1886 brachte auch nach Belgien eines der schwersten kapitalistischen Gewitter. Die Fabriken wurden eine nach der anderen geschlossen, in den Kohlengruben wurde nur vier Tage in der Woche gearbeitet, die Löhne wurden fast überall gekürzt, die Arbeitslosigkeit nahm verzweifelten Umfang an. „Ein furchtbares Elend", schrieb ein bürgerliches Blatt im Januar, „herrscht im Borinage. Die Kohle wird nur drei oder vier Tage in der Woche gefördert, und in zahlreichen Gruben ist es untersagt, mehr als 2,50 Franken (2,– Mark) pro Tag zu verdienen." Das offizielle „Journal de Bruxelles" berichtete im März über die Lage der Bergarbeiter: „Man kann sich das Elend gar nicht vorstellen, es ist furchtbar. In einer Familie aus acht Personen verdient der Vater, der einzige Ernährer, höchstens 12 bis 13 Franken (etwa 10 Mark pro Woche). Und so sind die Löhne im allgemeinen." Der Versuch der Unternehmer, diese miserablen Löhne noch um 20, um 25 Prozent zu kürzen, trieb die Verzweiflung auf die Spitze und ward die Losung zum plötzlichen Sturme im ganzen Lande. Die Streiks, die nun überall ausbrachen, die Unruhen und Manifestationen trugen einen rein naturgewaltigen chaotischen Charakter. Es war dieses nur die erste elementare Explosion des seit Jahrzehnten aufgespeicherten Grolls einer zum äußersten getriebenen Masse von Lohnsklaven. Maschinen wurden vernichtet, Fabriken zerstört, Paläste der Kapitalmagnaten angezündet; Belgien sah im Frühjahr 1886 aus wie die schlesischen Weberdistrikte im Jahre 1844. Aber in Belgien verpuffte die Explosion nicht erfolglos in der Luft, es war bereits eine Macht im Lande, die dem Orkan des Volkszornes Zügel anlegte und eine Richtung gab. Genau einen Monat nachdem der greise Kats in tiefem Pessimismus seinen wackeren streitbaren Geist aushauchte, am 14. Februar 1886 richteten die Arbeiter der Borinage ein von den Sozialisten Anseele und Defuisseaux verfasstes Manifest an die Arbeiterschaft von Flandern, indem sie ihre Brüder zu einem gemeinsamen Kampfe um das Allgemeine Wahlrecht in mächtigen Worten aufriefen. Es zeugt von einer wunderbaren politischen Reife der kaum wenige Monate vorher (am 5. April 1885) von De Paepe, Volders und Anseele gegründeten Belgischen Arbeiterpartei, dass sie von dem ersten Augenblick an im allgemeinen Wahlrecht ihren Schlachtruf erkannt hatte. Die Klagen waren eine Legion, die das Proletariat gegen die bürgerliche Herrschaft führen konnte. Auf allen Gebieten raste das Kapital in seiner unumschränkten Herrschaft und verwüstete das materielle und geistige Leben der Arbeiterklasse. Allein die Erfahrung der 55 Jahre zeigte, dass, solange das Parlament nur zur Balance zwischen der Kutte und dem Bürgerrock, zwischen der Grundrente und dem Kapitalprofit dienen würde, jede Hoffnung auf eine Änderung des Kurses vergeblich war. Verlorene Mühe wäre es gewesen, an dieses Zensusparlament, an diesen kondensierten politischen Fünftelsaft der Kapitalherrschaft irgendwelche Forderungen des sozialen Fortschritts zu stellen. Die Bude musste einfach von außen in die Luft gesprengt werden. Die Sprengung der politischen Allmacht der Bourgeoisie, die Erringung des allgemeinen Wahlrechts wurde somit wie in keinem anderen konstitutionellen Lande Europas zur Lebensfrage für die Arbeiterpartei, zur Zentralachse des sozialistischen Kampfes, zur Sturmfahne, unter die die Arbeiterpartei seit dem Februar 1886 und bis auf heute alle Regungen der Volksmasse mit kluger Berechnung lenkte und sammelte. Das Jahr 1886 war der erste Akt dieses gewaltigen Kampfes. Freilich suchte die Bourgeoisie den ersten regellosen Ausbruch der Arbeiterbewegung zu fruktifizieren. Eine förmliche Schreckensherrschaft wurde in Belgien von dem traurigen Helden der mexikanischen Expedition, dem General Vandersmissen proklamiert. Die Flinte und der Säbel arbeiteten mit Feuereifer. Die bürgerlichen Gerichte verrichteten die gewohnten Marodeurdienste an den Gefallenen des Schlachtfeldes. Die „Rädelsführer" des Aufruhrs wurden zu lebenslänglicher, zu 20-jähriger, 15-jähriger, 12-jähriger Zwangsarbeit verurteilt… . Aber das Fazit ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen; die belgische Arbeiterbewegung war im Sturme geboren und sie trug nun auf ihrer Fahne die fatalen zwei Buchstaben „S. U." (Suffrage Universel = Allgemeines Wahlrecht), die dem belgischen Geldsackparlament wie das alte Menetekel mit Feuerschein in die Augen leuchteten. II. Seit dem denkwürdigen Frühling des Jahres 1886 ist die Frage des allgemeinen Wahlrechts nicht bloß zum Zentralpunkt der belgischen Arbeiterbewegung geworden, sondern sie beherrscht bis auf heute das gesamte politische Leben Belgiens. Seit sechzehn Jahren ist eine gewaltige Krise, die das Land wie ein schleichendes Fieber schüttelt und sich abwechselnd in heftigen Explosionen oder in Perioden stiller Depression äußert. Auf den ersten Sturm folgte zunächst eine längere Pause. Von der herrschenden klerikalen Partei wurde sie ausgenutzt – zu einigen matten, feigen Versuchen, sich den Schein der Arbeiterfreundlichkeit zu geben. Eine Kommission aus Vertretern aller bürgerlichen Gattungen, aus Gelehrten, wie Laveleye, Molinari, Senatoren, Advokaten, Ingenieuren usw. wird zwecks Studium der sozialen Frage eingesetzt. In Lüttich vereinigen sich zum Kongress katholische Sozialreformer, belgische anderweitige höhere und niedere Pfaffen. Und das Ergebnis all dieser Anläufe ist: ein schwächliches Gesetz zur Sicherstellung der Arbeiterlöhne im Jahre 1887 und das bereits erwähnte Gesetz betreffend die Arbeit der Frauen und Kinder im Jahre 1889. Die Diskussionen in der Kammer aus Anlass dieser Sozialreformen dienten schließlich nur dazu, die Arbeiterschaft in der Überzeugung zu befestigen, dass gegen die vereinigte Bestialität des junkerlichen und kapitalistischen Klassenegoismus einzig und allein die Vernichtung des Zensusparlaments das richtige Mittel ist. Nach fünfjähriger Sammlung erfolgte denn auch der zweite Akt. Diesmal waren es aber nicht mehr unordentliche Haufen Verzweifelter, die planlos und zügellos ihrer Erbitterung in allerlei Exzessen Luft machten. Die Pause seit der ersten Explosion ward von dem Proletariat ganz anders zur politischen Schulung ausgenützt, als von der Bourgeoisie. Die entschlossene Erhebung des allgemeinen Wahlrechts zum Schlachtruf der Arbeiterunruhen im Jahre 1886 führte sehr bald zur Klärung und Konzentrierung der gärenden Unzufriedenheit der Massen. Noch im Jahre 1886 konnten einige Überbleibsel jener anarchistischen Richtung, die auch die Wirkungen der Internationale in Belgien einst nach Kräften paralysiert hatten, die Rutters, Billen, Wagener, in dem allgemeinen Chaos ihre traurige Rolle spielen, indem sie gegen die Losung des allgemeinen Wahlrechts wühlten und ans Dynamit appellierten3. Die erste Feuerprobe des politischen Kampfes im Jahre 1886 genügte aber auch, damit die belgische Arbeiterklasse über die anarchistische Konfusion, die jahrzehntelang aus dem dumpfen Elend und der geistigen Degeneration der Massen ihre Lebenssäfte zog, mit einem Mal und gründlich zur Tagesordnung überging. Im zweiten Hauptstück des Kampfes trat nun die junge Arbeiterpartei von vornherein als Leiterin der Bewegung auf, und diesmal nicht zu ihrer Überraschung, sondern aus ihrer eigenen Initiative erfolgte im Frühjahr 1891 ein erneuter Ansturm auf das Zensusparlament. An Stelle der planlosen Revolte trat der klug vorbereitete und dirigierte Massenstreik. Und wenn zur ersten Demonstration um das allgemeine Wahlrecht auf den Ruf der Arbeiterpartei am 15. August 1886 in Brüssel 30.000 belgische Arbeiter zur Fahne eilten, so erschienen diesmal im Mai 1891 125.000 Arbeiter auf dem Platze. Jetzt waren die Zeiten des rettenden Vandersmissen vorbei. Der ruhige Streik, die friedlichen aber nachdrücklichen Demonstrationen ermöglichten keine Schreckensherrschaft. Den politisch gewachsenen, gereiften, geistig gehobenen Proletariermassen gegenüber waren die Mittel nicht mehr am Platze, die erst vor fünf Jahren gegen die degenerierten, schwankenden, unklaren noch gute Dienste leisteten. Der Klerikalismus musste weichen, die Revision der Verfassung wurde im August angenommen. Das war der erste, schwer errungene Sieg, oder vielmehr der erste Schritt zum Siege. Die Arbeitermassen zogen sich vom Kampfplatz zurück, aber nur, um Gewehr bei Fuß die Mienen des Parlaments scharf im Auge zu behalten und im Notfalle nachzuhelfen. Das erwies sich auch bald als notwendig. Zwei Jahre lang schaute das Proletariat geduldig der Revisionsfarce der klerikal-liberalen Kammer zu. Schließlich aber, als das Spiel kein Ende nehmen wollte, erfolgte im April 1893 ein erneuter Massenstreik, diesmal von 250.000 Arbeitern geführt, und am 18. April wich in Todesschrecken die kapitalistische Repräsentantenkammer, – das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum ward Grundgesetz in Belgien. Der Brüsseler „Peuple" hatte nach jener denkwürdigen Nachtsitzung des Parlaments, in der die erste Reform des Wahlrechts geboren wurde, ein klassisches Pröbchen des überlegenen historischen Siegeshumors gebracht. Es war dies: das Zwiegespräch des Regierungspräsidenten Bernaert mit seiner eigenen Nase, die ihn für die in der epochemachenden parlamentarischen Nachtsitzung ausgestandenen Qualen zur Rede stellte und ihm die beschämendsten Details der erhabenen Szene unbarmherzig in Erinnerung rief. Es gehört in der Tat ein neuer Franz Mals oder van Dyck dazu, um die Nachkommen jener ehrwürdigen flämischen Patrizier- und Bürgermeistergestalten mit den steifen weißen Halskrausen und dem heiter-protzigen Selbstbewusstsein im Gesicht zu schildern, diese Nachkommen, wie sie nun in dem dunsterfüllten, von drohenden, murrenden Massen umzingelten Parlament in Jammergruppen zerstreut, in Schweiß gebadet, mit verzerrten Mienen, unter Stöhnen, Zähneklappern und Leibschmerzen die Absageakte ihrer unumschränkten Klassenherrschaft mit zittrigen Fingern unterschrieben. Im Oktober 1894 erfolgte die erste Probe aufs Exempel: die Sozialdemokraten errangen bei den allgemeinen Wahlen 28 Kammersitze und 334.000 Stimmen; damit schloß vorläufig der zweite Akt des Kampfes. Allein die Losung blieb die alte: das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Die zurückweichende politische Alleinherrschaft der Bourgeoisie hatte sich nämlich bei ihrer Hauptniederlage wenigstens einen Schlupfwinkel noch reserviert: die Pluralwahlen, das doppelte und dreifache Stimmrecht für Familienväter und für akademisch Gebildete. Die Kapitalsmagnaten, welche proletarischen Ernährern von sieben Kindern Wochenlöhne von 10 Mark gewährten, wollten plötzlich den Familienvätern das politische Übergewicht sichern, und die berufsmäßigen Volksverdummer erinnerten sich der geistigen Prärogativen (Vorrechte) der Bildung. Auf diese Weise wurde das neugeborene Recht im Handumdrehen doch noch in ein Vorrecht der Bourgeoisie und eine Entrechtung der Arbeiterklasse verwandelt, die Herrschaft des Klerikalismus wurde noch in letzter Stunde gerettet. Und so musste es mit eiserner Konsequenz zu dem heutigen dritten, zu dem Schlussakt des gewaltigen Kampfes kommen. Mit dem gestrigen Tage begann der Massenstreik, in kurzer Zeit wird der dramatische Höhepunkt erreicht und das Werk sechzehnjähriger Mühen und Opfer durch den unausbleiblichen Sieg gekrönt. Die siebenjährige Zeitspanne seit der letzten Attacke in den 90er Jahren hat mittlerweile in den politischen Zuständen Belgiens noch tiefergreifende Verschiebungen herbeigeführt, als es die Erholungspause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt getan hatte. Die wichtigste dieser Verschiebungen ist: der Zusammenbruch der liberalen Partei. Wie es für die bürgerliche Demokratie überhaupt charakteristisch ist, hatte der Zersetzungsprozess des belgischen Liberalismus bereits in seiner letzten Herrschaftsperiode (1878–1884) begonnen. Damals spaltete er sich in die ausschlaggebende doktrinäre Richtung (etwa unsere Nationalliberalen) und die progressistische oder radikale Minderheit (etwa unser Richter-Freisinn). Sobald die Wahlen des Jahres 1884 den Liberalen eine verdiente Schlappe gebracht hatten, erhoben sie, wenigstens in ihrem radikalen Flügel, die Losung des allgemeinen Wahlrechts. Damit war der Anfang zu der Reihe der Parallelkämpfe und Bündnisse zwischen den Progressisten und der Arbeiterpartei, aber auch zu den systematischen Verrätereien der ersteren an der letzteren gegeben. Bereits bei der ersten Wahlrechts-Manifestation der Arbeiterschaft am 15. August 1886 kniffen ihre wackeren Bundesgenossen im letzten Augenblick aus. Seitdem blieben sie der Taktik treu, die Bewegung so lange zu unterstützen, als sie in Vorpostengefechten gipfelt, und sie freizugeben im Augenblick der entscheidenden Schlacht. Es ist aber auch eine verzweifelte Zwickmühle, in der sich die belgische Bourgeoisie seit dem politischen Erwachen des Proletariats befindet. Um gegen ihre herrschende Nebenbuhlerin, die klerikale Partei, aufzutreten, muss sie sich notgedrungen auf die Arbeiterklasse stützen. Wohin aber ein mit dieser „gemeinsamer Sieg" über die klerikale Mehrheit führt, das beweist der liberalen Partei gleich auf den ersten Schlag die Probe sogar mit dem verunstalteten allgemeinen Wahlrecht. Im Oktober 1894 brachten die Wahlresultate nämlich die für alle Welt verblüffende Tatsache, dass die bis dahin im Parlament mit 59 Sitzen vertretene Partei einfach – verschwunden war! Kein einziger „Doktrinär" kam in die Kammer hinein und kaum 15 Radikale blieben auf dem Posten. Seitdem datiert die immer deutlichere Schwenkung der Liberalen zu den Klerikalen, für die sie notorisch ihre Stimmen abgeben, und die immer heftigeren Schwankungen des progressistischen Häufleins zwischen dem proletarischen und dem heimatlich-bürgerlichen Lager. Andererseits näherten sich die in ihrem politischen Palladium bedrohten Klerikalen desgleichen den Liberalen an. Der achtzigjährige Froschmäusekrieg wurde vergessen, die Zusammenrottung aller bürgerlichen Elemente zu „einer reaktionären Masse" ward Tatsache. Im Jahre 1899 drückte die klerikale Partei zur Rettung der eigenen Mehrheit und der aussterbenden Spezies der Liberalen ein neues Korrektiv zu dem Pluralwahlrecht: das Proportionalwahlsystem, durch. Von nun an gehörten alle Mandate eines Wahlkreises nicht der zahlreichsten Partei, sondern sie wurden proportionell zwischen die Mehrheiten und die Minderheiten verteilt. Die Arbeiterpartei erhielt zwar trotzdem ihre bereits 1896 und 1898 eroberten 33 Sitze aufrecht, und die klerikale Mehrheit sank auf 85, aber nun hatte sie zu ihrer Seite die für die Kammer wiedergeretteten 21 Doktrinär-Liberalen, die mit antiker Treue ihrer ehemaligen Feindin in jeder reaktionären Niedertracht beistehen. So bietet heute Belgien im Ergebnis des großen Wahlrechtskampfes das reinste, klassischste Bild der politischen Klassenscheidung unter allen Ländern Europas. Auch trägt sein augenblicklicher Schlusskampf um das unverfälschte, allgemeine, gleiche Wahlrecht in seinem Schoße wichtigere und folgenschwerere Ereignisse als die analogen Kämpfe in anderen Ländern. Der Sieg kann die sozialistische Partei leicht im Verein mit der linksliberalen Gruppe zur parlamentarisch herrschenden, also formell regierungsfähigen, und zwar nicht von Gnaden eines zufälligen schlauen Ministerpräsidenten, sondern kraft historisch gebildeter politischer Verhältnisse regierungsfähigen Partei machen. Der bevorstehende Moment des Wahlrechtskampfes ist also zugleich ein Entscheidungsmoment für die nächste politische Zukunft der belgischen Arbeiterbewegung. Heute steht sie auf dem Posten als die revolutionärste Macht des morschen kapitalistischen Landes. Was ihr das Morgen bringt, – werden wir sehen nach Philippi. 1 In Originaldruck der „Leipziger Volkszeitung" steht „Mertens" statt „Marxens". Dass es sich um einen Druckfehler handelt, beweist der Zusammenhang und außerdem ein Vergleich mit der Handschrift der Verfasserin. 2 ironischer Doppelsinn: Alkoholismus und Religiosität. 3 In einer Versammlung zum Gedächtnis der Pariser Kommune am 18. März 1886 rief Wagener: „(Die Besitzenden, verflucht, muss man mit Dynamit behandeln". Nach der Versammlung kam es zu blutigen Zusammenstößen. |
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