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Rosa Luxemburg 19051105 Die Revolution in Russland

Rosa Luxemburg: Die Revolution in Russland

[Vorwärts (Berlin), 22. Jahrgang Nr. 260 (Sonntag, 5. November 1905). S. 1 Sp. 2 f., verglichen mit der auszugsweisen Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 625-628]

Der Plünderungen und Metzeleien vierter Tag

Kiew, 4. November. Seit bereits vier Tagen ist hier Aufruhr und Plünderung an der Tagesordnung. Das Militär beschießt die Häuser der Juden, weil diese den Plünderern mit bewaffneter Hand Widerstand entgegensetzen. Der Direktor der Reichsbankfiliale telegrafierte an Witte, dass er wegen der passiven Haltung des Militärs jede Verantwortung für den Schutz der Bank ablehnen müsse. Dieses Telegramm veranlasste den General Maworin, etwa 190 Plünderer zu verhaften. Diese Maßregel hat die Plünderer etwas erschreckt und infolgedessen haben die Räubereien nachgelassen.

Die Reaktion regt sich!

Moskau, 4. November. Die monarchistische Partei veröffentlicht eine Kundgebung, worin sie ihre Absicht erklärt, alle Mittel anzuwenden, um die Autokratie in Russland zu unterstützen. Diese Partei ist es auch, welche verbreitet, das Konstitutionsmanifest sei eine Fälschung Wittes. Die „Moskowskie Wedemosti", das Organ dieser Partei, veröffentlicht einen überaus scharfen Angriff gegen den Grafen Witte.

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Nur zwei Verwundungen!

Warschau, 3. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Heute kamen hier nur zwei Verwundungen vor. – Die Lehrer der städtischen Schulen haben beschlossen, den Unterricht fortan in polnischer Sprache zu erteilen. – In einer großen Versammlung der Bahnbeamten wurde beschlossen, so lange zu streiken, bis alle Wünsche des Volkes erfüllt seien.

Kischinew in Flammen!

London, 4. November. Kischinew soll nach Meldungen aus Odessa durch Feuer völlig zerstört worden sein. Am Freitag fanden in Odessa den ganzen Tag über Straßenkämpfe zwischen den Liberalen und den sogenannten Loyalen statt. Die Anzahl der Toten und Verwundeten wird auf 500 geschätzt. Der deutsche und der französische Konsul ersuchten ihre vorgesetzten Behörden um Entsendung der Stationsschiffe vom Bosporus.

Odessa, 4. November. Auch im Laufe des gestrigen Tages dauerten die Ausschreitungen des Pöbels fort. Eine ganze Anzahl jüdischer Läden, darunter große Geschäfte in den zentralen Straßen, wurden geplündert; mehrere Fabriken vor der Stadt sind niedergebrannt. Die Hospitäler sind mit Verwundeten überfüllt. Es wurden auch wieder mehrere Personen getötet. Die Konsulate und Hotels werden von Truppen bewacht.

Auch aus Kischinew, Nikolajew, Sewastopol, Rostow und Elisabethgrad werden schwere Ausschreitungen des Pöbels gemeldet, die sich hauptsächlich gegen die jüdischen Geschäfte und Häuser richten.

St. Petersburg, 4. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Die Meldungen aus der Provinz klingen ruhiger. In Rostow, wo die Unruhen mehrere Millionen Schaden verursacht haben, ist der Bahnverkehr wieder aufgenommen. In Riga fand gestern eine Massenkundgebung statt, an der 150.000 Personen teilnahmen. Von 34 Tribünen wurden in sieben Sprachen Reden über die Bedeutung des Manifestes gehalten. Die Truppen werden mit Rufen: Es lebe die Armee! begrüßt. In Noworossijsk ist der Eisenbahnverkehr wieder aufgenommen.

Die Amnestie

ist nun erlassen. Ein Telegramm aus

Petersburg, 4. November, 11 Uhr 24 Min. Die erlassene Amnestie umfasst u. a. auch alle bis zum 30. Oktober gegen die Person des Kaisers oder gegen Mitglieder des Kaiserhauses verübte Verbrechen, sowie das Verbrechen der Teilnahme an zu Umsturzzwecken gebildeten Geheimgesellschaften.

Der Generalstreik wird fortgeführt!

Der Ukas zählt gewisse Kategorien politischer Verurteilte auf, die vollständig begnadigt werden; bei anderen zu schweren Strafen verurteilen Personen treten große Strafherabsetzungen ein; für politische Vergehen tritt vollständige Begnadigung ein.

Riga. Die Situation hat sich hier noch immer nicht gebessert. Ein gestern Abend abgehaltenes Volksmeeting beschloss, den Generalstreik fortzusetzen. Nunmehr haben auch sämtliche Apotheken geschlossen. Aus der Provinz laufen fortwährend beunruhigende Nachrichten ein.

Die Volksmiliz.

Die „Russ. Korrespondenz":

Freiwilliger Volksschutz". Laut einer Mitteilung der „Nowoje Wremja" soll sich in Russland ein „freiwilliger Volksschutz" gebildet haben, der aus ungefähr 100.000 Mitgliedern besteht. Die Delegierten der Moskauer Abteilung dieses „freiwilligen" Instituts haben unlängst den Zaren eine Adresse unterbreitet, in der sie ihren Dank für die Einrichtung der Reichs-Duma aussprechen und um die Annahme eines Heiligenbildes bitten.

Es wäre sehr interessant zu erfahren, wie viel Mitglieder dieses „freisinnigen Schutzes" in dem Ressort der Polizei angestellt sind.

Judenmetzeleien

Petersburg, 3. November. Die offiziöse „Petersburger Telegrafen-Agentur" meldet: Einem Telegramm aus Tomsk zufolge griffen dort heute Trupps von Anhängern der terroristischen Partei eine Versammlung der Liberalen an. Diese flüchteten sich in das Eisenbahnverwaltungsgebäude. Auf beiden Seiten wurde gefeuert. Als im Laufe des Abends Feuer an dieses Gebäude gelegt wurde, erhielt ein Bataillon den Befehl, anzugreifen, wobei zahlreiche Personen verwundet wurden. Auch im Theater wurden Verwüstungen angerichtet.

In Batum kam es heute zu einen Zusammenstoß zwischen den Manifestanten und dem Militär, wobei Personen getötet und verwundet wurden.

In Moskau erließ heute der Gouverneur eine Bekanntmachung, in der er die Bevölkerung ermahnt, die Kundgebungen einzustellen und den gewohnten Lebensgang wieder aufzunehmen, damit sie die Früchte des neuen Erlasses genießen könne.

Das gefährdete reichsdeutsche Eigentum!

Frankfurt a. M., 4. November. Angesichts der Unruhen der letzten Tage in Odessa, Rostow und anderen russischen Städten, bei denen auch Leben und Eigentum deutscher Reichsangehöriger bedroht worden ist, hat die Reichsregierung, wie verlautet, mit der russischen Regierung sich in Verbindung gesetzt, um einen besonderen Schutz der Reichszugehörigen zu erreichen. Dasselbe ist auch geschehen, als die Kämpfe in Batumi tobten. („Frankf. Ztg.")

Natürlich! Zum Schutze des bedrohten „Eigentums" der reichsdeutschen Kaufleute und anderer Bourgeois rührt sich die Reichsregierung etwas eifriger, als wo es sich um das Leben eines edlen Revolutionärs und Proletariers wie Kasprzak handelte!

Drohungen

Wie aus Saratow gemeldet wird, gab der Gouverneur heute bekannt, dass er alle Unruhen und Plünderungen mit Waffengewalt unterdrücken würde. Trotz dieser Ankündigung wurden revolutionäre Reden gehalten, die scharfe Angriffe gegen den Kaiser enthielten und an die sich eine Plünderung der Wohnungen und Läden der Juden anschloss. Auf die Truppen wurden eine Bombe geschleudert und Revolverschüsse abgegeben. Das Militär erwiderte das Feuer, wodurch Personen verwundet wurden.

Auch in Kiew kündigte der Gouverneur an, dass er jeden Versuch, Unruhen hervorzurufen, mit Waffengewalt niederwerfen werde.

Wie aus Jaroslaw gemeldet wird, kamen dort seit drei Tagen Ausschreitungen der Bevölkerung gegen Schüler und Juden vor. Die Häuser und Läden der Letzteren wurden ausgeplündert.

In Iwanowo und Wosnessensk kam es heute bei einer Versammlung zu einem Zusammenstoß mit Kosaken.

Aus Odessa, Kiew, Eupatoria und zahlreichen anderen Städten wird berichtet, dass es dort gestern zu Ausschreitungen kam, die sich gegen die Juden richteten.

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