Rosa Luxemburg: Rede zur Frage der Parteischule1 [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908, Berlin 1908, S. 230 f. Nach Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 2, Berlin 1972, S. 254-256] Wenn ich das Wort ergreife, so nicht, um gegen die Kritik an der Parteischule zu protestieren, sondern im Gegenteil, um mich zu beklagen über den Mangel einer ernsten, sachlichen Kritik. Die Parteischule ist ein neues und sehr wichtiges Institut, das von allen Seiten ernsthaft gewürdigt und kritisiert werden muss. Ich muss selbst bekennen, dass ich von Anfang an der Gründung der Parteischule mit größtem Misstrauen begegnet bin, einerseits aus angeborenem Konservatismus (Heiterkeit.), andererseits, weil ich mir im stillen Kämmerlein meines Herzens sagte, eine Partei wie die sozialdemokratische muss ihre Agitation mehr auf eine direkte Massenwirkung einrichten. Meine Tätigkeit an der Parteischule hat diesen Zweifel zu einem großen Teil behoben. In der Schule selbst, in einem stetigen Kontakt mit den Parteischülern habe ich gelernt, das neue Institut zu schätzen, und ich kann aus vollster Überzeugung sagen: Ich habe das Gefühl, wir haben damit etwas Neues geschaffen, dessen Wirkungen wir noch nicht überblicken können, aber wir haben etwas Gutes damit geschaffen, das der Partei Nutzen und Segen bringen wird. Allerdings ist noch manches zu kritisieren, und es wäre ein Wunder, wenn das nicht der Fall wäre. Wenn ich auch die Anregung auf eine Änderung in der Auswahl der Schüler ablehne – denn wir haben als Lehrer die Erfahrung gemacht, dass die bisherigen Resultate ausgezeichnet sind, so dass ich mir ein besseres Elitekorps gar nicht wünschen möchte –, so finde ich doch einiges an dem Lehrplan auszusetzen. In dem Lehrplan müsste mit an erster Stelle die Geschichte des internationalen Sozialismus stehen. („Sehr richtig!") Auch die Wanderlehrer des Bildungsausschusses sollten diese Frage mehr würdigen, anstatt sich nur auf nationalökonomische Lehren zu beschränken. Die Geschichte des Sozialismus ist in knapper Form viel leichter darzulegen, ohne dass der Gegenstand darunter leidet, als die Nationalökonomie. Die Geschichte des Sozialismus ist für uns als Kampfpartei die Lebensschule. Wir empfangen daraus immer neue Anregungen. („Sehr richtig!") Die Schule krankt ferner daran, dass das Verhältnis der Parteiorganisationen zu ihren Schülern nicht das richtige ist; es müsste von Grund aus umgestaltet werden. Es kann jetzt vorkommen, dass Parteiorganisationen Schüler in die Schule schicken wie den Sündenbock in die Wüste, um sich nachher nicht mehr darum zu kümmern, was aus ihnen wird („Sehr richtig!"), ohne ihnen einen genügenden Wirkungskreis zur Verfügung zu stellen. Allerdings besteht auf der anderen Seite auch die Gefahr, dass an die Parteischüler, wenn sie einen Posten haben, gar zu große Anforderungen seitens der Genossen gestellt werden. („Sehr richtig!") Die Genossen werden sagen: Du warst an der Parteischule, nun zeige einmal stündlich und auf jeder Stelle, was du gelernt hast! Solche Hoffnungen werden die Parteischüler nicht erfüllen können. Wir haben uns bemüht, ihnen von erster bis zu letzter Stunde klarzumachen, dass sie noch kein fertiges Wissen haben, dass sie noch weiterlernen, dass sie ihr ganzes Leben lang lernen müssen. Wenn auch die Parteischüler später Gelegenheit bekommen müssen, das Gelernte nutzbringend zu verwerten, so muss man andererseits doch auch dies berücksichtigen. Also es gibt ernste Gesichtspunkte genug, um die Frage der Parteischule nach allen Seiten hin zu kritisieren. Aber solche Kritik, wie sie Eisner2 übt, ist nicht angebracht. Eisner hat eine so große Ehrfurcht vor der Wissenschaft, dass mir davor bange wird; ich fürchte, der Wissenschaft im Allgemeinen und besonders der sozialistischen Wissenschaft bei Eisner geht es so wie dem armen Klopstock, auf den Lessing die geflügelten Worte sagt: Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? – Nein. Wir wollen weniger erhoben Und fleißiger gelesen sein. (Heiterkeit.) Ein weiterer Beweis, wie leichtfertig die Kritik von Eisner ist, ist das Beispiel, dass er uns als strahlendes Gegenstück zu der Parteischule entgegengehalten hat den Nürnberger Trichter (Heiterkeit.), den man sich hier geschaffen hat in Gestalt des Genossen Maurenbrecher. Maurenbrecher soll als einziger Lehrer hier dem Proletariat die gesamte Bildung übermitteln. Sein Glaubensbekenntnis hat er in einem, wie Eisner meint, ausgezeichneten Artikel in der „Fränkischen Tagespost" niedergelegt, worin es heißt: „Wir treiben zu viel Theorie! Muss die Masse die Werttheorie kennen? (,Hört! Hört!') Muss die Masse wissen, was materialistische Geschichtsauffassung ist? Ich wage die Ketzerei und sage: nein! Der Lehrer muss das wissen" – um es in der Tasche zu behalten. (Eisner: „Nein, das steht nicht da, das haben Sie zugesetzt!") Natürlich, das habe ich zugesetzt. „Aber für die Massenbildung hat das alles direkt keinen Wert, kann höchstens schaden." Das habe ich nicht hinzugefügt, das hat Maurenbrecher gesagt. („Hört! Hört!") Und weiter sagt er: „Die Theorie ist in ihrer zwar unbeabsichtigten, aber doch sehr häufig vorhandenen Wirkung oft geradezu eine Ertötung der Kraft zum Entschluss und zum Handeln." Die materialistische Geschichtsauffassung, die 40 Jahre einer glänzenden Entfaltung des Klassenkampfes in Deutschland und der Welt geschaffen hat, jene Theorie von Marx und Engels, die dem russischen Proletariat vorangeleuchtet hat in der größten Tat des Anfangs des Jahrhunderts, in der russischen Revolution, soll die Kraft zum Entschluss und zum Handeln ertöten! („Hört! Hört!") Aber Eisner, Maurenbrecher und andere urteilen nach sich selbst, sie glauben, auf sie wirkt die materialistische Geschichtsauffassung, wie sie sie verstehen, in der Weise, dass sie ihre Tatkraft lähmt, und deshalb wünschen sie, dass auf der Parteischule nicht Theorie, sondern hauptsächlich der Stoff gelehrt wird, die stoffliche Seite des Lebens. Sie haben gar keine Ahnung davon, dass das Proletariat den Stoff aus dem täglichen Leben kennt, das Proletariat kennt „den Stoff" besser als Eisner. (Lebhafte Zustimmung.) Was der Masse Not tut, ist die allgemeine Aufklärung, die Theorie, die uns die Möglichkeit gibt, den Stoff zu systematisieren und zu einer tödlichen Waffe gegen die Gegner zu schmieden. (Lebhafte Zustimmung.) Wenn mich irgendetwas überzeugt hat von der Notwendigkeit der Parteischule, der Verbreitung des Verständnisses für die sozialistische Theorie in unseren Reihen, so ist es die Kritik von Eisner. (Lebhafter Beifall.) 1 Redaktionelle Überschrift. 2 Einige Opportunisten, besonders Kurt Eisner und Max Maurenbrecher, versuchten, unter dem Deckmantel der Kritik an der Parteischule und dem Lehrprogramm die Verbreitung und Vertiefung des wissenschaftlichen Sozialismus in der Arbeiterbewegung zu verhindern und die Bildungsarbeit der Sozialdemokratie in bürgerliche Bahnen zu lenken. |
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