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Rosa Luxemburg 19051105 Das alte Problem

Rosa Luxemburg: Das alte Problem

[Vorwärts (Berlin), 22. Jahrgang Nr. 260 (Sonntag, 5. November 1905). S. 1 Sp. 1 f., verglichen mit der auszugsweisen Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 621-624]

Der erste Parteitag der geeinigten Sozialistischen Partei Frankreichs, der vor wenigen Tagen stattgefunden hat, ist vom Standpunkte der internationalen Arbeiterbewegung zweifellos ein hochbedeutsames Ereignis, und wäre nicht der überwältigende Eindruck der Nachrichten aus Russland, die mit der Tagung in Chalon zusammenfielen, so hätte der französische Parteitag sicher viel mehr Beachtung der proletarischen Internationale gefunden, als dies der Fall gewesen.

Um die außerordentliche Tragweite der Aufgaben, die unseren französischen Freunden bevorstanden, zu begreifen, muss man sich kurz der Situation erinnern, in der der Parteitag in Chalon zusammentrat. Die verhängnisvolle Krise des Ministerialismus war eben erst überwunden. Die sozialistische Einigkeit ist kaum vor sechs Monaten formell geschaffen, oder richtiger, beschlossen worden. Sie wirklich zu schaffen, sie in die Tat umzusetzen, war das Bestreben der Partei im Laufe des letzten Halbjahres, und insofern es auf die rein organisatorische Einigkeit ankommt, können die französischen Genossen mit ihrem Werk gewiss zufrieden sein. Der Nationalrat der Partei war in der Lage, in seinem Bericht an den Parteitag festzustellen, dass von allen Föderationen, d. h. departementalen Verbänden, nur noch fünf außerhalb der Einigung stehen, in allen anderen sind die zersplitterten Fraktionen bereits zu kompaktem einheitlichen Ganzen zusammengeschmolzen, und ebenso bilden ihre Vertreter in der Kammer eine geschlossene sozialistische Fraktion aus 38 Abgeordneten, denen ein Dutzend „wilde" Sozialisten entgegenstehen, die – ein trauriges Erbstück der ministerialistischen Anarchie – als die anziehende Verkörperung der „freien Meinungsäußerung" – im Verrat der Arbeiterinteressen – und der „geistigen Unabhängigkeit" – von der proletarischen Organisation, den wahren Geist der „Demokratie" gegen den „Despotismus" der Partei und ihrer Zentralleitung vertreten.

Allein die sozialistische Einigkeit ist in Frankreich, wie überall, nicht eine Frage der mechanischen Zusammenkoppelung verschiedener Fraktionen zu einer Organisation, sondern die einer einheitlichen lebendigen Bewegung, die das gesamte Proletariat in einem großen kräftigen Strom des Klassenkampfes mit fortreißt. Die Spaltungen innerhalb der Arbeiterbewegung sind stets bloß ein äußeres Symptom tiefliegender Erscheinungen des Klassenkampfes selbst, seiner Probleme, die meist mit allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen zusammenhängen, und es ist bloß eine übliche Verwechslung von Ursache und Wirkung, wenn man die Uneinigkeit unter den Sozialisten eines Landes, statt sie aus den Schwierigkeiten der allgemeinen Situation der Arbeiterbewegung zu erklären, vielmehr für diese verantwortlich macht und durch die persönliche „Aussöhnung" der Führer zu beseitigen hofft. In derselben Zeit, wie nach dem gänzlichen Bankrott der Blockpolitik und des Ministerialismus unter dem Druck des Amsterdamer Kongresses eine Einigung zwischen dem Anhang Jaurès' und den alten Fraktionen des französischen Sozialismus endlich zustande gekommen war, tat sich die Kluft in der Arbeiterbewegung Frankreichs an einer anderen Stelle auf: zwischen der ganzen geeinigten sozialistischen Partei und der Masse der halbanarchistischen Gewerkschafter.

Diese Erscheinung, dieses Aufleben des antiparlamentarischen „Syndikalismus" in der jüngsten Zeit, dem in Frankreich wohlgemerkt eine ganz andere Einschätzung zukommt als der kümmerlichen Episode des „anarcho-sozialistischen" Wirrwarrs in Deutschland, zeigt allein, dass das eigentliche Problem der Einigkeit in Frankreich viel tiefer liegt als bloß in der früheren Kontroverse Guesde-Vaillants mit Jaurès. Und wenn andererseits die von der geeinigten Partei präsentierten Ziffern in Bezug auf die Organisationsstärke – nahezu 40.000 zahlende Mitglieder in ca. 2000 lokalen Vereinen – für französische Verhältnisse einen ganz achtunggebietenden festen Kern der sozialistischen Bewegung darstellen, so weisen auch diese Ziffern zugleich auf dasselbe dringende Problem hin, das vor dem französischen Sozialismus steht. Vereinigung der sozialistischen Avantgarde mit der breiten Arbeitermasse in einer lebendigen Bewegung, dies ist gegenwärtig die eigentliche Aufgabe des Sozialismus in Frankreich überhaupt wie der Einigkeit im Besonderen, die naturgemäß dem ersten allgemeinen Parteitag zufallen musste.

Der „Syndikalismus", die französische anarchistelnde Gewerkschafterei, ist keine neue Erscheinung in der Arbeiterbewegung Frankreichs. Sie ist vielmehr nur ein Wiederaufleben alter Traditionen, der hergebrachten tiefen Abneigung des französischen Proletariats gegen die „Politik", Traditionen, die bereits von den ersten bürgerlichen Revolutionen her datieren. Den Schlüssel zum Verständnis der eigenartigen Schicksale des französischen Sozialismus, wie überhaupt der inneren politischen Geschichte Frankreichs im letzten Jahrhundert, bildet das Kleinbürgertum und seine hervorragende Rolle. Seit der großen Revolution stets unter der politischen und geistigen Leitung des Kleinbürgertums, keinen Klassenkampf führend, trennt sich das französische Proletariat von ihm zum ersten Mal in den Junitagen des Jahres 1848. Die furchtbare Schlächterei war die Bluttaufe der politischen Selbständigkeit der französischen Arbeiterklasse, ihrer Befreiung von der Vormundschaft des Kleinbürgertums.

Allein es war dies erst eine Scheidung auf der Straße. Nach der Niederwerfung der Kommune eröffnet die dritte Republik eine Periode der parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie und damit eröffnet sie zugleich eine neue politische Laufbahn für das französische Kleinbürgertum. Und wenn es ein unsterbliches Verdienst Guesdes und Vaillants ist, in den 80er Jahren die französische Arbeiterschaft von ihrer Abneigung gegen die „Politik" und zu der Auffassung gebracht zu haben, dass es neben und entgegen einer bürgerlichen Politik eine proletarische Politik geben könne und müsse, so wiederholte sich bald das alte Verhängnis des französischen Sozialismus: Mit dem Ende der 90er Jahre verfiel die proletarische Politik in der Form des Parlamentarismus wieder unter den erdrückenden Einfluss des Kleinbürgertums. Der Zusammenbruch des kleinbürgerlichen Radikalismus in der Dreyfus-Krise, in der die Masse der Kleinbürger mit fliegenden Fahnen ins Lager der nationalistischen Reaktion hinein schwenkte, hat den ganzen bankrotten Generalstab der kleinbürgerlichen Intelligenz dem proletarisch-sozialistischen Lager zugeführt und hier die langwierige Krise des Ministerialismus hervorgerufen. Aber darauf musste naturgemäß ein zweiter starker Rückschlag, eine erneute Abneigung der großen Masse der Arbeiter gegen die „Politik", speziell gegen den Parlamentarismus folgen. Drehte sich doch das ganze politische Leben Frankreichs unter der Herrschaft des „republikanisch-sozialistischen Blocs", also seit fünf Jahren fast ausschließlich um ein Paradestück des alten kleinbürgerlichen radikalen Programms: um die hohle Nuss der Trennung der Kirche vom Staate.

Dass ein so von der wirklichen Arbeiterpolitik, von einer proletarischen Klassenpolitik gänzlich abgekommener Parlamentarismus eine Kluft zwischen dem Sozialismus und der Masse der Proletarier erzeugen musste, ist klar. Und daraus geht auch klar hervor, nach welcher Richtung die geeinigte französische Partei nunmehr ihre Umgestaltung vornehmen muss, wenn die fatalen Nachwehen der letzten großen Krise in der Tat überwunden werden sollen. Eine durchgreifende Reform der gesamten parlamentarischen Taktik und des politischen Lebens der Partei, wobei die wirklichen Arbeiterinteressen, vor allen Dingen der Achtstundentag in den Vordergrund gestellt werden, darin besteht offenbar die dringendste Aufgabe der Partei in Frankreich. Es ist dies das alte, das Grundproblem der Sozialdemokratie überall und in allen Stadien ihrer Entwicklung: die Vereinigung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung.

Die französische Partei war sich wohl dieser Aufgabe bewusst. Auf der Tagesordnung des Parteitages in Chalon stand als der zweite wichtige Punkt die Frage des Achtstundentages. Es war umso mehr eine dringende Notwendigkeit, diese Frage zur Zentralachse der Beratungen zu machen, als die Agitation für den achtstündigen Arbeitstag gerade von den Gewerkschaftern in der letzten Zeit als das Hauptziel einer allgemeinen „direkten Aktion" ins Auge gefasst worden ist. Leider ist die ganze Zeit des Parteitages von der einen Frage der Wahltaktik verschlungen worden. Le mort saisit le vil – der Tote packt den Lebenden. Die vergangene Krise des Parlamentarismus rächte sich noch einmal, – eine parlamentarische Frage war es wieder, die jede Behandlung unmittelbarer Arbeiterfragen unmöglich gemacht hat. Es bleibt nunmehr zu erwarten, dass die Partei ihre tägliche Politik, ihre Agitation auf diese Fragen richtete. Die Periode der parlamentarischen Kämpfe um alte Lösungen des bankrotten kleinbürgerlichen „Republikanismus" ist jedenfalls endgültig geschlossen. Und die arbeits- und kampfesfreudige geeinigte Partei des französischen Sozialismus wird nunmehr eine neue Ära der sozialistischen Politik in- und außerhalb des Parlaments beginnen: einer nicht bloß oppositionell-republikanischen, sondern auch revolutionären Arbeiterpolitik.

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