Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie I1 I. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen [„Przegląd Socjaldemokratyczny" Nr. 6, August 1908. Nach Internationalismus und Klassenkampf, Neuwied und Berlin 1971, S. 220-278. Eine vollständige Übersetzung dieser Artikelserie erschien erst 2012 im Dietz-Verlag in Berlin. Aus urheberrechtlichen Gründen digitalisiere ich sie natürlich nicht.] Die Revolution im russischen Reich brachte neben anderen auch die Nationalitätenfrage auf die Tagesordnung. Bisher war sie in den europäischen Staaten nur für Österreich-Ungarn ein brennendes Problem. Jetzt wurde sie auch in Russland aktuell, denn die Entwicklung der revolutionären Ereignisse stellt alle Klassen und politischen Parteien vor die dringende Notwendigkeit, die Nationalitätenfrage vom Standpunkt der praktischen Politik und ihren unmittelbaren Aufgaben aus zu lösen. Alle neu gebildeten oder sich bildenden Parteien im russischen Reich – radikale, liberale oder reaktionäre – sehen sich gezwungen, in ihren Programmen die eine oder andere Haltung hinsichtlich der Nationalitätenfrage einzunehmen, eine Frage, die mit dem gesamten System der Innen- und Außenpolitik des Staates aufs Engste verknüpft ist. Darüber hinaus geht diese Frage für die Arbeiterpartei nicht nur in ihr Programm ein, sondern auch in die Klassenorganisation. Der Standpunkt der Arbeiterpartei muss sich wohl in der Nationalitätenfrage, wie in jeder anderen Frage auch, durch Methode und Grundauffassung vom Standpunkt sogar der radikalsten bürgerlichen unterscheiden, ja auch von dem der pseudosozialistischen kleinbürgerlichen Parteien. Die Sozialdemokratie, die ihre gesamte Politik auf dem Boden der wissenschaftlichen Methode des historischen Materialismus und des Klassenkampfes aufbaut, kann auch in der Nationalitätenfrage keine Ausnahme machen. Andererseits kann nur die Auffassung dieses Problems von einer grundsätzlichen Position, vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus aus, der sozialdemokratischen Politik eine Lösung und grundsätzlich einheitliche Behandlung sichern, trotz der vielen Unterschiede in der Form der Nationalitätenfrage, wie sie die gesellschaftliche, historische und ethnische Buntheit des russischen Imperiums hervorgebracht hat. Im Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands entspricht der Punkt neun einer solchen Formel, die sich mit der allgemeinen Lösung für alle einzelnen Erscheinungen bei der Nationalitätenfrage befasst Er lautet so: Die Partei strebt eine demokratische Republik an, deren Verfassung unter anderem „allen Nationalitäten, die zum Staatsverband gehören, das Recht auf Selbstbestimmung" zusichern würde. Das Programm der russischen Partei enthält allerdings noch zwei weitere überaus wichtige Postulate, die sich mit der gleichen Materie beschäftigen. Das ist einmal Punkt sieben, der die Aufhebung der Stände und völlige Gleichberechtigung der Bürger, ohne Unterschied des Geschlechts, des Glaubens, der Rasse und der Nationalität fordert, und dann Punkt acht, der aussagt, dass die Bevölkerung des Staates das Recht haben soll, Schulen mit der nationalen Sprache auf Kosten des Staates und nach dem Prinzip der schulischen Selbstverwaltung zu besuchen, die jeweilig eigene Sprache auf Versammlungen und, gleichberechtigt neben der staatlichen Sprache, auch an allen staatlichen und öffentlichen Ämtern zu benutzen. In engem Zusammenhang mit der Nationalitätenfrage steht auch Punkt drei des Programms, der eine ausgedehnte Stadt- und Bezirksselbstverwaltung (oblastnoje samouprawlenije) für die Gebiete fordert, in denen spezielle Lebensbedingungen und eine besondere Zusammensetzung der Bevölkerung herrschen. Offensichtlich aber schienen den Autoren des Programms Gleichberechtigung der Bürger, Recht auf die eigene Sprache, sowie Bezirks-und Stadtselbstverwaltung nicht ausreichend für die Lösung der Nationalitätenfrage zu sein, da sie es doch für unerlässlich erachteten, einen besonderen Paragraphen anzufügen, der darüber hinaus jede Nationalität mit dem „Recht auf Selbstbestimmung" ausstattet. Was an dieser Formel vor allem auffällt, ist der Umstand, dass sie nichts enthält, was spezifisch mit Sozialismus oder Arbeiterpolitik zusammenhängt. „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen" ist schon auf den ersten Blick eine Paraphrase der in allen Ländern und zu allen Zeiten propagierten Losung des bürgerlichen Nationalismus: „das Recht der Nationen auf Freiheit und Unabhängigkeit". Bei uns, in Polen, war „das Naturrecht der Nationen auf Freiheit" die klassische Formel der Nationalisten, von der „Demokratischen Gesellschaft" bis zur „Pobudka" Limanowskis und von der sozialistisch-nationalen „Pobudka" bis zur antisozialistischen „Liga Narodowa" in ihrer Phase vor dem Verzicht auf das Unabhängigkeitsprogramm. Desgleichen war die Resolution über „das gleiche Recht aller Nationen auf Freiheit das einzig greifbare Resultat des berühmt-berüchtigten panslawischen Kongresses in Prag, mit dem dann 1848 die panslawischen Bajonette des Fürsten Windischgrätz ein Ende machten2. Andererseits finden wir in keinem Programm der heutigen sozialistischen Parteien ausdrücklich das Prinzip „des Selbstbestimmungsrechts der Nationen", trotz seiner Allgemeinheit und Dehnbarkeit, das natürlich nicht nur für die Völker Russlands gilt, sondern in gleicher Weise auch für die Nationalitäten Deutschlands und Österreichs, Schwedens und der Schweiz, Amerikas und Australiens. Selbst das Programm einer Partei wie der österreichischen Sozialdemokratie, die in einem Staat mit stark gemischter Bevölkerung tätig ist, für die die Nationalitätenfrage eine erstrangige Rolle spielt, enthält dies obengenannte Prinzip nicht. Nicht durch eine metaphysische Formel, die es dem Gutdünken einer jeden Nationalität überließe, das Problem zu entscheiden, sondern mit Hilfe eines genau festgesetzten staatspolitischen Planes entscheidet das Programm der österreichischen Partei die Nationalitätenfrage. Die österreichische Sozialdemokratie fordert nämlich die Abschaffung des bis jetzt noch gültigen staatlichen Systems Österreichs, das ein Sammelsurium von „Königreichen und gekrönten Reichen" darstellt, geformt und zusammengeflickt im Laufe des Mittelalters durch die dynastische Politik der Habsburger, wobei jedes Reich territorial verschieden gemischte Nationalitäten umfasst Die Partei fordert dagegen eine Teilung jener Königreiche und Länder nach Gebieten von zumindest annähernd einheitlich nationalem Charakter und den Zusammenschluss erst dieser nationalen Gebiete zu einem staatlichen Verband. Da aber fast im gesamten Raum Österreichs die Völker, leider Gottes, bis zu einem gewissen Grad unter sich vermischt sind, sieht das sozialdemokratische Programm ein spezielles Recht vor zum Schutz der nationalen Minderheiten in den neu gebildeten Nationalgebieten. Man kann unterschiedlicher Meinung sein, wenn man den praktischen Wert des obengenannten Planes beurteilt. Karl Kautsky, der zu den erfahrensten Kennern der österreichischen Verhältnisse gehört, auch einer der geistigen Väter der österreichischen Sozialdemokratie, zeigt in seiner neuesten Broschüre „Nationalität und Internationalität" sehr überzeugend, dass auch dieser Plan, selbst im Falle seiner Verwirklichung, noch ganz und gar nicht die nationalen Streitigkeiten und Schwierigkeiten beseitigt. Aber sei es wie es sei, so ist das doch eine Probe der praktischen Lösung dieser Schwierigkeiten durch die Partei des Proletariats, und wegen der Bedeutung des Nationalitätenproblems in Österreich führen wir ihn in seiner ganzen Länge an. Das Nationalitätenprogramm der österreichischen Partei, das auf dem Brünner Parteitag 1899 angenommen wurde, lautet: „Da die nationalen Wirren in Österreich jeden politischen Fortschritt und jede kulturelle Entwicklung der Völker lähmen, da diese Wirren in erster Linie auf die politische Rückständigkeit unserer öffentlichen Einrichtungen zurückzuführen sind und da insbesondere die Fortführung des nationalen Streites eines jener Mittel ist, durch die die herrschenden Klassen sich ihre Herrschaft sichern und die wirklichen Volksinteressen an jeder kräftigen Äußerung hindern, erklärt der Parteitag: Die endliche Regelung der Nationalitäten- und Sprachenfrage in Österreich im Sinne des gleichen Rechtes und der Gleichberechtigung und Vernunft ist vor allem eine kulturelle Forderung, daher im Lebensinteresse des Proletariats gelegen; sie ist nur möglich in einem wahrhaft demokratischen Gemeinwesen, das auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht gegründet ist, in dem alle feudalen Privilegien im Staate und in den Ländern beseitigt sind, denn erst in einem solchen Gemeinwesen können die arbeitenden Klassen, die in Wahrheit die den Staat und die Gesellschaft erhaltenden Elemente sind, zu Wort kommen; die Pflege und Entwicklung der nationalen Eigenart aller Völker in Österreich ist nur möglich auf der Grundlage des gleichen Rechtes und unter Vermeidung jeder Unterdrückung, daher muss vor allem anderen jeder bürokratisch-staatliche Zentralismus ebenso wie die feudalen Privilegien der Länder bekämpft werden. Unter diesen Voraussetzungen, aber auch nur unter diesen, wird es möglich sein, in Österreich an Stelle des nationalen Haders nationale Ordnung zu setzen, und zwar unter Anerkennung folgender leitender Grundsätze: 1. Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat. 2. An Stelle der historischen Kronländer werden national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper gebildet, deren Gesetzgebung und Verwaltung durch Nationalkammern, gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, besorgt wird. 3. Sämtliche Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt. 4. Das Recht der nationalen Minderheiten wird durch ein eigenes, vom Reichsparlament zu beschließendes Gesetz gewährt. 5. Wir anerkennen kein nationales Vorrecht, verwerfen daher die Forderung einer Staatssprache; wieweit eine Vermmittlungssprache nötig ist, wird das Reichsparlament bestimmen. Der Parteitag als das Organ der internationalen Sozialdemokratie Österreichs spricht die Überzeugung aus, dass auf Grundlage dieser leitenden Sätze eine Verständigung der Völker möglich ist; er erklärt feierlich, dass er das Recht jeder Nationalität auf nationale Existenz und nationale Entwicklung anerkennt; dass aber die Völker jeden Fortschritt ihrer Kultur nur in enger Solidarität miteinander, nicht im kleinlichen Streit gegeneinander erringen können, dass insbesondere die Arbeiterklasse aller Zungen im Interesse jeder einzelnen Nation wie im Interesse der Gesamtheit an der internationalen Kampfgenossenschaft und Verbrüderung festhält und ihren politischen und gewerkschaftlichen Kampf in einheitlicher Geschlossenheit führen muss."3 In den Reihen des internationalen Sozialismus ist die russische Arbeiterpartei die einzige, deren Programm die Forderung enthält, „den Nationen das Selbstbestimmungsrecht" zu garantieren; außer bei der russischen Sozialdemokratie finden wir diese Formel nur noch im Programm der russischen „Sozialrevolutionäre", wo sie mit dem Prinzip des staatlichen Föderalismus Hand in Hand geht; die betreffende Stelle in der politischen Deklaration der Sozialrevolutionären Partei heißt: „möglichst weitgehende Anwendung des föderativen Grundsatzes in den Beziehungen zwischen den einzelnen Nationalitäten, Anerkennung ihres unbegrenzten Rechtes auf Selbstbestimmung". Allerdings steht die obige Formel noch in anderer Beziehung zum internationalen Sozialismus; sie ist nämlich eine Paraphrase eines Absatzes aus der Resolution, die 1896 vom Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress in London zur Nationalitätenfrage angenommen wurde. Jedoch zeigen der Wortlaut und die Umstände, die zur Annahme dieser Resolution führten, deutlich, dass es auf einem Missverständnis beruhen würde, wenn der Paragraph neun im Programm der russischen Partei als Anwendung der Londoner Resolution aufgefasst werden sollte. Die Londoner Resolution erfolgte durchaus nicht in der Absicht oder dem Bedürfnis, sich auf einem internationalen Kongress mit der Nationalitätenfrage im Allgemeinen zu befassen, und noch weniger wurde sie eingebracht oder vom Kongress angenommen als Formel einer tatsächlichen Lösung dieser Frage durch die Arbeiterparteien der verschiedenen Länder. Die Sache verhält sich genau umgekehrt. Die Londoner Resolution wurde angenommen, weil dem Kongress der Antrag von einem Teil der polnischen sozialpatriotischen Bewegung, nämlich der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) vorgelegt und beansprucht wurde, die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen als das dringlichste Anliegen des internationalen Sozialismus anzuerkennen.A Unter dem Einfluss der Kritik, die auf dem Kongress von Seiten der polnischen Sozialdemokratie vorgetragen wurde, und den Diskussionen, die im Zusammenhang damit in der sozialistischen Presse stattfandenB und darüber hinaus beeinflusst von den Anfangserscheinungen einer massenhaften Arbeiterbewegung in Russland, wie der denkwürdige Streik der 40.000 Arbeiter aus der Textilindustrie in Petersburg im Mai 1896, berücksichtigte der Internationale Kongress den polnischen Antrag nicht, der sich in seiner Argumentation und seinem ganzen Charakter gegen die russische revolutionäre Bewegung richtete. Angenommen wurde dagegen die genannte „Londoner Resolution", die auf folgende Weise die Ablehnung des Antrages auf Wiederherstellung Polens bedeutete. „Der Kongress erklärt," – so lautet die Resolution – „dass er für volles Selbstbestimmungsrecht aller Nationen eintritt und mit den Arbeitern jeden Landes sympathisiert, das gegenwärtig unter dem Joche des militärischen, nationalen oder anderen Despotismus leidet, er fordert die Arbeiter aller dieser Länder auf, in die Reihen der klassenbewussten Arbeiter der ganzen Welt zu treten, um mit ihnen gemeinsam für die Überwindung des internationalen Kapitalismus und die Durchsetzung der Ziele der internationalen Sozialdemokratie zu kämpfen." Wie wir sehen, beinhaltet diese Resolution anstelle eines ausschließlich die polnische Frage berücksichtigenden Satzes eine Verallgemeinerung, die auf alle unterdrückten Völker zutrifft, indem sie die Frage von der nationalen auf die internationale Ebene verschiebt, und anstelle des bestimmten, völlig konkreten Postulats praktischer Politik – der Wiederherstellung eines unabhängigen Polen, wie sie der Antrag der PPS forderte – drückt diese Resolution ein allgemeines sozialistisches Prinzip aus: die Sympathie für das Proletariat aller unterdrückten Nationen und die Anerkennung ihres Rechtes auf Selbstbestimmung, Es steht völlig außer Zweifel, dass dieses Prinzip vom Kongress nicht in dem Gedanken formuliert wurde, als wäre hiermit der internationalen Arbeiterbewegung eine praktische Lösung des Nationalitätenproblems in die Hände gelegt. Im Gegenteil, der praktische Hinweis auf sozialistische Politik liegt in der Londoner Resolution ausdrücklich nicht im ersten Teil des Zitats, sondern nur im zweiten, der „die Arbeiter aller dieser Länder auffordert" (die nationale Unterdrückung erleiden), in die Reihen der internationalen Sozialdemokratie einzutreten und an der Verwirklichung ihrer Grundsätze und Ziele zu arbeiten. Es wird damit eindeutig unterstrichen, dass der Grundsatz aus dem ersten Teil der Resolution, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, nur auf diese Weise, d. h. erst auf dem Wege über die Realisierung der Grundsätze und Ziele des internationalen Sozialismus, und erst nachdem das Endziel erreicht ist, Wirklichkeit werden kann. Da, wie wir also sehen, keine der sozialistischen Parteien die Londoner Resolution als praktische Lösung der Nationalitätenfrage aufgefasst hat, so haben sie sie auch nicht in dieser Form in ihre Programme aufgenommen. Selbst die österreichische Sozialdemokratie nicht, deren Existenz von einer Klärung der Nationalitätenfrage abhing, jedoch hat sie 1899 selbständig für sich das schon zitierte praktische „Nationalitätenprogramm" aufgestellt. Besonders charakteristisch ist, dass sogar die PPS die Resolution nicht aufnahm, obwohl sie sich um eine erweiterte Fassung bemühte, als ob die Londoner Resolution eine Formel „im Geiste" des Sozialpatriotismus wäre, dabei war es doch offensichtlich, dass diese Resolution eher einer Ablehnung des Antrags auf Wiederherstellung Polens gleichkommt oder aber ihn wenigstens durch eine allgemein gehaltene Formel ohne praktische Züge völlig verwässert.C In der Tat haben die politischen Programme der modernen Arbeiterparteien nicht das Ziel, abstrakte Prinzipien eines sozialistischen Ideals zu verkünden, sondern nur das, die praktischen gesellschaftlichen und politischen Reformen zu formulieren, deren das aufgeklärte Proletariat bedarf und die es in der bürgerlichen Gesellschaft beansprucht, um den Klassenkampf und seinen Endsieg zu erleichtern. Die Postulate eines politischen Programms sind für dieses bestimmte Ziel formuliert, damit sie auf der Grundlage des bürgerlichen Systems unmittelbar, praktisch und ausführbar eine Lösung der brennenden gesellschaftlichen und politischen Probleme ermöglichen, die in den Bereich des proletarischen Klassenkampfes fallen, damit sie als Anweisung für die tägliche politische Praxis und ihre Bedürfnisse dienen, damit sie die politische Aktion der Arbeiterpartei veranlassen und in die entsprechende Richtung lenken, und damit sie schließlich die revolutionäre Politik des Proletariats von der Politik der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien abgrenzen. Es ist wohl klar, dass die Formel vom „ Selbstbestimmungsrecht der Nationen" ganz und gar nicht diesen Charakter besitzt. Sie gibt keine einzige praktische Anweisung zur täglichen politischen Praxis des Proletariats, keinen einzigen praktischen Lösungsvorschlag zu Nationalitätenfragen. Diese Formel zeigt zum Beispiel dem russischen Proletariat nicht, wie es die Klärung der nationalen Sache Polens fordern soll, wie diejenige Finnlands, des Kaukasus, die jüdische usw., sie stellt eher nur eine unbegrenzte Ermächtigung für alle interessierten „Nationen" dar, die nationalen Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken zu lösen. Die einzige praktische Folgerung, die sich aus der obigen Formel für die tägliche politische Praxis der Arbeiterklasse ziehen lässt, ist die Anweisung zum verpflichtenden Kampf gegen alle Erscheinungen nationaler Unterdrückung. Wenn wir das Recht einer jeden Nation auf Selbstbestimmung anerkennen, so müssen wir logischerweise natürlich jede Art der Bevormundung einer Nation, das gewaltsame Aufdrängen dieser oder jener nationalen Existenzform durch eine andere Nation, verdammen. Dennoch leitet sich die Verpflichtung zum Protest und zur Bekämpfung der nationalen Unterdrückung für die Klassenpartei des Proletariats durchaus nicht von einem besonderen „Recht der Nationen" her, genauso wenig, wie sich z. B. ihre Bestrebung nach einer gesellschaftlichen und politischen Gleichberechtigung der Geschlechter aus einem besonderen „Recht der Frauen" herleitet, auf das sich die Bewegung der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen beruft, die Verpflichtung kann nur abgeleitet werden aus dem allgemeinen Gegensatz zum Klassensystem, zu jeglicher Form von gesellschaftlicher Ungleichheit und Herrschaft, mit einem Wort, aus dem grundsätzlichen Standpunkt des Sozialismus. Aber abgesehen davon ist die erwähnte Anweisung für die praktische Politik schlichtweg von negativem Charakter. Die Verpflichtung, sämtliche Formen von nationaler Unterdrückung zu bekämpfen, beinhaltet durchaus noch keine Aufklärung darüber, nach welchen Verhältnissen und zu welchen politischen Formen das bewusste Proletariat in Russland zum gegenwärtigen Zeitpunkt streben soll, um die polnischen, lettischen, jüdischen u. a. nationalen Angelegenheiten zu bereinigen, welches Programm im heutigen Kampf der Klassen und Parteien den verschiedenen bürgerlichen, nationalistischen und pseudosozialistischen Programmen entgegengestellt werden soll. Mit einem Wort, die Formel vom „Selbstbestimmungsrecht der Nationen" ist im Grunde kein politischer und programmatischer Hinweis für die Behandlung der Nationalitätenfrage, sondern gewissermaßen ein Ausweichen vor dieser Frage. II Schon der unbestimmte und schablonenhafte Charakter von Punkt neun im Programm der Sozialdemokratischen Partei Russlands zeigt, dass auf diese Weise eine Frage zu erledigen, dem marxistischen Sozialismus fremd ist. Ein „Recht der Nationen", das sich mit gleichem Recht auf alle Länder und Zeiten bezieht, ist nichts anderes als eine metaphysische Phrase von der Art der „Menschenrechte" und der „Bürgerrechte". Der dialektische Materialismus als Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus hat ein für alle Mal mit derartigen „ewig gültigen" Formeln gebrochen. Denn die historische Dialektik zeigte, dass es „ewige" Wahrheiten und also auch „Rechte" nicht gibt, dass nach den Worten von Engels „das, was hier und jetzt gut ist, zu anderer Zeit und an anderem Ort schlecht sein kann und umgekehrt", und das, was sich unter bestimmten Umständen als gerecht und vernünftig erweist, unter anderen ungerecht und unsinnig wird. Dagegen belehrte uns der historische Materialismus, dass über den realen Inhalt solch „ewiger" Wahrheiten, Rechte und Formeln in jedem Falle nichts anderes entscheidet als die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse einer gegebenen Umwelt und einer gegebenen historischen Epoche. Von diesem Standpunkt aus revidiert der wissenschaftliche Sozialismus den gesamten, von der Bourgeoisie ererbten Schatzkasten demokratischer Phrasen und ideologischer Metaphysik. Für die heutige Sozialdemokratie sind solch hübsche Dinge wie „Demokratie", „bürgerliche Freiheit", „Gleichheit" und ähnliches mehr seit langem keine Wahrheiten und Rechte mehr, die, erhaben über Menschen und Zeiten, über allen Wolken schweben. Im Gegenteil, der Marxismus prüft und behandelt solche Ausdrücke einzig und allein als Ausdrücke gewisser spezifischer historischer Verhältnisse, als Kategorien, die in ihrem materiellen Inhalt und also auch in ihrem politischen Wert ewiger Veränderung unterliegen, die im Sinne des Marxismus die alleinige „ewige" Wahrheit ist. Wenn Napoleon oder andere Despoten dieser Sorte sich des Plebiszites, dieser radikalen Form der politischen Demokratie, für die Ziele des Cäsarismus bedienen und damit die politische Dumpfheit und ökonomische Abhängigkeit der Volksmasse ausnützen, so zögern wir nicht, mit aller Entschiedenheit gegen diese „Demokratie" aufzutreten, denn wir sind keineswegs von der majestätischen Allmacht des Volkes verwirrt, die den Metaphysikern der bürgerlichen Demokratie so etwas wie einen unantastbaren Götzen bedeutet. Wenn der Deutsche Tessendorf4, ein zaristischer Gendarm oder ein „wahrer polnischer" Volksdemokrat die „persönliche Freiheit" von Streikbrechern verteidigt und sie vor dem moralischen und materiellen Druck der organisierten Arbeiter beschützt, so zögern wir keinen Augenblick, uns für die letztgenannten auszusprechen, weil wir ihnen das absolute, sowohl moralische als auch historische Recht einräumen, ihre unaufgeklärten Konkurrenten zur Solidarität zu zwingen, wenngleich vom Gesichtspunkt eines formalistischen Liberalismus aus die „Arbeitswilligen" unzweifelhaft das Recht „des freien Individuums" auf ihrer Seite haben zu handeln, wie es ihnen ihr Verstand bzw. ihr Unverstand befiehlt. Wenn schließlich die Liberalen der Manchesterschule fordern, den Lohnarbeiter bei seinem Kampf mit dem Kapital im Namen der „bürgerlichen Gleichheit" völlig seinem Schicksal zu überlassen, demaskieren wir diese metaphysische Phrase, unter der sich die krasseste ökonomische Ungleichheit verbirgt, und fordern ohne Umschweife rechtsstaatlichen Schutz für die Klasse der Lohnarbeiter, wobei die formale „Gleichheit vor dem Gesetz" ausdrücklich verletzt wird. Die Nationalitätenfrage kann keine Ausnahme unter allen politischen, gesellschaftlichen und moralischen Fragen bilden, die vom modernen Sozialismus auf diese Weise untersucht werden, und es ist unmöglich, sie mit Hilfe irgendeiner unbestimmten Formel zu lösen, selbst wenn diese so schön klingt wie „das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen". Denn entweder sagt diese Formel gar nichts aus, ist eine leere und zu nichts verpflichtende Phrase, oder aber sie meint eine bedingungslose Verpflichtung der Sozialisten zur Unterstützung aller nationalen Bestrebungen – und dann ist sie ganz einfach falsch. Schon aus dem allgemeinen Grundsatz des historischen Materialismus geht hervor, dass der Standpunkt der Sozialisten hinsichtlich der Nationalitätenprobleme in jedem gegebenen Fall vor allem von den konkreten Umständen abhängt, die sich in den verschiedenen Ländern bedeutend unterscheiden und überdies im Laufe der Zeit überall bedeutenden Veränderungen unterliegen. Selbst die oberflächliche Kenntnis der Fakten genügt, um zu erkennen, dass die Frage der Nationalitätenkämpfe im Schoße der ottomanischen Pforte auf dem Balkan ein ganz anderes Aussehen, eine andere ökonomische und historische Grundlage, eine andere internationale Bedeutung und andere Zukunftsaussichten hat als die Frage des Kampfes der Irländer gegen die Herrschaft Englands. Auch die Komplikationen in den Beziehungen zwischen den Nationalitäten, aus denen Österreich sich zusammensetzt, sind ganz verschieden von den Bedingungen, welche die Ausformung der polnischen Sache beeinflussen. Genauso ändert sich in jedem Land das Gesicht der Nationalitätenfrage mit der Zeit, und dem muss eine Änderung ihrer Einschätzung folgen. Selbst unsere drei nationalen Bewegungen, angefangen beim Kosciuszkokrieg5, können nur eine dreimalige stereotype Wiederholung desselben historischen Schauspiels, nämlich des „Kampfes einer unterjochten Nation um Unabhängigkeit" darstellen, wenn man sie mit den Augen entweder des Ignoranten der heutigen sozialpatriotischen „Schule" betrachtet oder.mit denen eines Metaphysikers mit katholischer Adelsideologie vom Schlage eines Szujski6, der da glaubte, Polen habe die historische Sendung, der „Christus der Völker" zu sein. Wer tiefer unter die Oberfläche unserer drei nationalen Aufstände gräbt, mit den Instrumenten der Wissenschaft, vor allem denen des historischen Materialismus, der wird dreier gänzlich verschiedener gesellschaftspolitischer Bewegungen gewahr, die nur wegen äußerlicher Umstände jedes mal gleichsam identische Formen des Kampfes gegen die Annexion annahmen. Misst man den Kosciuszkokrieg, den November- und Januaraufstand nach ein- und demselben Maß, nämlich nach den heiligen Rechten einer „unterjochten Nation" – so beweist das den Mangel jeglichen Einschätzungsvermögens und das Fehlen jeglicher historischer und politischer Kritikfähigkeit. Wie die Veränderung von historischen Bedingungen den Standpunkt der Sozialisten hinsichtlich der Nationalitätenfragen und deren Einschätzung beeinflusst, kann am Beispiel der sog. Orientfrage grell beleuchtet werden. Zur Zeit des Krimkrieges 1855 gehörten die Sympathien des gesamten demokratischen und sozialistischen Europa der Türkei und richteten sich gegen die Freiheitsbestrebungen der Südslawen. Das „Recht" aller Nationen auf Freiheit hinderten Marx, Engels und Liebknecht durchaus nicht, den Balkanslawen feindselig zu begegnen und entschieden die Einheit der Türkei zu unterstützen. Denn sie beurteilten die damaligen nationalen Bewegungen der slawischen Stämme innerhalb der Türkei nicht vom Gesichtspunkt irgendwelcher sentimentaler „ewiger" Formeln des Liberalismus, sondern von den materiellen Verhältnissen her, die ihrer damaligen Auffassung gemäß den Inhalt jener nationalen Bewegungen bildeten. Da sie in den gesellschaftlich reaktionären Freiheitsbestrebungen der Balkanslawen nur die Machenschaften des russischen Zarentums sahen, das auf eine Zerrüttung der Türkei hinarbeitete, ordneten Marx und Engels ohne zu zögern die nationale Freiheit der Slawen den Interessen der europäischen Demokratie unter und beharrten auf der Einheit der Türkei als Schutzwall gegen die russische Reaktion. Diese Politik hielt sich bei der deutschen Sozialdemokratie als Tradition bis in die Mitte der neunziger Jahre, als der greise Wilhelm Liebknecht anlässlich des Kampfes der türkischen Armenier noch in diesem Geiste Stellung bezog. Aber gerade um diese Zeit kehrte sich der Standpunkt der deutschen und internationalen Sozialdemokratie hinsichtlich der Orientfrage genau in die entgegengesetzte Richtung um. Die Sozialdemokratie begann, die in der Türkei unterdrückten Nationalitäten, die die Voraussetzungen ihrer kulturellen Existenz in dieser oder jener Form zu erobern strebten, offen zu unterstützen und warf jegliche Sorge um eine künstliche Erhaltung der Einheit über Bord. Auch dieses Mal ließ sie sich durchaus nicht von dem Gefühl einer Verpflichtung gegenüber Armeniern und Mazedoniern als unterjochten Nationen leiten, sondern vor allem von der Analyse der materiellen Basis der Verhältnisse im Orient seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Nachdem die Sozialdemokratie in diesem Fall, wie in allen anderen Fragen, durch Analyse zu der Überzeugung gekommen war, dass der politische Verfall der Türkei die Folge ihrer ökonomisch-politischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei, dass darüber hinaus die derzeitige Konservierung der Türkei den Interessen der reaktionären Diplomatie des russischen Absolutismus entspräche, stellte sie sich nicht der objektiven Entwicklung entgegen, sondern dieser entsprechend und ihre Ergebnisse nützend, nimmt sie die europäischen Interessen der Zivilisation wahr, vor allem durch die Unterstützung der nationalen Bewegungen in der Türkei und genauso auch durch die Unterstützung aller der Bestrebungen, die zur Erneuerung und Reformierung der Türkei von innen heraus führen, wie schwach auch die gesellschaftlichen Grundlagen dafür sein mögen. Das genau entgegengesetzte Verhältnis von Marx und Engels während der Revolution von 1848 gegenüber den Forderungen des tschechischen und polnischen Volkes liefert ein in die gleiche Richtung gehendes zweites Beispiel. Es unterliegt keinem Zweifel, dass gemäß dem „Selbstbestimmungsrecht der Nationen" die Tschechen keinen geringeren Anspruch auf Unterstützung seitens der europäischen Demokraten und Sozialisten haben konnten als die Polen. Marx jedoch, der dieser abstrakten Formel nicht die geringste Beachtung schenkte, verdammte damals die Tschechen samt ihren Freiheitsbestrebungen, da er diese für eine schädliche Komplizierung der revolutionären Situation hielt, und dies verdiente um so mehr eine scharfe Verurteilung, als die Tschechen, Marx zufolge, eine aussterbende und zum baldigen Untergang verurteilte Nationalität waren. Diese Ansichten verkündeten die Schöpfer des „Kommunistischen Manifestes" zur gleichen Zeit, als sie mit aller Kraft die Nationalbewegung der Polen verteidigten und alle fortschrittlichen und revolutionären Kräfte zur Hilfe für unsere Patrioten aufriefen. Mit welch nüchternem Realismus, frei von jeglicher Sentimentalität, Marx die nationalen Probleme während dieser Revolution untersuchte, zeigt sich vor allem daran, wie er die polnische und tschechische Frage behandelte. „Da mit der Revolution von 1848", schreibt Marx über diese Revolution in seinen Artikeln für die amerikanische Zeitschrift „Daily Tribüne", erschienen 1851 und 1852, „die unterdrückten Nationen sofort den Anspruch auf selbständige Existenz und auf das Recht erhoben, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, war es ganz natürlich, dass die Polen ohne weiteres die Wiederherstellung ihres Staates innerhalb der Grenzen der alten polnischen Republik vor 1772 forderten. Zwar war diese Grenze als Trennungslinie zwischen der deutschen und polnischen Nationalität schon zu jener Zeit überholt und entsprach ihr mit fortschreitender Germanisierung von Jahr zu Jahr immer weniger; aber nun hatten die Deutschen eine solche Begeisterung für die Wiederherstellung Polens an den Tag gelegt, dass sie erwarten mussten, man werde als ersten Beweis für die Echtheit der Sympathien den Verzicht auf ihren Anteil an der Beute verlangen. Andrerseits musste man sich fragen, sollten ganze Landstriche, hauptsächlich von Deutschen bewohnt, sollten große, völlig deutsche Städte einem Volk überlassen werden, das bisher noch nicht bewiesen hatte, dass es fähig sei, sich über einen auf bäuerlicher Leibeigenschaft beruhenden Feudalzustand hinaus zu entwickeln? Die Frage war verwickelt genug. Die einzig mögliche Lösung lag in einem Kriege mit Russland Dadurch wäre die Frage der Abgrenzung zwischen den verschiedenen revolutionierten Nationen untereinander zu einer sekundären geworden gegenüber der Aufgabe, erst eine gesicherte Grenze gegen den gemeinsamen Feind zu schaffen. Hätten die Polen ausgedehnte Gebiete im Osten erhalten, so hätten sie über den Westen eher ein vernünftiges Wort mit sich reden lassen, und Riga und Mitau wären ihnen schließlich ebenso wichtig erschienen wie Danzig und Elbing. Die radikale Partei in Deutschland, die einen Krieg mit Russland im Interesse der Bewegung auf dem Kontinent für notwendig hielt und glaubte, dass die nationale Wiederherstellung auch nur eines Teils von Polen unbedingt zu einem solchen Krieg führen würde, unterstützte daher die Polen; die regierende liberale Bourgeoispartei dagegen sah klar voraus, dass ein nationaler Krieg gegen Russland zu ihrem Sturze führen musste, da er Männer von größerer Tatkraft und Entschiedenheit ans Ruder bringen würde, heuchelte deshalb Enthusiasmus für die Erweiterung des Bereichs der deutschen Nation und erklärte Preußisch-Polen, den Hauptsitz der polnischen revolutionären Bewegung, zum integrierenden Bestandteil des kommenden deutschen Reiches."7 Mit nicht geringerem politischen Realismus behandelt Marx die tschechische Frage: „Die Nationalitätenfrage rief noch einen weiteren Kampf in Böhmen hervor. Dieses Land, bewohnt von zwei Millionen Deutschen und drei Millionen Slawen tschechischer Zunge, schaute auf große historische Ereignisse zurück, die fast alle mit der früheren Vorherrschaft der Tschechen zusammenhingen. Seit den Hussitenkriegen im fünfzehnten Jahrhundert ist aber die Kraft dieses Zweigs der slawischen Völkerfamilie gebrochen. Die Gebiete tschechischer Sprache waren auseinandergerissen, ein Teil bildete das Königreich Böhmen, ein anderer das Fürstentum Mähren; ein dritter, das karpatische Bergland der Slowaken, gehörte zu Ungarn. Die Mähren und Slowaken hatten längst jede Spur nationalen Empfindens und nationaler Lebenskraft verloren, obgleich sie ihre Sprache größtenteils bewahrten. Böhmen war auf drei Seiten von rein deutschen Gebieten umgeben. In Böhmen selbst hatte das deutsche Element große Fortschritte gemacht; sogar in der Hauptstadt, in Prag, hielten sich die beiden Nationalitäten so ziemlich die Waage, und allenthalben befanden sich Kapital, Handel, Industrie und geistige Kultur in den Händen der Deutschen. Der Hauptkämpe der tschechischen Nationalität, Professor Palacky, ist selbst nur ein übergeschnappter deutscher Gelehrter, der bis auf den heutigen Tag die tschechische Sprache nicht korrekt und ohne fremden Akzent sprechen kann. Aber wie das häufig der Fall ist, machte die im Absterben begriffene tschechische Nationalität – im Absterben nach allen bekannten Tatsachen ihrer Geschichte in den letzten vierhundert Jahren – 1848 eine letzte Anstrengung, ihre frühere Lebenskraft wiederzuerlangen, eine Anstrengung, deren Scheitern, unabhängig von allen revolutionären Erwägungen, beweisen sollte, dass Böhmen künftig nur mehr als Bestandteil Deutschlands existieren könne, wenn auch ein Teil seiner Bewohner noch auf Jahrhunderte hinaus fortfahren mag, eine nichtdeutsche Sprache zu sprechen." Wir führen die obigen Absätze an, um die Methode zu betonen, an die sich Marx und Engels hinsichtlich der Nationalitätenfrage hielten, eine Methode, die sich nach keinerlei abstrakten Formeln richtet, sondern einzig und allein nach den realen Verhältnissen eines jeden einzelnen Falles. Diese Methode bewahrte sie schließlich durchaus nicht vor einer fehlerhaften Einschätzung der Situation oder einem irrigen Standpunkt in diesem oder jenem Fall. Die heutige Sachlage beweist, wie sehr Marx sich irrte, als er vor sechzig Jahren den Untergang der tschechischen Nationalität, von deren Vitalität Österreich gegenwärtig immer stärkere Anzeichen zu spüren bekommt, voraussagte – und umgekehrt – wie sehr er sich irrte, als er die internationale Bedeutung des polnischen Nationalismus überschätzte, der wegen der schon damals beginnenden inneren Entwicklung Polens zum Untergang verurteilt war. Aber die historischen Irrtümer nehmen der Marxschen Methode kein bisschen von ihrem Wert, und es gibt auch ganz allgemein keine Methode der Forschung, die sich von vorneherein gegen fehlerhafte Anwendung im Einzelfall zu schützen vermöchte. Marx selbst erhob nie den Anspruch auf Unfehlbarkeit, und nichts widerspricht dem Geist seiner Lehre so sehr wie unfehlbare historische Urteile letzter Instanz. Marx konnte sich irren in seiner Haltung gegenüber diesen oder jenen nationalen Bewegungen, und die Autorin dieser Schrift bemühte sich schon 1896 und 1897 zu zeigen, dass die Marxsche Ansicht über die polnische Frage und auch über die Orientfrage irrig und veraltet sei. Aber gerade die frühere Haltung von Marx und Engels gegenüber den Türken und Südslawen sowie gegenüber der nationalen Bewegung der Tschechen und Polen zeigt nachdrücklich, wie weit die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus davon entfernt waren, alle Nationalitätenfragen nach einem einzigen Muster zu lösen, nach einer von vorneherein fertigen Schablone und außerdem, wie wenig sie sich um metaphysische „Rechte" der Völker scherten, wenn es um handfeste, materielle Angelegenheiten der europäischen Entwicklung ging. Schließlich liefert ein noch grelleres Beispiel, wie die nationale Frage von den Schöpfern der modernen sozialistischen Politik behandelt wurde, ihre schon ganz historische Beurteilung der Freiheitsbewegung der Helvetier im 14. Jahrhundert, die von Ansichten und Leidenschaften der aktuellen Politik unbeeinflusst ist. Jener Aufstand der Schweizer Kantone gegen die blutige Unterdrückung des Habsburger Despotismus, der in Gestalt des historischen Mythos von Teil Gegenstand unendlicher Bewunderung bei der liberal-bürgerlichen idealistischen Romantik war, wurde von Friedrich Engels 1847 auf folgende Weise beurteilt: „Der Kampf der Urschweizer gegen Österreich, der glorreiche Eid auf dem Grütli, der heldenmütige Schuss Tells, der ewig denkwürdige Sieg von Morgarten, alles das war der Kampf störrischer Hirten gegen den Andrang der geschichtlichen Entwicklung, der Kampf der hartnäckigen, stabilen Lokalinteressen gegen die Interessen der ganzen Nation, der Kampf der Rohheit gegen die Bildung, der Barbarei gegen die Zivilisation. Sie haben gegen die damalige Zivilisation gesiegt, zur Strafe sind sie von der ganzen weiteren Zivilisation ausgeschlossen worden." Zu dieser Beurteilung gibt Kautsky seinerseits den folgenden Kommentar: „Aber man darf dabei höchstens zur zivilisatorischen Mission der Habsburger des vierzehnten Jahrhunderts in der Schweiz ein Fragezeichen machen. Dagegen ist es sicher, dass die Erhaltung der Kantönlifreiheit ein höchst konservatives, durchaus nicht revolutionäres Ereignis war und mit der Zeit zu einem Mittel wurde, einen Herd der schwärzesten Reaktion im Zentrum Europas zu konservieren. Es waren die Urkantone, die in der Schlacht bei Kappel 1531 Zwingli mit seinem Heere schlugen und dem Fortschreiten des Protestantismus in der Schweiz eine Schranke setzten. Sie waren es dann, die jedem europäischen Despoten ihre Truppen lieferten, die treuesten Verteidiger Ludwigs XVI. gegen die Revolution, wofür ihnen die Republik in Luzern das bekannte Denkmal gesetzt."8 Vorn Standpunkt „des Selbstbestimmungsrechts der Nationen" verdient der helvetische Aufstand natürlich in jeder Hinsicht die Sympathie der Sozialisten. In diesem Fall unterliegt es keinerlei Zweifel, dass die Bestrebung, das Joch der Habsburger abzuschütteln, wesentlicher Ausdruck des „Volks"willens war, was die enorme Anzahl der Beteiligten beweist; die Nationalbewegung der Helvetier zeichnet sich durch ihren rein defensiven Charakter aus, weil sie keinerlei Tendenz aufwies, andere Nationalitäten zu unterwerfen, sondern einzig und allein geführt wurde, um sich von einer wahrlich fremdherrschaftlichen Unterdrückung, einer dynastischen Annexion zu befreien. Außerdem war diese nationale Bewegung formal durch alle äußeren Merkmale der Demokratie und sogar des Revolutionären gekennzeichnet, da sie sich mit den Losungen für eine Volksrepublik gegen ein absolutes Regime auflehnte. Im krassen Gegensatz zu dieser Bewegung steht der Volksaufstand der Ungarn 1848, nur dass das historische Ergebnis aus dem Sieg der Ungarn, wie man bei den gesellschaftlichen und nationalen Verhältnissen in diesem Land leicht vorhersehen konnte, die Sicherung der ungeteilten Herrschaft einer magyarischen Minderheit über eine zusammengewürfelte Mehrheit fremder, unterworfener Völker war. Der Vergleich beider Kämpfe um nationale Unabhängigkeit – der ungarische 1848 und der helvetische fünf Jahrhunderte früher – ist darin besonders bemerkenswert, dass alle beide gegen ein und denselben Feind, gegen den Absolutismus der österreichischen Habsburger, gerichtet waren. Dadurch tritt bei diesem Vergleich und auf diesem gemeinsamen Hintergrund die besondere Methode, der besondere Blickwinkel in der nationalen Politik von Marx und Engels deutlicher zutage. Trotz aller äußeren Zeichen des Revolutionären der Schweizer Bewegung kritisierten die Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus den Aufstand der Helvetier aufs Schärfste als reaktionäre Erscheinung, während sie den ungarischen Aufstand 1848 wärmstens unterstützten, trotz des zweifellos recht zweischneidigen Charakters der ungarischen Bewegung, der sich überdies deutlich im Lakaienwesen zu erkennen gab, mit dem die ungarischen Revolutionäre der Wiener Regierung halfen, die italienische Revolution zu ersticken. Marx und Engels ließen sich folglich in beiden Fällen sicher nicht von der Formel vom „Selbstbestimmungsrecht der Nationen" leiten, das natürlich den Helvetiern in höherem Maße zustand als den Magyaren, sondern nur von der realistischen Analyse der Bewegung aus historischer und politischer Sicht. Der Aufstand der zersplitterten bäuerlichen Kantone mit ihrem Partikularismus im 14. Jahrhundert gegen die zentralistische Macht der Habsburger war in den Augen von Engels in dem Maße eine historisch reaktionäre Erscheinung, in dem der dem Zentralismus zustrebende Absolutismus der Fürstenherrschaft, der die Länder zusammenschloss, damals gerade ein Faktor des historischen Fortschritts war. Beiläufig sei noch erwähnt, dass Lassalle unter ähnlichem Gesichtspunkt die Bauernkriege und parallel dazu den Aufruhr des niederen Ritteradels gegen die sich entfaltende Fürstenmacht im Deutschen Reich des 16. Jahrhunderts als reaktionäre Erscheinung wertete. Dagegen war 1848 der Habsburger Absolutismus nur noch ein reaktionäres Überbleibsel aus dem Mittelalter, und der gegen ihn gerichtete nationale Aufstand der Ungarn, als natürlicher Verbündeter der innerdeutschen Revolution, musste aus der Natur der Sache als Faktor des historischen Fortschritts anerkannt werden. III Im Übrigen stimmt es keineswegs, wie es vielleicht scheinen könnte, dass Marx und Engels mit ihrem Standpunkt dem Partei- oder Klassenegoismus huldigten oder alle Völker den Bedürfnissen und Anschauungsweisen der westeuropäischen Demokratie aufopferten. Natürlich, wenn die Sozialisten eine allgemeine und weltweite Amnestie der Freiheit für alle im Augenblick unterdrückten Völker ausriefen, so klänge das weit edelmütiger und würde die lebhafte Phantasie der jungen Intelligenz viel eher umschmeicheln. Eine solche Neigung aber, alle Völker, Länder und Gruppen und jede menschliche Kreatur mit dem Recht auf Freiheit, Gleichheit und ähnlichen Glücksgütern durch einen einzigen raschen Federstrich auszustatten, kennzeichnet gerade das Jugendalter der sozialistischen Bewegung, am besten aber die phrasenhafte Angeberei des Anarchismus. Der Sozialismus der modernen Arbeiterklasse, nämlich der wissenschaftliche, gefällt sich nicht in möglichst radikal und großmütig klingenden Lösungen für gesellschaftliche und nationale Fragen, er untersucht vor allem ihre realen Bedingungen. Durch „Edelmütigkeit" ihrer programmatischen Lösungen zeichnet sich die Sozialdemokratie keineswegs aus, und in dieser Hinsicht übertreffen sie stets sozialistische Parteien, die an wissenschaftliche „Doktrinen" nicht gebunden sind und deshalb die herrlichsten Geschenke für alle nur so aus dem Ärmel schütteln. So lässt zum Beispiel in Russland die Sozialrevolutionäre Partei die Sozialdemokratie weit hinter sich in der Agrarfrage, denn sie verfügt über ein einfaches Rezept für die Bauern, teilweise unverzüglich den Sozialismus auf dem Lande einzuführen, ohne langweilige Warterei auf Bedingungen in der industriellen Produktion für einen solchen Umbruch. Im Vergleich zu solchen Parteien ist die Sozialdemokratie eine armselige Partei und wird es auch immer bleiben, genauso wie Marx zu seiner Zeit armselig war im Vergleich zum großzügigen und edelmütigen Bakunin, oder auch Marx und Engels im Vergleich zu den Repräsentanten des „wahren" oder „philosophischen" Sozialismus. Aber das Geheimnis dieser Edelmütigkeit all der Sozialisten anarchistischer Färbung und das der Armseligkeit der Sozialdemokratie beruht darauf, dass die anarchistische Sorte der Revolutionäre „ihre Kräfte an den Absichten und nicht die Absichten an den Kräften" misst, dass sie ihre Bestrebungen einzig nach dem ausrichtet, was ihr spekulativer und im leeren Raum der Utopie spekulierender Verstand für „gut" und „unerlässlich" hält zur Erlösung der Menschheit, während die Sozialdemokratie mit ihren Bestrebungen völlig auf historischem Boden steht und deshalb mit historischen Möglichkeiten rechnet. Der marxistische Sozialismus unterscheidet sich unter anderem von allen anderen „Sozialismen" dadurch, dass er nicht mit dem Anspruch auftritt, alle durch die historische Entwicklung entstandenen Löcher stopfen zu können. Selbst wenn wir, sogar als Sozialisten, sofort das Recht aller Nationen auf Unabhängigkeit anerkennten, so änderte sich zweifellos kein Jota am faktischen Schicksal der Nationen. Das „Recht" einer Nation auf Freiheit wie das „Recht" eines Arbeiters auf ökonomische Unabhängigkeit sind unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen an und für sich genauso viel wert wie jenes „Recht" eines jeden Menschen, von goldenen Tellern zu essen, von dem schon Nikolaj Tschernyschewski schrieb, dass er bereit sei, es jederzeit gegen Rubel zu verkaufen. In den vierziger Jahren war die Verkündigung vom „Recht auf Arbeit" bei den damaligen utopischen Sozialisten Frankreichs ein beliebtes Postulat, es diente dazu, auf schnelle und radikale Art die soziale Frage zu lösen. Aber dieses „Recht" endete in der Revolution von 1848 nach recht kurzem Versuch in einem schrecklichen Fiasko, das sich selbst dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn die berühmt-berüchtigten „Nationalwerkstätten" völlig anders organisiert gewesen wären. Die Analyse der wirklichen Verhältnisse der heutigen Wirtschaft, wie sie Marx in seinem „Kapital" gab, musste zu der Überzeugung führen, dass, selbst wenn es gelänge, aus den heutigen Regierungen ein allgemeines „Recht auf Arbeit" herauszupressen, dies eine wohltönende Phrase bliebe, und kein einziger der auf der Straße sitzenden niedersten Soldaten aus der industriellen Reservearmee könnte mit diesem Recht allein die Münder seiner hungrigen Kinder stopfen. Heute weiß die Sozialdemokratie, dass dieses „Recht auf Arbeit" erst dann aufhört eine leere wohltönende Formel zu sein, wenn das kapitalistische System beseitigt sein wird, in dem der chronische Arbeitsmangel für einen bestimmten Teil des Industrieproletariats unerlässliche Produktionsbedingung ist. Infolgedessen verkündet die Sozialdemokratie kein solch imaginäres „Recht", fordert es auch nicht im bestehenden System, sondern versucht vielmehr, dieses System durch den Klassenkampf abzuschaffen, und weist nur auf Gewerkschaften, Arbeitslosenversicherung u. a. m. als vorläufige Hilfsmittel hin. Genauso ist die Hoffnung, alle Nationalitätenfragen im Rahmen des Kapitalismus zu lösen, indem man allen Nationen, Sippen und Stämmen die Möglichkeit zur „Selbstbestimmung" zurückgibt oder zusichert, vollständig utopisch. Und das nicht, weil das äußere Kräfteverhältnis im politischen Bereich, zwischen den Klassen, so manche Forderung im politischen Programm der Sozialdemokratie faktisch undurchführbar macht. So haben zum Beispiel ernst zu nehmende Stimmen aus den Reihen der internationalen Arbeiterbewegung überzeugend erklärt, dass das Postulat, einen allgemeinen achtstündigen Arbeitstag auf rechtlichem Wege einzuführen, in einer bürgerlichen Gesellschaft keine Aussicht auf Verwirklichung hat, wenn man beobachtet, wie die gesellschaftliche Reaktion der herrschenden Klassen immer mehr zunimmt, die sozialen Reformen allgemein zum Stillstand kommen, mächtige Vereinigungen des Unternehmertums entstehen u. a. m. Trotzdem entschließt sich niemand dazu, das Postulat des achtstündigen Arbeitstages utopisch zu nennen, denn es entspricht genau der fortschreitenden Entwicklung in dieser bürgerlichen Gesellschaft. Sofort allen ethnischen Gruppen oder den so oder anders definierten „Nationalitäten" die Möglichkeit einer faktischen „Selbstbestimmung" zurückzugeben, ist gerade im Hinblick auf den historischen Entwicklungsverlauf der heutigen Gesellschaften utopisch. Wir wollen den Blick nicht auf jene längst vergangenen Zeiten richten, als am Anfang der Geschichte der modernen Staaten die Nationalitäten fortwährend Umgruppierungen nach dieser oder jener Seite unterlagen, sich verbanden, miteinander verschmolzen, sich wieder trennten, sich gegenseitig mit Füßen traten, sei es wie es sei, Tatsache ist, dass alle damaligen Staaten ohne Ausnahme sich hinsichtlich der Nationalitäten zu überaus gemischten Gebilden entwickelt haben, eine Folge der langen und mit politischen und ethnischen Umbrüchen angefüllten Geschichte. Sichtbares historisches Dokument dieser Umbrüche sind jene zahlreichen ethnischen Überreste, die in jedem zeitgenössischen Staat für die ganze Masse der Nationalitäten vom alles zertrampelnden Vormarsch der historischen Entwicklung Zeugnis ablegen. Marx stellte schon zu seiner Zeit fest, dass diese nationalen Splittergruppen heute berufen sind, als Stütze der Konterrevolution zu dienen, solange nicht eine Revolution oder ein Weltkrieg sie wie ein großer Orkan vollständig vom Erdboden hinwegfegt. „Es ist kein Land in Europa", schrieb er in der „Neuen Rheinischen Zeitung", „das nicht in irgendeinem Winkel eine oder mehrere Völkerruinen besitzt, Überbleibsel einer früheren Bewohnerschaft, zurückgedrängt und unterjocht von der Nation, welche später Trägerin der geschichtlichen Entwicklung wurde. Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedes Mal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist. So in Schottland die Gälen, die Stützen der Stuarts von 1640 bis 1875. So in Frankreich die Bretonen, die Stützen der Bourbonen von 1792 bis 1800. So in Spanien die Basken, die Stützen des Don Carlos. So in Österreich die panslawistischen Südslawen, die weiter nichts sind als der Völkerabfall einer höchst verworrenen tausendjährigen Entwicklung." In einem anderen Artikel, der die panslawistischen Selbständigkeitsbestrebungen aller slawischer Völker behandelt, schreibt Marx: „… die Deutschen und Magyaren (schlugen) zu der Zeit, als überhaupt in Europa die großen Monarchien eine „historische Notwendigkeit" wurden, alle diese kleinen, verkrüppelnden, ohnmächtigen Natiönchen zu einem großen Reich (zusammen) und (befähigten) sie dadurch, an einer geschichtlichen Entwicklung teilzunehmen, der sie, sich überlassen, gänzlich fremd geblieben wären! …Jetzt aber ist die politische Zentralisation infolge der gewaltigen Fortschritte der Industrie, des Handels, der Kommunikationen noch ein viel dringenderes Bedürfnis geworden als damals im 15. und 16. Jahrhundert. Was sich noch zu zentralisieren hat, zentralisiert sich." Wir sind seit langem von der damaligen Marxschen Ansicht über die Südslawen abgewichen, aber es bleibt die allgemeine Tatsache bestehen, dass die historische Entwicklung, besonders die moderne kapitalistische Entwicklung, nicht dahin tendiert, jeder Nation ihre selbständige Existenz zurückzugeben, sondern eher in die entgegengesetzte Richtung, und dies ist heute genauso anerkannt wie zu Zeiten der „Neuen Rheinischen Zeitung". Karl Kautsky skizziert in seiner neuesten Abhandlung „Nationalität und Internationalität" auf folgende Weise das historische Los der Nationalitäten: „Wir haben gesehen, dass die Sprache das wichtigste Mittel des gesellschaftlichen Verkehrs darstellt. In dem Maße, wie sich mit der ökonomischen Entwicklung dieser Verkehr erweitert, muss auch der Kreis derjenigen wachsen, die die gleiche Sprache sprechen. Daraus entsteht eine Tendenz einzelner Nationen, sich auszudehnen, andere Nationen in sich aufzunehmen, die ihre Sprache verlieren und eine andere Sprache annehmen, entweder die der überwiegenden Nation oder eine Mischsprache." Nach Kautsky haben sich gleichzeitig drei große Kulturgemeinschaften der Menschheit herausgebildet: die christliche, die islamische und die buddhistische. „Aber jeder dieser Kulturkreise umfasst gar mannigfache Sprachen und Nationen. Innerhalb jedes derselben ist der überwiegende Teil der Kultur nicht national, sondern international. Der Weltverkehr wirkt jedoch noch weiter. Er dehnt sich immer mehr aus und bringt allenthalben dieselbe kapitalistische Produktionsweise zur Herrschaft; … Wo eine länger dauernde innige Verkehrs- und Kulturgemeinschaft zwischen mehreren Völkern besteht, da erlangt eine Nation oder ein paar Nationen die Oberhand, durch höhere ökonomische, wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen. Ihre Sprachen werden zu solchen, die jeder Kaufmann und jeder Gebildete dieses internationalen Kulturkreises kennen muss; ihre Kultur – Wirtschaft, Kunst, Literatur – gibt der ganzen Kulturgemeinschaft ihren Charakter. Eine solche Rolle erlangten im Becken des Mittelmeers am Schlusse des Altertums das Griechische und Lateinische. In der Welt des Islam spielt sie das Arabische; im christlichen Kulturkreis – der natürlich auch Juden und Atheisten umfasst – sind Deutsch, Englisch, Französisch die Weltsprachen geworden … Möglich, dass die ökonomische und politische Entwicklung zu diesen drei Sprachen noch eine vierte als Weltsprache hinzufügt, das Russische. Aber ebenso möglich ist es, dass eine von ihnen, das Englische, zur einzigen Universalsprache wird … In der Form des Aufkommens von Weltsprachen der Kaufleute und der Gebildeten vollzieht sich der Zusammenschluss der Nationen zu internationalen Kulturgemeinschaften. Und nie ist dieser Zusammenschluss enger gewesen wie jetzt, nie ist eine rein nationale Kultur weniger möglich gewesen. Es berührt sehr eigentümlich, wenn Otto Bauer immer nur von der nationalen Kultur spricht, es als ein Ziel des Sozialismus hinstellt, die Masse des Volkes in den Besitz der nationalen Kultur zu setzen … Wenn die sozialistische Gesellschaft die Massen des Volkes zu Gebildeten macht, so wird sie ihnen auch die Möglichkeit geben, mehrere Sprachen, Weltsprachen, zu beherrschen und so der ganzen internationalen Kultur unseres Kulturkreises teilhaftig zu werden, nicht bloß der besonderen Kultur einer einzelnen nationalen Sprachengemeinschaft. Sind wir aber einmal so weit, dass die Masse der Bevölkerung unserer Kulturstaaten neben ihren nationalen Sprachen noch eine oder mehrere Weltsprachen beherrscht, dann ist auch die Grundlage gegeben zum allmählichen Zurücktreten und völligen Verschwinden zunächst der Sprachen kleinerer Nationen; zur schließlichen Zusammenfassung der gesamten Kulturmenschheit in einer Sprache und einer Nationalität, wie die Völker des östlichen Mittelmeerbeckens nach der Zeit Alexanders von Makedonien im Hellenismus zusammengefasst wurden, die des westlichen später zu einer romanischen Nationalität verschmolzen. Die Verschiedenheit der Sprachen innerhalb unseres Kulturkreises erschwert die Verständigung der Mitglieder seiner verschiedenen Nationen untereinander, wird ein Hindernis ihres kulturellen Fortschreitens. Aber nur der Sozialismus vermag dieses Hemmnis zu überwinden, und er wird lange wirken müssen, ehe es ihm gelungen ist, die gesamten Volksmassen so hoch zu bilden, dass er merkliche Fortschritte dabei macht. Heute schon aber müssen wir uns dessen bewusst sein, dass unsere Internationalität nicht eine besondere Art Nationalismus darstellt, der von dem bürgerlichen bloß dadurch unterschieden ist, dass er nicht aggressiv wirkt, wie dieser, sondern jeder Nation das gleiche Recht lässt, welches er für die eigene Nation in Anspruch nimmtD und dabei jeder die volle Souveränität zuerkennt. Diese Auffassung, die den Standpunkt des Anarchismus von den Individuen auf die Nationen überträgt, entspricht nicht der engen Kulturgemeinschaft, die zwischen den Nationen der modernen Kultur besteht. Diese bilden tatsächlich wirtschaftlich und kulturell einen einzigen Gesellschaftskörper, dessen Gedeihen auf einem harmonischen Zusammenwirken seiner Teile beruht, das nur zu erreichen ist, wenn jeder sich dem Ganzen unterordnet. Die Sozialistische Internationale bildet nicht ein Konglomerat von souveränen Nationen, von denen jede tun kann, was ihr beliebt, vorausgesetzt, dass sie die Gleichberechtigung der anderen nicht verletzt, sondern einen Organismus, der um so vollkommener funktioniert, je leichter seine Teile sich verständigen und je einmütiger sie nach gemeinsamem Plane handeln."E So sieht das historische Schema aus, das Kautsky entwarf. Er betrachtet die Sache zwar von einer anderen Seite aus als Marx, er betont hauptsächlich die kulturelle, die friedliche Seite der Entwicklung, während Marx das Gewicht auf die politische Seite legt, deren nach außen gerichtete Waffe die Eroberung ist. Beide aber beschreiben das Schicksal der Nationalitäten im Lauf der Geschichte nicht danach, ob sie sich absondern und unabhängig machen wollten, sondern genau umgekehrt. Kautsky zeigt – soweit uns bekannt ist, zum ersten mal in der sozialistischen Literatur unserer Tage – direkt die historische Tendenz, die dahin geht, die nationalen Unterschiede im sozialistischen System überhaupt zu beseitigen und die zivilisierte Menschheit in einer Nation zu verschmelzen. Zwar, so bemerkt derselbe Theoretiker, ruft die kapitalistische Entwicklung in diesen Zeiten zugleich auch Erscheinungen hervor, die dem scheinbar widersprechen: das Erwachen und die Stärkung des nationalen Bewusstseins sowie das Verlangen nach einem Nationalstaat als „die den modernen Verhältnissen entsprechendste Form des Staates, jene, in der er seine Aufgaben am leichtesten erfüllen kann".F Aber dieser „entsprechendste" Nationalstaat ist nur eine Abstraktion, die sich theoretisch leicht entwickeln und verteidigen lässt, der Wirklichkeit aber nicht entspricht. Die historische Entwicklung zur zivilisierten, alle Menschen umfassenden Gemeinschaft spielt sich, wie die gesamte gesellschaftliche Entwicklung, wesentlich inmitten von Widersprüchen ab, aber dieser Widerspruch in Bezug auf das vereinigende Anwachsen der internationalen Zivilisation liegt nicht dort, wo Kautsky ihn sucht, nicht in der Tendenz zu einem Ideal des „Nationalstaates", sondern eher dort, wo Marx ihn aufzeigt: im mörderischen Kampf zwischen den Nationen, in der Tendenz, außerhalb großer Bereiche der Zivilisation und gegen sie große kapitalistische Staaten aufzubauen. Die großstaatliche Entwicklung, die ein hervorstechendes Merkmal der modernen Epoche darstellt und durch die Fortschritte des Kapitalismus ein immer größeres Übergewicht gewinnt, verurteilt schon von vorneherein die ganze Masse kleiner und kleinster Nationalitäten zur politischen Schwäche. Neben einigen sehr mächtigen Nationen, welche Sachwalter der kapitalistischen Entwicklung sind, weil sie über die materiellen und die unerlässlichen geistigen Mittel verfügen, um ihre wirtschaftliche und politische Selbständigkeit zu erhalten, ist die „Selbstbestimmung", die selbständige Existenz der kleinen und kleinsten Nationen illusionär und wird es immer mehr. Die Rückkehr zur selbständigen Existenz aller oder zumindest der überwiegenden Mehrzahl der heute unterdrückten Nationen wäre nur insoweit möglich, als die kleinstaatliche Existenz in der kapitalistischen Epoche Chancen und Zukunftsaussichten hätte. Vorläufig sind die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen in großstaatlichem Maßstab so unerlässlich im Kampf um die Existenz der kapitalistischen Nationen, dass auch die politisch unabhängigen, formal gleichberechtigten kleinen Staaten, die in Europa bestehen, im politischen Leben Europas eine Statistenrolle, am häufigsten aber die des Sündenbocks spielen. Kann man denn im Ernst von „Selbstbestimmung" sprechen bei den formal unabhängigen Montenegrinern, Bulgaren, Rumänen, Serben, Griechen, in gewissem Sinne sogar bei den Schweizern, deren Unabhängigkeit selbst ein Produkt politischer Kämpfe und des Diplomatenspiels im „europäischen Konzert" ist? Von dieser Seite aus gleicht die Idee, allen „Nationen" die Möglichkeit der Selbstbestimmung zuzusichern, wenigstens der Perspektive, von der großkapitalistischen Entwicklung zu mittelalterlichen Kleinstaaten zurückzukehren, und das weit zurück vor das 15. und 16. Jahrhundert. Der zweite Grundzug neuzeitlicher Entwicklung, der von anderer Seite aus gerade diese Idee zur Utopie verurteilt, ist der kapitalistische Imperialismus. Das Beispiel Englands und Hollands zeigt, dass ein kapitalistisches Land unter bestimmten Bedingungen sogar das Übergangsstadium des „Nationalstaates" ganz überspringen und noch in der Epoche der Manufaktur sofort einen Kolonialstaat errichten kann. Dem Beispiel Englands und Hollands, die schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts anfingen Kolonien zu erobern, folgten alle großkapitalistischen Staaten im 18. und 19. Jahrhundert. Frucht dieser Tendenz ist der unaufhörliche Ruin der Selbständigkeit immer neuer Länder und Völker, ganzer Erdteile. Gerade diese Entwicklung des Welthandels in der kapitalistischen Epoche zieht den unvermeidlichen, wenngleich zeitweise langsamen Verfall aller primitiveren Gesellschaften nach sich, vernichtet ihre historisch gewachsene Art der „Selbstbestimmung", macht sie zu Abhängigen des alles zermalmenden Rades der kapitalistischen Entwicklung und der Weltpolitik. Nur vollkommen formalistische Verblendung kann wohl behaupten, dass z. B. die chinesische Nation – betrachten wir die Bevölkerung dieses Staates als eine Nation oder als mehrere Nationen – heute faktisch „über sich selbst bestimmt". Auf die zerstörende Wirkung des Welthandels folgt die direkte Annexion oder die politische Abhängigkeit der Kolonialländer in den verschiedensten Graden und Formen. Und wenn die Sozialdemokratie mit aller Kraft die Kolonialpolitik grundsätzlich und in allen ihren Symptomen bekämpft und sich bemüht, ihre neuen Fortschritte mit allem Nachdruck zu verhindern, so macht sie sich gleichzeitig deutlich klar, dass diese Entwicklung und auch die Entstehung der Kolonialpolitik, tief in den Grundlagen der kapitalistischen Produktion verwurzelt ist, dass sie unfehlbar die weiteren Fortschritte des Kapitalismus begleiten wird und dass nur harmlose bürgerliche „Friedensapostel" an die mögliche Abkehr der jetzigen Staaten von diesem Weg glauben können. Angesichts dieser Entwicklung und der Notwendigkeit des Kampfes um die Existenz auf dem internationalen Markt, der Weltpolitik und der Kolonialbesitze für die großen kapitalistischen Staaten „entspricht am besten den Aufgaben unter den heutigen Bedingungen", d. h. den Bedürfnissen der kapitalistischen Ausbeutung, nicht der „Nationalstaat" – wie Kautsky annimmt – sondern der Eroberungsstaat. Und wenn man verschiedene Grade der Annäherung an dieses sogenannte Ideal vergleicht, so entspricht diesen Aufgaben z. B. nicht der französische Staat am besten, der zumindest in seinem europäischen Teil national etwa einheitlich ist, noch weniger der spanische, der sich aus einem imperialistischen fast vollständig wieder zu einem „nationalen" Staat wandelte, nachdem er sich seiner Kolonien entledigt hatte, sondern jene Staaten, die sich auf nationale Unterdrückung sowohl in Europa als auch in aller Welt stützen, wie der englische und der deutsche Staat, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die als eiternde Wunde die Unterdrückung der Schwarzhäutigen in ihrem Schoße bergen und die asiatischen Völker erobern. in welchen Ziffern sich die imperialistische Tendenz auf der Karte der nationalen Eroberungen spiegelt, ersieht man aus der folgenden kleinen Tabelle. Die unterdrückte Bevölkerung zählt gegenwärtig in den Kolonien, die zu den in der Waagerechten genannten Staaten gehören:
Die angeführten immensen Ziffern, die rund 500 Millionen Menschen betreffen, müssten noch erhöht werden um die enorm große Position der Länder, die nicht als Kolonien gelten, aber faktisch vollständig von europäischen Staaten abhängig sind, und dann müsste man diese Ziffern erst nach der unzählbar großen Menge von Nationalitäten und ethnischen Gruppen aufspalten, um sich die Auswirkung des bisherigen kapitalistischen Imperialismus auf das Schicksal von Nationen und deren Möglichkeit zur „Selbstbestimmung" zu vergegenwärtigen. Folgerichtig bringt auch die Geschichte der kolonialen Expansion des Kapitalismus wieder die gewissermaßen widersprüchliche Tendenz der Kolonien hervor, sich erst wirtschaftlich, dann auch politisch unabhängig zu machen. Hervorragend illustriert das die Geschichte der Loslösung Nordamerikas von England gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die Südamerikas von Spanien und Portugal in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und ebenso das erfolgreiche Bemühen der australischen Staaten um Autonomie gegenüber England. Doch weist eine sorgfältigere Beurteilung dieser Erscheinungen sofort auf die andersartigen Bedingungen ihrer Entstehung hin. Sowohl Nord- als auch Südamerika waren bis zum 19. Jahrhundert Opfer eines noch ursprünglichen Systems von Kolonialpolitik, das eher darauf beruhte, das Land und seine natürlichen Reichtümer zugunsten des Staatsvermögens der europäischen Länder auszuplündern, als auf einer rationalen Ausbeutung zugunsten der kapitalistischen Produktion. Es handelte sich dabei um ganze Erdteile, die alle Voraussetzungen für eine selbständige kapitalistische Entwicklung besaßen, und diese musste sich ihren Weg bahnen, indem sie die brüchigen Fesseln politischer Abhängigkeit abstreifte. Während in Nordamerika, das abhängig von England war, dieser kapitalistische Druck stärker wirkte, fand Südamerika, das bis dahin vorwiegend Agrarland war, weitaus schwächeren Widerstand von Seiten des ökonomisch rückständigen Spanien und Portugal. Natürlich ist ein so außergewöhnlicher Reichtum an natürlichen Bedingungen nicht die Regel in allen Kolonien. Andererseits schafft das moderne System der Kolonisation eine Abhängigkeit, die weit weniger oberflächlich ist als die frühere. Vor allem aber beseitigte die von den amerikanischen Kolonien eroberte Unabhängigkeit durchaus nicht die nationale Abhängigkeit in ihnen selbst, sie wurde nur auf andere Nationalitäten verschoben, wechselte bloß den Träger. In den Vereinigten Staaten war es kein fremdes Volk, das sich unter dem Zepter Englands hervor arbeitete, es waren die gleichen englischen Emigranten, die sich auf der zertrümmerten Kultur und den Leichen der eingeborenen Indianer ansiedelten, – übrigens verhält es sich ganz genauso in den australischen Kolonien Englands, wo die Engländer 90 % der Bevölkerung ausmachen –, und heute sind die Vereinigten Staaten eines der mächtigsten Zentren imperialistischer Unterdrückung. Genauso auch Brasilien, Argentinien und andere ehemalige Kolonien, in denen die Emigranten – Portugiesen und Spanier – das führende Element bilden; sie erkämpften die Unabhängigkeit von den europäischen Staaten vor allem mit dem Ziel, unabhängig mit Negern Handel zu treiben, diese auf den Plantagen auszubeuten und die Eroberung auf alle schwächeren Kolonien in der Nachbarschaft auszuweiten. Sehr wahrscheinlich sind auch die Verhältnisse m Indien von gleicher Art, wo neuerdings eine recht ernsthafte „nationale" Bewegung gegen England zu erwachen scheint. Die bloße Existenz einer enorm großen Anzahl von Nationalitäten auf verschiedenen Stufen gesellschaftlicher und zivilisatorischer Entwicklung, sowie gegenseitiger Abhängigkeit in Indien, sollte vor einer allzu schnellen Beurteilung nach dem groben Maßstab der „Völkerrechte" warnen. Diese scheinbaren Ausnahmen bei der sorgfältigen Analyse bestätigen also nur die Schlussfolgerung, wie wenig sich die moderne kapitalistische Entwicklung mit einer wirklichen Unabhängigkeitsbestrebung aller Nationalitäten vereinbaren lässt. Allerdings kann man das Problem weit einfacher fassen, wenn man die Frage der kolonialen Annexionen von der Nationalitätenfrage überhaupt abtrennt. Dies ist sogar die Haltung, die von den Verteidigern der „Völkerrechte" häufig bewusst oder unbewusst eingenommen wird und die auch der Auffassung von Kolonialpolitik entspricht, wie sie zum Beispiel Eduard David innerhalb der deutschen Sozialdemokratie oder van Kol in der holländischen vertreten haben, die koloniale Annexionen überhaupt für den Ausdruck der zivilisatorischen Mission der europäischen Völker halten, für unerlässlich sogar in einem sozialistischen System. Diese Auffassung lässt sich kurz darlegen als „europäische" Anwendung des philosophischen Prinzips von Fichte in der bekannten Paraphrase Ludwig Börnes: Ich bin ich – was außer mir, ist Lebensmittel.9 Wenn man nur die europäischen Völker als eigentliche Nationen anerkennt, die Kolonialvölker aber als „Lebensmittel", so kann man in diesem Fall von „Nationalstaaten" in Europa sprechen und z. B. Frankreich, Dänemark oder Italien zu ihnen zählen, dann kann man auch das Nationalitätenproblem nur auf die innereuropäischen Komplikationen hin zuschneiden. Aber in diesem Fall wird das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen" zur Theorie der herrschenden Rassen und verrät deutlich seine eigentliche Herkunft von der Ideologie des bürgerlichen Liberalismus samt seines „europäischen" Kretinismus. Nach dem Verständnis der Sozialisten muss dieses Recht von Natur aus weltweiten Charakter haben, und sich dies klarzumachen genügt um zu zeigen, dass die Hoffnung, jenes „Recht" auf dem Boden des bestehenden Systems zu verwirklichen, eine Utopie ist, die in direktem Widerspruch zur Tendenz der kapitalistischen Entwicklung steht, auf der die Sozialdemokratie ihre Existenz gründete, denn die allgemeine Rückkehr zu dem Ziel, alle bestehenden Staaten in nationale Einheiten zu zerschlagen und sie nach dem Muster von nationalen Staaten und Kleinstaaten gegeneinander abzugrenzen, ist ein vollkommen hoffnungsloses und historisch betrachtet reaktionäres Unterfangen.G IV Die Formel vom „Recht der Nationen" reicht nicht aus, um die Haltung der Sozialisten in Nationalitätenfragen zu begründen, nicht allein deshalb, weil sie nicht alle die ungleichartigen historischen Bedingungen (des Ortes und der Zeit) in jedem gegebenen Fall berücksichtigt und nicht die allgemeine Entwicklungsrichtung der weltweiten Verhältnisse einbezieht, sondern auch deshalb, weil sie die fundamentale Theorie des neuzeitlichen Sozialismus – die Theorie der Klassengesellschaft – völlig ignoriert. Wenn wir vom „Selbstbestimmungsrecht der Nationen" reden, verstehen wir den Begriff „Nation" als ein Ganzes, als eine homogene gesellschaftliche und politische Einheit. Jedoch ist ein solcher Begriff von „Nation" eigentlich eine jener Kategorien der bürgerlichen Ideologie, welche die Marxsche Theorie einer radikalen Revision unterwarf, indem sie zeigte, dass unter einem solch nebelhaften Schleier wie unter den Begriffen von „bürgerlicher Freiheit", von „Gleichheit vor dem Gesetz" usw. sich jedes mal ein genau bestimmter historischer Inhalt verbirgt. In der Klassengesellschaft gibt es eine Nation als homogenes gesellschaftspolitisches Ganzes nicht, dagegen bestehen in jeder Nation Klassen mit antagonistischen Interessen und „Rechten". Es gibt buchstäblich nicht einen gesellschaftlichen Bereich, von den gröbsten materiellen Verhältnissen bis zu den subtilsten moralischen, in dem die besitzenden Klassen und das bewusste Proletariat ein und dieselbe Haltung einnähmen, in dem sie als ein ununterscheidbares „Volksganzes" aufträten. Auf dem Gebiet der ökonomischen Verhältnisse repräsentieren die bürgerlichen Klassen auf Schritt und Tritt die Interessen der Ausbeutung, das Proletariat die Interessen der Arbeit. Auf dem Gebiet der Rechtsverhältnisse ist das Privateigentum Eckpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft, das Interesse des Proletariats aber verlangt die Emanzipation des besitzlosen Menschen aus der Herrschaft des Eigentums. Im Bereich der Rechtsprechung repräsentiert die bürgerliche Gesellschaft die Klassen„gerechtigkeit", die Gerechtigkeit der Satten und Herrschenden, das Proletariat verteidigt die Humanität und den Grundsatz, gesellschaftliche Einflüsse auf das Individuum zu berücksichtigen. In den internationalen Beziehungen vertritt die Bourgeoisie eine Politik des Krieges und der Annexion, in der gegenwärtigen Phase des Systems Zollpolitik und Handelskrieg, das Proletariat aber eine Politik des allgemeinen Friedens und des Freihandels. Auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaft und der Philosophie stehen die bürgerlichen Schulen und die Schule, die den Standpunkt des Proletariats repräsentiert, in deutlichem Widerspruch zueinander. Idealismus, Metaphysik, Mystizismus, Eklektizismus sind repräsentativ für die besitzenden Klassen und ihre Weltanschauung, das Proletariat der Neuzeit aber hat seine Schule, den dialektischen Materialismus. Selbst im Bereich der sogenannten allgemeinmenschlichen Beziehungen, der Ethik, den Ansichten über Kunst, über Erziehung – Interessen, Weltanschauung und Ideale der Bourgeoisie auf der einen und des bewussten Proletariats auf der anderen Seite bilden zwei Lager, die durch eine tiefe Kluft von einander getrennt sind. Dort aber, wo die formalen Bestrebungen und die Interessen des Proletariats und der Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit oder in ihrem fortschrittlichen Teil identisch oder gemeinsam scheinen, wie zum Beispiel bei den demokratischen Bestrebungen, dort verbirgt sich unter der Identität der Formen und Parolen ein völliges Auseinanderklaffen in Inhalt und tatsächlicher Politik. In einer auf diese Weise zusammengesetzten Gesellschaft kann von einem kollektiven und einheitlichen Willen, von Selbstbestimmung der „Nation" keine Rede sein. Wenn wir in der Geschichte der neuzeitlichen Gesellschaften „National"bewegungen und Kämpfe um „Nationalinteressen" antreffen, so sind das normalerweise Klassenbewegungen der herrschenden bürgerlichen Schicht, die im gegebenen Fall bis zu einem gewissen Grad die Interessen auch anderer Volksschichten repräsentieren kann, und zwar in dem Maße, in dem sie in Gestalt von „Nationalinteressen" fortschrittliche Formen der historischen Entwicklung schützt, und insofern sich die arbeitende Klasse noch nicht aus der Masse des von der Bourgeoisie geleiteten „Volkes" zu einer selbständigen bewussten politischen Klasse herauskristallisiert hat. Die französische Bourgeoisie hatte in diesem Sinne das Recht, während der Großen Revolution im Namen des französischen „Volkes" als dritter Stand auf zu treten, und sogar die deutsche Bourgeoisie konnte sich bis zu einem gewissen Grade im Jahre 1848 als Repräsentant des deutschen „Volkes" verstehen, wenngleich das „Kommunistische Manifest" und teilweise „Die Neue Rheinische Zeitung" schon Vorposten einer eigenen Klassenpolitik des Proletariats in Deutschland waren. In beiden Fällen bedeutete dies nichts anderes, als dass die revolutionäre Sache der bürgerlichen Klasse im damaligen Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung mit derjenigen des gesamten Volkes zusammenfiel, da dieses mit der Bourgeoisie noch eine politisch einheitliche Masse gegen den herrschenden Feudalismus bildete. Schon dieser Umstand zeigt, dass mit den „Rechten der Nationen" zu operieren für den Standpunkt einer sozialistischen Partei in der Nationalitätenfrage nicht maßgeblich sein kann. Die Existenz einer solchen Partei selbst ist gerade der Beweis, dass die Bourgeoisie aufgehört hat Vertreter der gesamten Volksmasse zu sein, dass die Klasse des Proletariats sich nicht mehr unter dem Schutzmantel der Bourgeoisie versteckt, sondern sich von ihm abgelöst hat, als selbständige Klasse mit eigenen gesellschaftlichen und politischen Zielen. Weil aber die Auffassung von „Volk", „Rechten" und „Volkswille" als homogenes Ganzes aus Zeiten des unausgereiften und unbewussten Antagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie übriggeblieben ist, wie wir ausführten, wäre es ein krasser Widerspruch, wenn das klassenbewusste und selbständig organisierte Proletariat sie gebrauchen würde, ein Widerspruch nicht hinsichtlich der Schullogik, sondern ein historischer Widerspruch. Bei der Nationalitätenfrage muss eine sozialistische Partei in der heutigen Gesellschaft vor allem den Klassengegensatz berücksichtigen. Die tschechische Nationalitätenfrage hat für das jungtschechische Kleinbürgertum ein anderes Aussehen als für das tschechische Proletariat, genauso wie wir keine Lösung der polnischen nationalen Frage für Herrn Kościelski und zugleich für seinen Bauernknecht in Miłosław10, für die Bourgeoisie in Warschau und Łódź und zugleich für die bewussten polnischen Arbeiter suchen können. Auch die jüdische Frage spiegelt sich in den Gemütern der jüdischen Bourgeoisie auf völlig andere Weise als im Bewusstsein des revolutionären jüdischen Proletariats. Für die Sozialdemokratie ist die Nationalitätenfrage genau wie alle anderen gesellschaftlichen und politischen Fragen vor allem eine Frage der Klasseninteressen. Für den mystisch-sentimentalen Sozialismus, wie er z. B. in den vierziger Jahren in Deutschland grassierte, repräsentativ in den wahren Sozialisten Karl Grün und Moses Hess und in Polen in Limanowski, einer entsprechend spartanischen Ausgabe nach den vierziger Jahren – siehe „Lud Polski" am Anfang und „Pobudka" am Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts –, für diesen Sozialismus bestand die Aufgabe im Streben nach allem Schönen und Guten. Und nach diesem Prinzip auch verband Herr Limanowski, der spätere Führer der PPS, z. B. den polnischen Sozialismus mit der Aufgabe der Wiederherstellung Polens, auf Grund der Beobachtung, der Sozialismus sei unzweifelhaft eine schöne Idee, der Patriotismus sei das nicht weniger, und also: „warum sollten sich zwei so schöne Ideen nicht verbinden lassen". Das einzig wahre Körnchen, das in diesem sentimentalen Sozialismus steckt, ist die utopische Parodie der richtigen Idee, dass das sozialistische System als Endziel der proletarischen Bestrebungen durch die Aufhebung der Klassenherrschaft zum ersten Mal in der Geschichte der Klassengesellschaften Bürgschaft leistet, was die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft, etwas für die Verwirklichung der höchsten allmenschlichen Ideale zu tun. Und das eigentlich ist der Inhalt, der wesentliche Sinn des Grundsatzes, der vom Internationalen Londoner Kongress in der angeführten Resolution ausgesprochen wurde. „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen" wird erst in dem gesellschaftlichen System aufhören, eine Phrase zu sein, in dem auch das „Recht auf Arbeit" aufhört, wohltönende Leerformel zu sein. Ein sozialistisches System, das radikal nicht nur die Herrschaft einer Gesellschaftsklasse über eine andere beseitigt, sondern zugleich auch die Existenz gesellschaftlicher Klassen selbst und ihres Gegensatzes, die Teilung der Gesellschaft in Klassen mit verschiedenen Interessen und Bestrebungen aufhebt, ein solches System erst verwirklicht durch Harmonie und Solidarität der Interessen eine Gesellschaft als Summe vereinigter Individuen und daher als homogenes Ganzes mit gemeinsam organisiertem Willen und der Möglichkeit seiner Erfüllung. Dann erst wird das sozialistische System auch die „Nation" als einheitlichen Willen sowie die materiellen Voraussetzungen ihrer freien Selbstbestimmung in dem Maße verwirklichen, in dem die Nationen in diesem System überhaupt einzelne gesellschaftliche Organismen bilden oder auch, wie Kautsky behauptet, zu einem Organismus verschmelzen werden. Mit einem Wort, die Gesellschaft gewinnt erst dann die faktische Möglichkeit der freien Bestimmung über ihre nationale Existenz, wenn sie die Möglichkeit der bewussten Bestimmung über ihre wirtschaftliche Existenz, über ihre Produktionsbedingungen haben wird. Die „Nationen" werden dann ihr historisches Dasein beherrschen, wenn die menschliche Gesellschaft ihren gesellschaftlichen Prozess beherrscht. Schon deshalb zumindest ist es völlig verfehlt, eine Analogie herzustellen zwischen allen demokratischen Postulaten, wie dem „Recht" auf Rede-, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und dem „Selbstbestimmungsrecht der Nationen", wie es dessen Anhänger manchmal versuchen. Sie sagen, dass die Anerkennung des Rechtes auf Vereinigungsfreiheit sie als Partei der politischen Freiheit verpflichtet, was sie allerdings nicht hindert, Vereinigungen ihnen feindlicher bürgerlicher Parteien zu bekämpfen, und sie verpflichten sich auch nicht durch die Anerkennung des „Rechtes der Nationen", jede einzelne Art der „Selbstbestimmung" der Nationen zu unterstützen, was aber eine demokratische Verpflichtung darstellt. Die genannte Ansicht übersieht völlig, dass diese scheinbar analogen Rechte auf völlig verschiedenen historischen Ebenen liegen. Das Vereinigungs- und Versammlungsrecht, die Rede- und Druckfreiheit, das sind festgelegte Rechtsformen, die wesentlich zur reifen bürgerlichen Gesellschaft gehören. Dagegen ist das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen" nur die metaphysische Formel einer Idee, die sich, vollkommen unausführbar in der bürgerlichen Gesellschaft, nur auf dem Boden eines sozialistischen Systems verwirklichen lassen wird. Der Sozialismus ist in seiner heutigen Praxis aber keineswegs Sammelbecken all der mystischen „edlen" und „schönen" Bestrebungen, sondern politischer Ausdruck genau bestimmter Verhältnisse, nämlich des Klassenkampfes des modernen Proletariats gegen die Herrschaft der Bourgeoisie und seines Bemühens, die Diktatur seiner Klasse einzuführen mit dem Ziel, die heutigen Formen der Produktion zu beseitigen. Dies ist die hauptsächliche und leitende Aufgabe für eine sozialistische Partei als Partei des Proletariats, und diese Aufgabe entscheidet über ihren Standpunkt hinsichtlich aller einzelnen Probleme des gesellschaftlichen Lebens. Die Sozialdemokratie ist die Klassenpartei des Proletariats. Ihre historische Aufgabe ist es, die Klasseninteressen des Proletariats und zugleich die Interessen der revolutionären Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft auf die Verwirklichung des Sozialismus hin zu vertreten. Die Sozialdemokratie ist deshalb aufgerufen, nicht das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verwirklichen, sondern nur das Recht auf Selbstbestimmung der arbeitenden Klasse, der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse – des Proletariats. Von diesem Standpunkt aus untersucht die Sozialdemokratie ohne Ausnahme alle gesellschaftlichen und politischen Fragen, und von diesem Standpunkt aus formuliert sie ihre programmatischen Forderungen. Weder in Fragen politischer Formen, die wir im Staat beanspruchen, noch in Fragen der Innen- oder Außenpolitik des Staates, noch in Fragen der Rechtsprechung oder des Schulwesens, der Steuern oder des Militärwesens überlässt die Sozialdemokratie „dem Volk" die Entscheidung seines Loses nach dessen Gutdünken und „Selbstbestimmung". Aber die Bedingungen der national-politischen und national-kulturellen Existenz gehören genauso in den Bereich der Klasseninteressen des Proletariats wie die aufgeführten Fragenkomplexe; zwischen diesen Fragen und den national-politischen und -kulturellen Bedingungen vielmehr besteht gewöhnlich eine sehr enge Verbindung gegenseitiger Abhängigkeit und Bedingtheit. Demgemäß kann sich die Sozialdemokratie auch hier nicht der Verpflichtung entziehen, jedes Mal die Forderungen neu zu formulieren und Formen für ein aktives national-politisches und kulturelles Leben zu verlangen, die sowohl den Interessen des Proletariats und seinem Klassenkampf in einem bestimmten Land und zu einer bestimmten Zeit, als auch den Interessen der revolutionären gesellschaftlichen Entwicklung am besten entsprechen, „dem Volke" aber überlässt die Sozialdemokratie nicht die Entscheidung über diese Angelegenheit. Das wird völlig klar, wenn wir nur die Frage aus den Wolken der Abstraktion auf den Boden der konkreten Verhältnisse herunterholen. Das „Volk" soll das „Recht" auf Selbstbestimmung haben. Aber wer ist denn das „Volk", wer ist der Mächtige, wer hat das „Recht", der berufene Vertreter des „Volkes" und seines Willens zu sein? Wie erkennt man, was das „Volk" wirklich will? Gibt es denn eine politische Partei, die nicht behaupten würde, gerade sie sei entgegen allen anderen die wahre Vertreterin des „Volkswillens", während alle anderen nur den entstellten und verfälschten Volkswillen ausdrückten? Alle bürgerlich-liberalen Parteien halten sich aus der Natur der Sache für den eingefleischten Willen des Volkes, sie beanspruchen das ausschließliche Monopol auf die Vertretung des „Volkes". Aber die konservativen und reaktionären Parteien berufen sich nicht weniger auf den Willen und die Interessen des Volkes, und in gewissen Grenzen mit nicht weniger Recht. Die Große Französische Revolution war unzweifelhaft Ausdruck des französischen Volkswillens, aber Napoleon, der mit dem Staatsstreich vom 18. Brumaire das Werk der Revolution hinwegfegte, machte buchstäblich das Prinzip „la volonté générale (der allgemeine Wille) zur Grundlage seiner ganzen Staatsreform. 1848 setzte der „Volkswille" zuerst die Republik und die provisorische Regierung, dann die Nationalversammlung und schließlich Louis Bonaparte ein, der sowohl die Republik als auch die provisorische Regierung und die Nationalversammlung aufhob. Während der Revolution in Russland forderte der Liberalismus im Namen des Volkes das „Kadetten"ministerium, der Absolutismus organisierte im Namen eben dieses Volkes Judenprogrome, und die revolutionären Bauern äußerten ihren Volkswillen, indem sie die Adelshöfe in Rauch aufgehen ließen. In Polen pachteten den Willen des Volkes die Partei der Schwarzhundertschaften, die „Nationaldemokraten", die im Namen der „Selbstbestimmung der Nation" die „nationalen" Arbeiter aufwiegelten, an den sozialistischen Arbeitern Meuchelmord zu begehen. Mit dem „echten" Willen des „Volkes" geht es wohl ähnlich, wie mit dem echten Ring der Parabel in Lessings „Nathan, der Weise": er verschwand, und es scheint fast unmöglich, ihn wiederzufinden und von Fälschungen und Nachahmungen zu unterscheiden. Scheinbar liefert das demokratische Prinzip eine Methode, den wahren Willen des Volkes herauszubringen, indem die Meinung der Mehrheit festgestellt wird. Ein Volk will das, was die Mehrheit des Volkes will. Doch wehe der sozialdemokratischen Partei, die irgendwann diesen Grundsatz als maßgebend für sich anerkennen würde: das käme einem Todesurteil für eben diese Sozialdemokratie als revolutionäre Partei gleich. Die Sozialdemokratie ist von Natur aus eine Partei, die die Interessen der gewaltigen Mehrheit des Volkes repräsentiert. Dennoch aber ist sie, was den Ausdruck des bewussten Willens betrifft, in der bürgerlichen Gesellschaft vorläufig eine Partei der Minderheit und strebt erst danach, eine Mehrheit zu werden. Aber nicht dadurch, dass sie in ihren Bestrebungen, in ihrer Politik, in ihrem Programm den Willen der Mehrheit des Volkes widerspiegelt, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie den bewussten Willen durchaus nicht des ganzen Volkes, sondern nur der Klasse des Proletariats vertritt, und im Bereich sogar dieser Klasse hat die Sozialdemokratie nicht die Absicht, den Willen der Mehrheit zu vertreten, sondern sie drückt den Willen und das Bewusstsein der fortschrittlichen, der revolutionärsten Schicht des großstädtischen Industrieproletariats aus, aber sie bemüht sich, diesen Willen auszubreiten und ihm den Weg zur Mehrheit des arbeitenden Volkes zu bahnen, indem sie diesem erst seine eigenen Interessen bewusst macht. Der „Wille des Volkes" oder seiner Mehrheit ist folglich für die Sozialdemokratie durchaus kein Idol, vor dem sie sich demütig beugt, im Gegenteil, die ganze historische Sendung der Sozialdemokratie beruht vor allem auf der Revolutionierung, auf der Bildung des „Volkswillens", d. h. seiner arbeitenden Mehrheit. Aber die traditionellen Formen des Bewusstseins, wie sie die Mehrheit des Volkes und also auch die arbeitenden Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft aufweisen, sind gewöhnlich Formen bürgerlichen, den Idealen und Bestrebungen des Sozialismus feindlichen Bewusstseins. Sogar in Deutschland, wo die Sozialdemokratie schon die mächtigste politische Partei ist, bildet sie heute noch mit ihren 3¼ Millionen Wählern die Minderheit gegenüber 8 Millionen Wählern der bürgerlichen Parteien bei insgesamt 13 Millionen Wahlberechtigten. Die Statistik zu den Reichstagswahlen gibt einen zwar ungenauen, aber doch bis zu einem gewissen Grade brauchbaren Begriff vom Kräfteverhältnis in ruhigen Zeiten. Das deutsche Volk „bestimmt sich selbst" danach heute so, dass es in seiner Mehrheit Konservative, Klerikale und Freisinnige wählt und ihnen sein politisches Schicksal in die Hände legt. Und genau dasselbe spielt sich in noch größerem Maße in allen anderen Ländern ab. V Bringen wir ein konkretes Beispiel, um die Anwendung des Prinzips, eine „Nation" solle „über sich selbst bestimmen" zu prüfen. Um sie auf das Polen der gegenwärtigen revolutionären Zeit anzuwenden, entwickelte 1906 ein Mitglied der russischen Sozialdemokratie, das zur Redaktion der damaligen „Iskra" gehörte, die Idee von der Notwendigkeit der Warschauer Konstituanten auf folgende Weise: „Wenn man nur von der Voraussetzung ausgeht, dass die politische Organisation Russlands das entscheidende Moment bei der bestehenden Unterdrückung der Nationalitäten ist, so muss man daraus folgern, dass das Proletariat der unterdrückten Nationalitäten und besetzten Länder besonders stark am Zustandekommen der Organisation der allrussischen gesetzgebenden Versammlung Anteil nehmen müsste. Diese Versammlung soll, wenn sie vorhat, ihren revolutionären Auftrag zu erfüllen, die Fesseln des Zwangs zerreißen, in die das Zarentum „herrschende" und „unterdrückte" Völkerschaft einspannt. Auf keine andere zufriedenstellende, d. h. revolutionäre Weise lässt sich die Frage lösen, als durch die Verwirklichung des Rechtes der Nationalitäten, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen'.H Eine solche echte Lösung der Nationalitätenfrage zu erreichen wird die Aufgabe der vereinigten proletarischen Partei aller Nationalitäten in der gesetzgebenden Versammlung sein, und diese Aufgabe kann von der Partei natürlich nur insoweit gelöst werden, als sie sich auf die Bewegung der Volksmassen stützen wird, auf den Druck, den diese auf die gesetzgebende Versammlung ausüben werden. Aber in welcher konkreten Form soll das schon anerkannte Recht der Selbstbestimmung über das eigene Los verwirklicht werden? Dort, wo die Nationalitätenfrage mehr oder weniger mit der rechtsstaatlichen identifiziert wird – und genau das trifft auf Polen zu – dort kann und soll die gesetzgebende Landesversammlung, die speziell die Aufgabe hat, die Beziehung eines gegebenen „Grenzlandes" zum Staat als Ganzen, seine weitere Zugehörigkeit zum Staat oder auch seine Abtrennung, seinen inneren Aufbau und die zukünftige Verbindung mit dem Gesamtstaat zu bestimmen, dort kann und soll die gesetzgebende Landesversammlung zu dem Organ werden, das in der Lage ist, das vom Volk eroberte Recht auf Selbstbestimmung zu verwirklichen. Und daher soll die gesetzgebende Versammlung Polens entscheiden, ob Polen Bestandteil des neuen Russland werden und wie seine Verfassung aussehen soll. Und das polnische Proletariat muss alle seine Kräfte anspannen, damit der Klassenwille so fest wie möglich seinen Stempel auf die Entscheidungen des Organs nationaler Selbstverwaltung aufdrückt. Wenn wir also von der allrussischen gesetzgebenden Versammlung fordern sollen, dass sie die positive Klärung der polnischen nationalen FrageI dem Warschauer Sejm übergibt, so folgt für mich noch nicht die Notwendigkeit daraus, die Einberufung des Sejms bis zu dem Zeitpunkt aufzuschieben, an dem sich die Petersburger Konstituante mit der Nationalitätenfrage befasst Gerade umgekehrt meine ich, dass der Ruf nach der Konstituanten in Warschau schon jetzt aufgestellt werden muss, parallel zum Ruf nach der allrussischen Konstituanten. Diese Regierung, die schließlich die gesetzgebende Versammlung für ganz Russland einberufen wird, soll einen besonderen gesetzgebenden Sejm für Polen einberufen (oder auch die Einberufung sanktionieren). Es wird die Aufgabe der allrussischen Versammlung sein, die Tätigkeit des Warschauer Sejms zu sanktionieren, und wenn man die heterogenen gesellschaftlichen Kräfte, die in der Petersburger gesetzgebenden Versammlung eine Rolle spielen werden, berücksichtigt, so wird diese Sanktion um so sicherer verliehen und mit den tatsächlichen Grundsätzen der Demokratie um so mehr übereinstimmen, je entschiedener und deutlicher das polnische Volk seinen nationalen Willen äußert, und das tut es am deutlichsten bei den Wahlen zum Sejm, der extra einberufen wird, um über das künftige Schicksal Polens zu entscheiden. Auf die Entscheidungen dieses Sejms gestützt, vermögen die Vertreter des polnischen und russischen Proletariats in der allrussischen gesetzgebenden Versammlung energisch für die tatsächliche Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts einzutreten Und daher sollte unsere Losung sein: gleichzeitige Einberufung der allrussischen und polnischen gesetzgebenden Versammlung. Die vom Proletariat aufgestellte Forderung nach einer gesetzgebenden Versammlung für Polen soll auf keinen Fall bedeuten, dass das polnische Volk für die allrussische gesetzgebende Versammlung irgendeine Delegation aus dem Warschauer Sejm bestimmen soll. Ich meine, dass eine solche Vertretung in der allrussischen Versammlung den Interessen der revolutionären Entwicklung nicht entspräche. Sie verbände proletarische und bürgerliche Elemente des polnischen Sejms in Solidarität und gegenseitiger Verantwortung, was zu dem tatsächlichen gegenseitigen Verhältnis ihrer Interessen in Widerspruch steht. Proletariat und Bourgeoisie Polens sollten in der allrussischen gesetzgebenden Versammlung nicht von einer Delegation repräsentiert werden, und das wäre geschehen, falls die Delegation vom Sejm zur Versammlung geschickt würde, wenn man voraussetzt, dass die Vertreter aller Parteien des Sejms proportional zu ihrem Anteil in dieser Delegation vertreten wären. In diesem Fall würde die unmittelbare und unabhängige Vertretung des polnischen Proletariats in der Versammlung verschwinden, die den Charakter der Liquidation der ganzen politischen Hinterlassenschaft des Zarentums bestimmt, und die eigentliche Bildung von echten politischen Parteien in Polen wäre erschwert. Dann können die Wahlen zum polnischen gesetzgebenden Sejm, dessen Hauptaufgabe es sein wird, die politischen Beziehungen zwischen Polen und Russland zu bestimmen, nicht in dem Maße die politische und vor allem soziale Struktur der konkurrierenden Parteien sichtbar machen, wie dies die Wahlen zur allrussischen Versammlung können, auf der neben lokalen, partiellen, zeitbedingten und spezifisch nationalen Fragen allgemeine Angelegenheiten der Politik und des Sozialismus zur Sprache kommen, die die heutigen Gesellschaften so ausdrucksvoll differenzieren."J Dieser Artikel, der die von der PPS in der ersten Phase der Revolution aufgestellten Losung – die Warschauer Konstituante – vom opportunistischen Flügel der russischen Sozialdemokratie her moralisch bestätigte, hatte keinerlei praktische Folgen. Nach der Spaltung der PPS sah sich die sogenannte Linke dieser Partei, nachdem sie das Programm der Wiederherstellung Polens öffentlich verworfen hatte, gezwungen, auch das Teilprogramm des Nationalismus in Form des Rufes nach der Warschauer Konstituanten aufzugeben. Dennoch bleibt dieser Artikel eine charakteristische Probe dafür, wie man mit dem Grundsatz des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen" in der Praxis operiert. In der obigen Argumentation, die wir in ganzer Länge anführten, um von verschiedenen Seiten eine Beurteilung zu ermöglichen, fallen einige Punkte auf. Vor allem soll nach den Worten des Autors auf der einen Seite „die gesetzgebende Versammlung Polens entscheiden, ob Polen Bestandteil des neuen Russlands werden und wie seine Verfassung aussehen soll", auf der anderen Seite aber „muss das polnische Proletariat alle seine Kräfte anspannen, damit der Klassenwille so fest wie möglich seinen Stempel auf die Entscheidungen des Organs nationaler Selbstverwaltung aufdrückt". Hier schon ist der Klassenwille des polnischen Proletariats ausdrücklich dem Kollektivwillen des polnischen „Volkes" entgegengesetzt. Der Klassenwille des Proletariats kann Entscheidungen der Warschauer Konstituanten natürlich nur dann seinen Stempel aufdrücken, wenn er klar und ausdrücklich formuliert ist; mit anderen Worten, die Klassenpartei des polnischen Proletariats, die sozialistische Partei, muss ein genau bestimmtes Programm für die nationale Frage haben, das sie in der Warschauer Konstituanten durchsetzen wird, ein Programm, das bereits nicht mehr dem Willen des „Volkes", sondern nur dem Willen und den Interessen des polnischen Proletariats entspricht. In der polnischen Konstituanten tritt daher in Bezug auf die nationale Frage der Wille d. h. die „Selbstbestimmung des Proletariats" gegen den Willen d. h. gegen die „Selbstbestimmung der Nation" auf. Die polnischen Sozialisten geben das „Selbstbestimmungsrecht der Nation" als verpflichtenden Grundsatz praktisch auf und ersetzen es durch ein genau bestimmtes politisches Programm für die nationale Frage. Daraus resultiert eine ziemlich eigenartige Schlussfolgerung Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands überlässt die Entscheidung der polnischen Frage dem polnischen „Volk", aber die polnischen Sozialisten sollen nicht so handeln, sondern sich nur mit allen Kräften um die Entscheidung dieser Frage im Geiste der Interessen und des Willens des Proletariats bemühen. Aber die Partei des polnischen Proletariats gehört organisatorisch zur gesamtstaatlichen Partei, so ist z. B., wie bekannt, die SDKPiL, Teil der SDAPR, Die ideell und faktisch vereinigte Sozialdemokratie ganz Russlands hat also zwei verschiedene Standpunkte: als Ganzes steht sie auf dem Standpunkt „der Völker", in ihren einzelnen Teilen auf dem Standpunkt des entsprechenden Proletariats eines jeden Volkes – die Standpunkte können sich jedoch sehr unterscheiden, können sogar in genauem Gegensatz zueinander stehen. Die verschärften Klassengegensätzen in ganz Russland beweisen eher die Regel, dass, genauso wie bei Fragen der Innenpolitik, auch bei der national-politischen Frage die proletarischen Parteien auf einem völlig anderen Standpunkt stehen als die bürgerlichen und kleinbürgerlichen der entsprechenden Nationalitäten. Welche Haltung wird die Arbeiterpartei Russlands im Falle einer solchen Kollision einnehmen? Führen wir als Beispiel an, dass in der gesamtstaatlichen Konstituanten von polnischer Seite aus zwei sich widersprechende Programme aufgestellt werden: das selbständige Programm der Nationaldemokraten sowie das selbständige Programm der polnischen Sozialdemokratie, die sich beide grundsätzlich in der ganzen Geisteshaltung unterscheiden, in der inneren Tendenz und in der politischen Formulierung. Wie wird der Standpunkt der russischen Sozialdemokratie gegenüber diesen beiden aussehen? Welches der Programme wird sie als Ausdruck des Willens und der „Selbstbestimmung" des polnischen „Volkes" anerkennen? Die polnische Sozialdemokratie hat niemals den Anspruch erhoben, im Namen des „Volkes" zu sprechen. Die Nationaldemokraten aber treten von Berufs wegen als Vertreter des „nationalen" Willens auf, außerdem kann man vorläufig annehmen, dass diese Partei, indem sie die Dumpfheit aller kleinbürgerlicher Elemente und darüber hinaus auch die einiger Schichten des Proletariats ausnutzt, die Mehrheit bei den Wahlen zur Konstituanten erobern wird. Ob sich angesichts dessen die Repräsentanten des Proletariats von ganz Russland, um der Formel ihres Programms Genüge zu tun, für die Projekte der Nationaldemokraten aussprechen und gegen ihre eigenen Genossen aus Polen auftreten oder aber ob sie sich dem Programm des polnischen Proletariats anschließen und „das Recht der Nationen" als zu nichts verpflichtende Phrase beiseite lassen? Oder können die polnischen Sozialdemokraten auch gezwungen werden, um diese Widersprüche im Programm zu versöhnen, in der Warschauer Konstituanten und ebenso auch in der Agitation bei sich im Lande für das eigene selbständige Programm einzutreten, in der gesamtstaatlichen Konstituanten jedoch, als Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Russlands, der Disziplin gehorchend, für das Programm der Nationaldemokraten, d. h. gegen das eigene Programm einzutreten? Führen wir noch ein anderes Beispiel an. Wenn man die Frage, auf welche Grundlage der Autor das ganze Problem stellt, in rein abstrakter Form untersucht, so kann man zur Klärung dieser Grundhaltung vorbringen, dass – sagen wir einmal – in der Nationalversammlung der jüdischen Bevölkerung im russischen Staat – denn warum sollte das Recht, einzelne Konstituanten zu bilden, auf Polen beschränkt bleiben, wie der Autor das will – die zionistische Partei wegen dieser oder jener Umstände die Mehrheit erhält und von der allrussischen Konstituanten die Bereitstellung eines Emigrationsfonds für die gesamte jüdische Bevölkerung fordert. Dagegen bekämpft die Klassenvertretung des jüdischen Proletariats mit größter Standhaftigkeit den zionistischen Standpunkt als schädliche und reaktionäre Utopie. Wie wird sich die russische Sozialdemokratie diesem Streit gegenüber verhalten? Eins von beiden: Entweder soll das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen" für die russische Sozialdemokratie mit der Bestimmung über die nationale Frage des betreffenden Proletariats identisch sein, d. h. mit dem nationalen Programm der betreffenden sozialdemokratischen Partei. Aber in diesem Fall ist die Formel vom „Recht der Nationen" im Programm der russischen Partei nur eine mystifizierende Paraphrasierung des Klassenstandpunktes. Oder aber das russische Proletariat als solches muss tatsächlich einzig und allein den Willen der nationalen Mehrheit der von Russland unterjochten Nationalitäten anerkennen und in Ehren halten, selbst wenn das Proletariat der betreffenden „Nationen" mit seinem Klassenprogramm sich ausdrücklich gegen diese Mehrheit wenden würde. Und hier stellt man einen eigenartigen Fall von politischem Dualismus fest, der den Missklang zwischen „nationalem" und Klassenstandpunkt in Gestalt des Konfliktes zwischen dem Standpunkt der gesamtstaatlichen Arbeiterpartei und den Parteien der einzelnen Nationalitäten, aus denen jene sich zusammensetzt, drastisch zum Ausdruck bringt. Und weiter, die besondere polnische Konstituante soll das Organ sein, das das Selbstbestimmungsrecht des Volkes verwirklicht. Aber in Wirklichkeit wird dies Recht vom Autor stark eingeschränkt, und das in zweierlei Hinsicht. Zum ersten wird die Zuständigkeit der Warschauer gesetzgebenden Versammlung reduziert auf das spezielle Problem der Beziehung Polens zu Russland und der Verfassung für Polen, zum andern unterliegen Entscheidungen des „polnischen Volkes" auch in diesem Bereich der Sanktion durch die allrussische gesetzgebende Versammlung. Die Versammlung kann aber, wenn dieser Vorbehalt überhaupt Sinn haben soll, eine Sanktion erteilen oder auch sie verweigern. Unter solchen nicht genau festgelegten Bedingungen aber wird das „Selbstbestimmungsrecht" des Volkes wohl ziemlich problematisch. Die nationalistischen Anhänger des Rufes nach einer separaten Warschauer Konstituanten gäben sich durchaus nicht mit einer Reduzierung ihrer Kompetenz auf den engumgrenzten Bereich der polnisch-russischen Beziehung zufrieden, sondern wünschten ihr die Gesamtheit der äußeren und inneren Verhältnisse im gesellschaftlichen Leben Polens zur endgültigen Entscheidung zu übergeben. Und vom Standpunkt des „Selbstbestimmungsrechts des Volkes" wären Recht und Konsequenz unleugbar auf ihrer Seite, Denn es gibt keinen Grund, warum die „Selbstbestimmung" nur für die Bestimmung über die Verfassung eines Volkes und sein politisches Schicksal nach außen hin gelten soll, nicht aber für alle gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten. Außerdem ist es eine in hohem Maße künstliche Konstruktion, die Fragen der Beziehung Polens zu Russland und der Verfassung Polens von „allgemeinen Angelegenheiten der Politik und des Sozialismus" abzugrenzen und zu trennen. Wenn die „Polnische Verfassung" – wie es sich von selbst versteht – über Wahlrecht, Vereinigungs-, Versammlungs-, Presserecht usw. für Polen entscheidet, so ist nicht klar, welche politischen Angelegenheiten eigentlich für eine Entscheidung der gesamtstaatlichen Konstituanten im Hinblick auf Polen übrigbleiben. Wenn man es so betrachtet, ist natürlich nur einer der beiden Gesichtspunkte möglich: entweder soll die Warschauer Konstituante das eigentliche Organ der Selbstbestimmung des polnischen Volkes sein, und in diesem Fall kann sie nur ein der Petersburger Konstituanten vollkommen gleich geordnetes Organ mit unbegrenzter Kompetenz sein, oder aber die Warschauer Konstituante spielt lediglich die Rolle eines Landessejms in Abhängigkeit und Untergebenheit gegenüber der gesamtstaatlichen Versammlung, in diesem Fall ist dann „das Selbstbestimmungsrecht" an Sanktionen des russischen „Volkes" gebunden, und man ist stark an das berühmt-berüchtigte deutsche Wort erinnert: „die Republik mit dem Großherzog an der Spitze" Der Autor selbst hilft uns erraten, warum bei seiner Art, Schlüsse zu ziehen, „das Recht des Volkes" am Anfang so glänzend in Form der Warschauer Konstituanten eingeführt wird und am Ende durch die Kompetenzzuordnung und das Recht der Petersburger Konstituanten auf Sanktionen aufgehoben wird. Der menschewistische Publizist lässt sich hier von dem Gesichtspunkt leiten, dass die Warschauer Konstituante das Organ für die nationalen Interessen sein wird, die gesamtstaatliche Versammlung aber das Organ für die gesamtgesellschaftlichen und Klasseninteressen und die Ebene der Klassenkämpfe des Proletariats mit der Bourgeoisie. Der Autor zeigt sogar soviel Misstrauen gegenüber dem Organ des „nationalen Willens", dass er sich rundheraus gegen die Repräsentation dieses nationalen Sejms in der. Petersburger Konstituanten erklärt, für die er von Polen unmittelbare Wahlen zur Sicherung einer besseren Verteilung der Interessen des polnischen Proletariats fordert. Der Befürworter zweier Konstituanten fühlt instinktiv, dass sogar bei allgemeinen gleichen Wahlen zur Warschauer Versammlung gerade seine Unterscheidung die Position des polnischen Proletariats schwächen würde, würde dies aber mit dem Proletariat des ganzen Staates vereint in der allgemeinen Konstituanten auftreten, so wäre die Klassenposition stärker und ihre Verteidigung leichter. Deshalb das Schwanken zwischen beiden Standpunkten und das Bedürfnis, das Organ des „nationalen" Willens dem Organ des Klassenkampfes unterzuordnen. Das ist nun wieder einmal ein Dualismus in der politischen Haltung, bei dem das Aufeinanderstoßen von „nationalem" und Klassengesichtspunkt zur Abwechslung die Form des Gegensatzes von Warschauer und Petersburger Konstituante annimmt. Es bleibt nur noch die Frage: wenn aber die Repräsentation in der gesamtstaatlichen Versammlung für die Verteidigung des polnischen Proletariats nützlicher ist, warum denn kann dieses Gremium nicht auch über die polnische nationale Frage entscheiden, um dem Willen und den Interessen des polnischen Proletariats auch auf diesem Gebiet ein mögliches Übergewicht zu sichern? Soviel Schwanken und so viele Widersprüche rufen das Bedürfnis hervor, den „nationalen" Standpunkt mit dem Klassenstandpunkt des Proletariats zu verbinden. Außerdem muss man wohl noch hinzufügen, dass die gesamte Konstruktion der Warschauer Konstituanten als nationales Organ der „Selbstbestimmung" solange ein Kartenhaus bleibt, bis die nationalstaatliche Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Länder nicht mehr durch die Abstimmung einer Mehrheit in parlamentarischer Repräsentation entschieden werden, sondern durch die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung, durch materielle Klasseninteressen und, was äußere politische Erscheinungen betrifft, durch bewaffneten Kampf, Krieg oder Aufstand. Die Warschauer Konstituante könnte erst dann wirklich über das Schicksal Polens bestimmen, wenn Polen vorher auf dem Weg des siegreichen Aufstands die tatsächliche Unabhängigkeit von Russland erobert hatte. Mit anderen Worten: sein „Recht" auf Selbstbestimmung könnte das polnische Volk erst dann verwirklichen, wenn es die faktische, gewaltsam erreichte Fähigkeit dazu hätte, und es würde dieses Recht dann nicht auf Grund des „Rechtes", sondern auf Grund der Fähigkeit verwirklichen. Da aber die gegenwärtige Revolution nicht nur keine Unabhängigkeitsbewegung in Polen hervorrief und durchaus keine Tendenz zeigte, Polen von Russland abzutrennen, sondern im Gegenteil, die Reste dieser Tendenzen gründlich beseitigte, nachdem die eine nationalistische Partei, die Nationaldemokraten, gezwungen war, auf das Programm der Wiederherstellung Polens zu verzichten, und bei der anderen, der PPS, nachdem sie sich gespalten hatte, die eine Hälfte ebenfalls gezwungen war, dies Programm offen abzulehnen, so wird wohl das „Recht" des polnischen Volkes auf Selbstbestimmung ein Recht bleiben, von goldenen Tellern zu essen. Das Postulat der Warschauer Konstituanten ist natürlich seinem Wesen nach völlig ohne politisches oder theoretisches Gewicht, es ist bloß eine momentane versuchsweise Improvisation des heruntergekommenen polnischen Nationalismus, eine Seifenblase, die im Entstehen schon platzte. Geeignet ist dies Postulat nur als Illustration, wie das „Selbstbestimmungsrecht einer Nation" in der Praxis angewendet wird. Diese Illustration ist ein neuer Beweis, dass durch die Anerkennung des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen" im Rahmen des gegenwärtigen Systems die Sozialdemokratie entweder den „Nationen" einen billigen Segen erteilt, das zu tun, was die „Nationen" auf Grund der „Macht" imstande sind zu tun, oder aber sie ist eine leere, kraftlose Phrase. Dagegen bringt dieser Standpunkt die Sozialdemokratie in Konflikt mit ihrer eigentlichen Berufung: der Verteidigung der Klasseninteressen des Proletariats und der revolutionären Entwicklung der Gesellschaft; einzig und allein durch diese Gesichtspunkte ließen sich bei der Untersuchung von Nationalitätenfragen die Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus leiten. An der metaphysischen Phrase im Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands festzuhalten wäre Untreue gegen jenen exakten Klassenstandpunkt, den zu befolgen sich die Partei in allen Einzelheiten des Programms bemühte. Der Paragraph neun muss durch eine konkrete, jedoch so allgemein gefasste Formel ersetzt werden, dass sie die Lösung der Nationalitätenfrage in Übereinstimmung mit den Interessen des Proletariats der einzelnen Nationalitäten zulässt Das heißt keineswegs, dass das Programm der sozialdemokratischen Organisation der jeweiligen Nationalität eo ipso zum Programm der gesamtstaatlichen Partei werden sollte. Die gründlichste, kritische Prüfung eines jeden dieser Programme durch die Gesamtheit der Arbeiterpartei im Staat ist unerlässlich, allerdings muss diese Beurteilung von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehen, von der wissenschaftlichen Analyse allgemeiner Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung sowie den Interessen des Klassenkampfes des Proletariats, die allein den einheitlichen und konsequenten Standpunkt der Partei in ihrer Gesamtheit und in ihren zusammenhängenden Teilen aufzeigen können. 1 Es handelt sich hier um den ersten Teil einer 1908–09 in „Przegląd Socjaldemokratyczny" veröffentlichten Artikelserie. 2 Im Sommer 1848 kam es auch in Prag, unabhängig von dem erwähnten Kongress, zu revolutionären Erhebungen, die, wie auch in Wien, vom Fürsten Windischgrätz niedergeschlagen wurden. 3 Abgedruckt in „österreichische Parteiprogramme 1868–1966" Hrsg. Klaus Berchtold, München 1967. A Der obengenannte Antrag lautete: „In Erwägung, dass die Unterjochung einer Nation durch die andere nur im Interesse der Kapitalisten und Despoten liegen kann, für das arbeitende Volk hingegen, sowohl für das der unterdrückten wie auch das der unterdrückenden Nation gleich verderblich ist; dass besonders das russische Zarentum, das seine inneren Kräfte und seine äußere Bedeutung aus der Unterjochung Polens zieht, eine dauernde Gefahr für die Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung bildet, erklärt der Kongress: dass die Unabhängigkeit Polens eine sowohl für die gesamte internationale Arbeiterbewegung wie auch für das polnische Proletariat gleich notwendige politische Forderung bildet." B Siehe: „Die polnische Frage und die sozialistische Bewegung". Aufsatzsammlung über die polnische Frage von R. Luxemburg, K. Kautsky, F. Mehring, Parvus u. a., mit einem Vorwort von R. Luxemburg, Krakau; 1905. C Nur die PPS im preußischen Teilgebiet hielt es für ratsam, die Londoner Resolution in ihr Programm aufzunehmen, als sie noch mit der deutschen Sozialdemokratie im Streit lag. Nachdem sie sich erneut an die deutsche Partei angeschlossen hatte, machte sie sich das Erfurter Programm ohne Vorbehalte zu eigen. 4 Staatsanwalt, tat sich besonders bei der Anwendung des Sozialistengesetzes hervor. 5 Gemeint sind die nationalen Aufstände von 1794/95, 1830/31 (Novemberaufstand) und 1863/64 (Januaraufstand). 6 1835–83, Politiker und Historiker. Vertrat die Ideologie der „organischen Arbeit" 7 Hervorhebung von Rosa Luxemburg. 8 Karl Kautsky „Die Rebellionen in Schillers Dramen" „Die Neue Zeit" 23. Jg. Band 2 1905 S. 146. D Hervorhebung hier und im folgenden von uns. E Karl Kautsky „Nationalität und Internationalität" Stuttgart 1908 S. 12–17. F l. c. S. 23. 9 Im Original deutsch. G Diese Entwicklung hallt in den Köpfen der Formalisten des Rechts und der professoralen Definitionen als „Entartung der nationalen Idee" wider: „Die andere Richtung nationaler Strömungen zeigt sich bei den Völkern, die schon die politische Unabhängigkeit erreicht haben, in dem Streben nach Überlegenheit und Übermacht über andere Volker. Diese Bestrebungen äußern sich einerseits in der Betonung ehemaliger historischer Verdienste oder gegenwärtiger Merkmale eines Nationalcharakters, des „ Geistes" einer Nation oder schließlich in noch völlig unbestimmten Hoffnungen auf eine zukünftige kulturelle Rolle, auf eine gewisse Prädestination, die diesem oder jenem Volk gegeben ward, Bestrebungen, die jetzt auf den Namen „Nationalismus" getauft wurden. Andererseits führen diese Bestrebungen zu einer Politik, die territorialen Grenzen eines gegebenen Volkes zu erweitern, seine Weltgeltung über die Annexion von verschiedenen fremden Ländern zu verstärken und die Kolonialbesitze zu vergrößern zu einer Politik des Imperialismus also. Diese Bewegungen bestimmen die weitere Entwicklung der nationalen Idee, und zugleich ist es unmöglich, in ihnen nicht die Ausartung dieser Idee und folglich ihren Tod zu erblicken, angesichts des Widerspruchs zum ursprünglichen Inhalt der nationalen Idee, sowie ihrer fatalen, die Zivilisation zurückschraubenden Folgen. Augenscheinlich geht das Jahrhundert der Nationalitäten zu Ende. Man muss auf ein neues Zeitalter warten, das von neuen Strömungen geprägt sein wird." V. M. Ustinow, „Ideja nazionalnogo gosudarstwa". Charkow: 1906. 10 Wahrscheinlich ist der Politiker und Schriftsteller Koscielski gemeint (1845-1911). Er war polnischer Nationalist, hoffte auf einen deutsch-russischen Gegensatz und saß gleichzeitig im preußischen Herrenhaus und im Reichstag, wo er 1893 die Heereserweiterung stimmte. H Alle Hervorhebungen im Zitat von uns. I Hier und überall spreche ich von der konkreten Weise, wie die Nationalitätenfrage für Polen zu lösen sei, und berühre nicht solche Veränderungen, die sich bei der Lösung dieser Frage für andere Grenzgebiete als unerlässlich erweisen können. J Der obige Artikel erschien in „Robotnik", dem Organ der PPS, – Redaktion „Przegląd Socjaldemokratyczny ". |
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