Rosa Luxemburg: Die Geburt der Freiheit im Zarenreich [Vorwärts (Berlin), 22. Jahrgang Nr. 259 (Samstag, 4. November 1905). S. 1 Sp. 2 – S. 2, Sp. 1 verglichen mit der auszugsweisen Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 616-620] Beruhigende „Kommuniqués" – mit gleichzeitiger Verhängung des Belagerungszustandes, Amnestie für politische Verbrecher – unter Ausschluss der Kämpfer der ganzen Revolutionsperiode, Dekrete über Pressefreiheit – und Niedermetzelung friedlicher Bürger, „unerschütterliche Grundsätze" des Verfassungsmanifestes – und ein allgemeiner Ausbruch von Judenkrawallen, so sieht der zaristische „Rechtsstaat", das Reich der „Freiheit gebenden" Knute in diesem Augenblick aus. Und doch ist das groteske Schauspiel nur eine logische Äußerung des inneren Widerspruchs der Lage: Der Absolutismus kann sich noch mit Not für einige Momente an der Oberfläche halten, nur indem er freiheitliche Zusagen und Konzessionen macht. Aber diese Konzessionen bedeuten seine Selbstverneinung, seine Rettungsmittel sind für ihn ebenso viele Vernichtungsmittel. Deshalb bleibt es bei den bloßen Zusagen, und weil diese naturgemäß statt zu beruhigen, die Revolution immer nur von neuem anfachen, folgen den freiheitlichen Zusagen mit tödlicher Sicherheit Rückfälle in das nackte Schreckensregiment der Knute auf dem Fuße. Und doch mitten in diesem Wirrwarr des Zusammenbruchs des Zarismus wird bereits in Russland die politische Freiheit tatsächlich geboren, sie wächst mit jeder Stunde. Nicht „gewährt" durch den Absolutismus, sondern betätigt durch die Arbeiterschaft unter der Führung der Sozialdemokratie. Die Massenversammlungen in den Straßen aller Großstädte sind zur täglichen Erscheinung geworden. Die Blätter werden in einigen Städten, so in Warschau, bereits ohne Zensur herausgegeben, von der sie sich einfach auf eigene Faust befreit haben. Die Gefangenen werden durch einen Sturm der Volksmasse befreit. Es ist die städtische klassenbewusste Arbeiterschaft, die so durch ihre Entschlossenheit die politische Freiheit Schritt für Schritt gewaltsam durchsetzt. Man muss durch das bunte Bild der widerspruchsvollen Nachrichten, durch die Details hindurch in den Sinn der einzelnen Augenblicke, der Phasen der Revolution eindringen – und jetzt werden die Phasen in Russland nach Tagen und Stunden bemessen, um die innere Logik, die Entwicklung der Ereignisse zu erfassen. Die Revolution in Russland siegt als eine Bewegung der modernen großstädtischen Arbeiterschaft – dies bewährt sich nicht nur in dem allgemeinen Inhalt dieser Revolution, sondern in jedem ihrer Schritte, in jedem einzelnen Moment! ★ ★ ★ Die Amnestie Peterhof, 3. November. (Meldung der „Petersburger Telegr.-Agentur".) Ein kaiserlicher Ukas betreffend den Erlass einer Amnestie ist unterzeichnet. Petersburg, 3. November. Die Regierung bewilligte verlangte Amnestie, die auch vom Zaren bereits unterzeichnet worden ist. Die wegen politischer Attentate nach 1899 Verurteilten sind davon ausgeschlossen. (!!) Die Mordbuben besorgt um die Moral. Petersburg, 3. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Ein Regierungskommuniqué führt aus, nachdem das Manifest vom 30. Oktober unerschütterliche Grundlagen für die Entwicklung des Lebens Russlands auf der Basis von Gesetzmäßigkeit und Recht geschaffen, erhalte die Teilnahme an Straßendemonstrationen einen ganz anderen Sinn als vorher. Sie könne nur die Unordnung unterstützen, daher sei die Teilnahme von Schülern mittlerer und unterer Lehranstalten an solchen Kundgebungen schon aus moralischen Gründen zu verurteilen. Wenn die Aufmerksamkeit der Gesellschaft nicht schon jetzt darauf gerichtet werde, drohe dem Staate das Anwachsen der Zahl der Leute, deren Achtung vor der Autorität und Ordnung schon auf der Schulbank radikal erschüttert sei. Die Regierung rufe alle Bürger zur Selbstbeherrschung und ruhiger Beschäftigung auf. Das Pressedekret Petersburg, 3. November. Der Wortlaut des Dekrets, welches die Pressefreiheit gewährt, liegt in der Redaktion der „Nowoje Wremja" [Neue Zeit] zur Einsicht aus. Graf Witte33 hat die Chefredakteure der Petersburger Blätter ersucht, von dem Inhalt Kenntnis zu nehmen und ihm eventuell Abänderungsvorschläge zu machen. Die Chefredakteure werden infolgedessen heute Abend mit dem Graf Witte eine Unterredung haben. Belagerungszustand in Odessa! Odessa, 3. November. Mit der Verhängung des Belagerungszustandes wird bestimmt, dass nach 7 Uhr abends sich niemand mehr auf den Straßen sehen lassen darf, dass auf jede Person, die nach dieser Zeit am Fenster oder auf dem Balkon erscheint, geschossen wird, um neun Uhr ist das Licht in den Häusern zu löschen. Gestern Nachmittag entwaffneten die Polizei und Truppen über 5000 Personen, welche Revolver bei sich trugen. Petersburg, 3. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Die Zensur für amtliche Telegramme der Zeitungen ist aufgehoben worden. ★ ★ ★ Judenkrawalle und Massaker Petersburg, 3. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Im Laufe der Nacht trafen neue Nachrichten von gegen die Juden gerichteten Angriffen ein. In Smolensk ist es der energisch eingreifenden Selbstverwaltung, Ausschreitungen zu verhüten. In Rostow am Don gleichen einige Straßen Trümmerhaufen, der neue Bazar ist niedergebrannt. Die Angriffe gegen die Juden dauern fort in Mariupol und Jusowka ebenso in Kiew. Dort wurden Bomben auf die Kosaken geschleudert. In Kiew wurden gestern zwölf Personen getötet und 44 verwundet. In Poltawa drang die Volksmenge in das Gefängnis ein, wobei 38 Personen verwundet wurden. Auch in Uman kamen Unruhen vor, die Demonstranten forderten die Freilassung der wegen politischer Vergehen Verhafteten. Warschau, 3. November. Die Straßendemonstrationen dauerten bis in die späte Nacht. Beim Sächsischen Garten wurde das dort postierte Militär mit Revolverschüssen angegriffen, worauf dasselbe mit einer Salve antwortete. Viele Personen wurden getötet oder verwundet. Aufruhr in Südrussland Petersburg, 3. November. Aus Nikolajew wird gemeldet, in der Stadt herrsche offener Aufruhr. Auf allen Straßen vernimmt man Gewehrfeuer. Zahlreiche Tote Verwundete liegen herum. Über 200 Bomben wurden geworfen, wodurch ebenfalls zahlreiche Personen ums Leben kamen oder grässlich verstümmelt wurden. Der Anblick der Stadt ist ein trostloser. Aufruhr in der ganzen Provinz, Petersburg, 2. November. Die letzten Telegramme aus der Provinz berichten von mehr oder weniger ernsten Ruhestörungen am heutigen und gestrigen Tage. In vielen Städten kam es zum Einschreiten des Militärs, wobei es Tote und Verwundete gab, so vornehmlich in Kaluga, Grodno, Rybinsk, Twer, Minsk, Kurgan, Bialystok, Baku und Sewastopol. In einigen Städten ereigneten sich auch Zusammenstöße zwischen Angehörigen verschiedener politischer Parteien. Andere Telegramme berichten die Fortdauer der gegen die Juden gerichteten Unruhen, so in Rjeschin, Witebsk, Romny, Kiew, Wilna, Elisabethgrad und namentlich Odessa, wo unter der großen Zahl der Verwundeten verkleidete Polizisten erkannt wurden. ★ Der Leichenzug der zaristischen „ Verfassung " Reval, 2. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Eine Menge von ungefähr 30.000 Personen hielt sich heute mehrere Stunden lang an der Stelle auf, wo die von den Truppen erschossenen Teilnehmer an den Kundgebungen gefallen sind. 38 Särge wurden dort aufgestellt. Die Menge sang Trauergesänge. Die Straßenlaternen und die Häuser waren schwarz verhängt und trugen unzählige Trauerkränze. An den Fenstern brannten Kerzen. Der Trauerzug erstreckte sich auf mehrere Kilometer. Die Stadtbehörden beteiligten sich daran. Die Läden und die öffentlichen Anstalten waren geschlossen. Minsk, 1. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Fast stündlich finden hier Beerdigungen von Leuten statt, die den letzten Unruhen zum Opfer gefallen sind. Die Leichen werden auf Droschken fortgeschafft. Auf dem israelitischen Friedhofe lagen 54 Leichname. Die Arbeiter haben für die Getöteten eine dreitägige Trauer angesetzt. In den öffentlichen Anstalten ist die Arbeit eingestellt. ★ ★ ★ In Polen Warschau, 3. November. (Privatdepesche des „Vorwärts".) Die Zeitungen erscheinen ohne Zensur. Die Sozialdemokratie veranstaltet in allen Stadtteilen große Volksmeetings, wo sie zum Ausharren im Kampfe und im Generalstreik auffordert. Die Reden werden von der Bevölkerung mit ungeheurem Jubel aufgenommen. Die „Nationaldemokratischen" und die Pfaffen gegen die Sozialdemokratie aus aller Kraft und ermahnen zur Ruhe und zum Aufgeben des Generalstreiks. Czenstochau, 3. November. (Privattelegramm des „Vorwärts".) Der Generalstreik dauert fort. Die Sozialdemokratie lässt in einer legalen Druckerei ihre Flugblätter erscheinen. Gestern waren in der ganzen Stadt rote Plakate angeschlagen: „Die Sozialdemokratie Polens und Litauens ladet das arbeitende Volk zu einer großen Volksversammlung im städtischen Kaufmanns-Kasino ein." Die Polizei ließ die Plakate hängen. Die Versammlung fand statt, es nahmen über 2000 Personen teil. Die Redner fanden stürmischen Beifall. Auch in den Straßen fanden kolossale Volksversammlungen statt. Sosnowice, 3. November. (Privattelegramm des „Vorwärts".) Die von den Sozialdemokraten okkupierte legale Druckerei arbeitet weiter für die Partei. Flugblätter werden ganz offen gedruckt und verbreitet. Der Generalstreik wird fortgesetzt. Massenmeetings finden offen statt, so im Zechenhause der Grube „Graf Renard". Die Sozialdemokratie hat die Losung ausgegeben: Sofortige Bildung der Volksmiliz! Die Arbeiterschaft bewaffnet sich, so wie es irgend geht. ★ ★ ★ Im Kaukasus Petersburg, 3. November. Nach Meldungen aus Baku dauert im Kaukasus der Streik noch fort. Der Bahnkörper zwischen Tiflis und Peti ist von den Ausständigen zerstört und der Verkehr eingestellt worden. In Finnland Helsingfors, 3. November. Die Stadtverwaltung bildete einen Wohlfahrtsausschuss und erklärte dem Streikkomitee, dass sie sich imstande sehe, die Aufrechterhaltung der Ordnung zu übernehmen, zu welchem Zwecke 10.000 Mark bewilligt wurden. Weiter wählte die Stadtverwaltung, die zweimal täglich zusammentritt, einen Ausschuss von drei Mitgliedern, an den sich das Streikkomitee in wichtigen Fragen wenden soll. Helsingfors, 2. November. In einer gestern abgehaltenen Versammlung wurde der Beschluss gefasst, den Ausstand bis zur Erfüllung aller politischen Forderungen fortzusetzen. Der Generalgouverneur teilte mit, dass er die Liste der Forderungen heute nach Petersburg senden werde und versprach, die Militärpatrouillen einzuziehen, da die Ordnung besser gewahrt ist als je und die Bürgermiliz starke Patrouillen aussendet. Der Polizeiminister reichte sein Abschiedsgesuch ein. Die Gendarmen in Hangö verließen diesen Ort, nachdem sie entwaffnet worden waren. Die Gendarmen in Tavastehus flüchteten in ihre Kaserne. Dasselbe war in Abo der Fall. Der Gouverneur in Abo sandte das Militär zurück und versprach, es nicht mehr verwenden zu wollen. Kriegszustand Eine Privatdepesche der „Berl. Ztg." meldet: Über Rostow am Don wurde gestern der Kriegszustand verhängt. Die Maßregel erwies sich als günstig, denn seither herrscht halbwegs Ruhe. Der Bahnverkehr konnte noch nicht aufgenommen werden. Der Eisenbahnverkehr stockt Kattowitz, 3. November. (W.T.B.) Amtliche Meldung. Jeder Eisenbahnverkehr nach Russland stockt. ★ Der „Vossischen Zeitung" wird mitgeteilt: Petersburg, 3. November. Das Arbeiterkomitee gibt täglich erscheinende „Mitteilungen des Arbeiterdeputiertenrates" heraus, die im Umfange von vier Seiten im Format der „Voss. Ztg." erscheinen. Die heutige Nr. 3 bringt folgenden Aufruf: „Da wir es für notwendig erachten, dass sich die Arbeiter auf Grundlage der erzielten Erfolge so gut als möglich organisieren und sich zum Schlusskampf um die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung bewaffnen, um eine demokratische Republik zu begründen, fordern wir die Einstellung des Ausstandes; er soll aufgenommen werden, sobald die Zeit dazu gekommen. Weiter werden die Setzer aufgefordert, nur in den Blättern zu arbeiten, deren Redakteure sich verpflichten, die Zeitung ohne Rücksicht auf Befehle der Zensur erscheinen zu lassen. |
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