Rosa Luxemburg: Rede zur Budgetfrage auf dem Parteitag in Nürnberg 1908 [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908, Berlin 1908, S. 363-365. Nach Gesammelte Werke, Band 3, 1925, S. 446-449.] Wir haben seit einer Reihe von Jahren fast auf jedem Parteitag eine lebhafte Auseinandersetzung über die Grundfragen unseres Prinzips und unserer Taktik gehabt. Gerade jetzt jährt es sich zum zehnten Male, seit wir auf dem denkwürdigen Parteitag in Stuttgart die erste große Auseinandersetzung mit der sogenannten revisionistischen Richtung hatten. Seitdem hatten wir solche Auseinandersetzungen aus diesem oder jenem Anlass fast jedes Jahr, und mehr als einmal wurden diejenigen, die in jener Richtung die größte Gefahr für die Partei erblickten, der Schwarzseherei und des Pessimismus beschuldigt. Nun, ich glaube, noch in keiner Parteidebatte ist mit solcher Schärfe, Klarheit und Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen, wohin die Partei steuert, wenn sie dieser Richtung nachgeben würde, wie in dieser Debatte. (Sehr richtig!) Hier haben wir nicht mehr Diskussionen über abstrakte theoretische Fragen, hier handelt es sich um eine eminent praktische Frage, um die Frage des politischen Handelns der Partei, um eine Frage, deren Bedeutung auch von den breitesten Massen begriffen wird. Und was stellt sich dabei heraus? Dass wir, wenn es in der Richtung weitergeht, die jetzt in Süddeutschland vertreten ist, schließlich vor die Alternative gestellt werden: bürgerliche Reformpartei oder Anarchismus? Worauf lief die ganze Beweisführung von Timm, Frank, Hildenbrand hinaus? Das Leitmotiv ihrer Reden, ebenso wie der Grundgedanke aller Pressäußerungen ihrer Gesinnungsgenossen David, Kolb u. a. lief darauf hinaus: Entweder erkennen wir, dass wir auf dem Boden des heutigen Staates wichtige Errungenschaften positiver Natur erzielen können, und dann sei es notwendig, unsere unnütze grundsätzliche Feindschaft gegen den bestehenden Staat, deren unabweisbare Konsequenz die Ablehnung des Budgets des Klassenstaates ist, aufzugeben – oder wir sollen offen erklären: Auf dem Boden des bestehenden Staates ist keine namhafte Errungenschaft möglich. Dann aber sollen wir die Konsequenzen ziehen: heraus aus den Parlamenten, dann hätte unser Kampf um die Erringung der politischen Rechte gar keinen Sinn. Das wurde uns gestern gesagt. Dass es eine Politik geben kann, die ebenso weit entfernt ist von bürgerlicher Reformpolitik wie von anarchistischen Hirngespinsten, dass es eine sozialistische Klassenpolitik geben kann, die mit allein Nachdruck um positive Errungenschaften kämpft, zugleich aber mit ebenso kräftigem Nachdruck die prinzipielle Feindschaft gegen den bestehenden Staat auf Schritt und Tritt – und zwar auch durch die Budgetabstimmung – zum Ausdruck bringt, dafür scheint den Genossen in Süddeutschland, wenigstens in den Parlamenten, der Sinn abhanden gekommen zu sein. Sie haben den besten Beweis selbst durch ihre Verteidigungsreden geliefert, auf eine wie schiefe Bahn man sich begibt, wenn man sich auf ihren Standpunkt stellt. Dann, worauf lief die Verteidigung von Timm hinaus? Auf eine unbeabsichtigte, aber umso wirksamere Glorifizierung der Zentrumspartei in Bayern. (Sehr richtig!) Und worauf lief die Verteidigung von Frank hinaus? Auf ein ebenso unbeabsichtigtes, aber umso wirksameres Plädoyer für die fortschrittlichen Minister der badischen Regierung. (Sehr richtig! Zurufe bei den Süddeutschen.) Ich weiß, Ihr habt im Landtag ganz anders die Haltung der Regierung gekennzeichnet. Aber der Widerspruch zwischen jenen Worten und Euren Worten hier zeigt gerade so recht, wie Ihr Euch mit Eurer überschlauen Diplomatie in die Nesseln gesetzt habt. (Sehr gut!) Ich müsste mich sehr irren, wenn nicht eure Reden von gestern uns nochmals in die Hände kommen, und zwar in Flugblättern des Zentrums und in den Kreisblättern der Regierung. Dort wird es heißen: Freilich, dieselben Leute haben uns im Parlament – natürlich aus Diplomatie – ganz anders heruntergerissen, aber ihren eigenen Brüdern und Genossen haben sie wohl eher ihre ehrliche Überzeugung gesagt, und dort haben sie alles gelobt, was wir geleistet haben. Anstatt auf Schritt und Tritt den Massen zu zeigen, wie erbärmlich, wie geringfügig das ist, was Ihr errungen habt, habt Ihr Euch logisch gezwungen (Zurufe: Wer hat die Schuld daran?) – unterbrechen Sie mich nicht, Sie haben unbeschränkte Redezeit gehabt (Sehr gut!) –, diese Lappalien ins Große zu ziehen und uns in übertriebener Weise als etwas ganz Wichtiges, als große Errungenschaft hinzustellen. Frank sagte: Weil die Parteipresse auf den Bahnhöfen verkauft werden kann, befinden wir uns auf dem Wege der politischen Gleichberechtigung (Lachen), und weil das Budget einer Staatsarbeiterfamilie von 600 und 700 Mark auf 1000 Mark erhöht ist, eine Zulage, die bei weitem nicht ausreicht, um den Ausfall, der durch den Hungertarif entstanden ist, zu decken, deshalb können wir nicht mehr der Regierung unser Misstrauen ausdrücken. Ei, Parteigenossen, die Politik der Diplomatie und der staatsmännischen Klugheit ist eine Schule der Bescheidenheit. (Sehr gut!) Wie diese Bescheidenheit im Anfang aussieht, zeigen uns die süddeutschen Parlamentarier, aber wie sie am Ende aussieht, das zeigt uns der Blockfreisinn in Deutschland. (Lebhafte Zustimmung.) Frank hat den großen Schatten Lassalles heraufbeschworen. Lassalle hätte besser als wir gewusst, was die Massen in Deutschland fühlen und erstreben. Nun, es war kein anderer als Lassalle, der das bekannte Wort geprägt hat von der verdammten Bedürfnislosigkeit der Massen, er erblickte seine Aufgabe als Sozialist darin, die Massen zur Unzufriedenheit zu erziehen, ihre Forderungen so hoch zu stecken, dass alles, was man hier erringen kann, dagegen als eine Lappalie erscheint. Wir haben als Sozialdemokraten bis jetzt genau so gehandelt. Wir haben die Massen gelehrt, die Errungenschaften, die wir im bestehenden Staat erzielen können, nicht an dem Elend von anno dazumal zu messen, sondern an dem, was den Massen noch vorenthalten ist, mit einem Wort an dem Endziel. (Sehr richtig!) Wir haben die Massen dazu erzogen, an diesem Endziel zu sehen, dass alles, nicht nur das Recht, die Parteipresse auf den Bahnhöfen zu verkaufen, sondern alles andere, was wir durchsetzen können, nur erbärmliche Abschlagszahlungen sind. Man spricht von der Notwendigkeit, die indifferenten Massen zu gewinnen. Ich behaupte, es liegt darin eine unerhörte und unverdiente Verleumdung der proletarischen Massen in Deutschland und ebenso eine kolossale Unterschätzung der Werbekraft unseres sozialistischen Endziels, wenn man es so hinstellt, als wären es hauptsächlich diese winzigen Errungenschaften, diese erbärmliche Sozialreform, womit wir die Anhängerschaft der proletarischen Massen bis jetzt erkauft haben. Womit haben wir denn die Massen unter dem Sozialistengesetz gewonnen, wo wir ihnen nichts bieten konnten, womit haben wir sie in Preußen gewonnen, wo wir überhaupt keinen Zutritt im Parlament bis jetzt hatten? Und bedenken Sie, womit wir die Millionen unserer Anhänger in Zukunft festhalten und neue gewinnen, wenn, wie es sich aus der immer zunehmenden Verschärfung der politischen Gegensätze in Deutschland unabweisbar ergibt, die positiven Errungenschaften der Sozialreform immer weniger und nicht mehr möglich werden. (Sehr gut!) Bis jetzt haben wir das Vertrauen von Millionen nicht durch Trinkgelder und winzige Konzessiönchen erhalten, sondern durch unsere rücksichtslose Kritik alles Bestehenden und durch unser soziales Zukunftsideal. (Lebhafte Zustimmung.) Wohin man kommt, wenn man von diesem Wege abgeht, wenn man glaubt, die Massen nur durch positive Trinkgelder erkaufen zu können, das zeigen wiederum jene bürgerlichen Reformparteien und die Nationalsozialen an erster Stelle: man kommt zum Schluss um das Vertrauen der Masse und um die Achtung der politischen Gegner, man gewinnt nichts, man verliert alles. Bürgerliche Reformpolitik, das war das eine Leitmotiv in allen Reden von dieser Seite. Und das andere Leitmotiv war: Wir fügen uns nicht, ihr könnt abstimmen wie ihr wollt. Das heißt denn doch die Dinge ein wenig auf den Kopf stellen, wenn die Genossen Frank, Timm und Hildenbrand und ihre Gesinnungsgenossen sich hier als die Gekränkten, die Verfolgten, die man vergewaltigen will, hinstellen. Erinnern wir uns doch in aller Ruhe kurz, wie die Dinge lagen. Die süddeutschen Parlamentarier haben entgegen allen Meinungsäußerungen der großen Mehrheit der Partei für das Budget gestimmt, obwohl sie vorher durch ihre Kollegen gewarnt waren, dass es einen Skandal in der Partei geben würde. Sie haben der obersten Parteibehörde jede Auskunft über ihre Beschlüsse versagt (Widerspruch), sie haben den Parteitag im Voraus eine Polizeikomödie genannt. (Sehr richtig!) Sie haben versucht, die süddeutschen Parteigenossen, unsere Brüder, zur Nichtbeschickung unseres Gesamtparteitages aufzustacheln. (Sehr richtig!) Und nach alledem wenden sie sich hier gegen eine Resolution, die in der ruhigsten und sachlichsten Weise (Lachen) das knappste Minimum von dem sagt, was gerade notwendig ist, um den Standpunkt der Partei zu wahren. Alles Übrige wird mit dem Mantel der christlichen Liebe verdeckt, und dabei setzen sie uns noch die Pistole auf die Brust und drohen uns mit Uneinigkeit. Parteigenossen, eine Einigkeit, die dadurch erkauft ist, dass die Majorität einer demokratischen Partei sich ihres Grundrechts begibt, ihre Meinung zu formulieren und bindende Regeln für ihre sämtlichen Mitglieder auszusprechen, ist eine Illusion. Wir dürfen solchem Treiben nicht entgegenkommen, die Einigkeit im Innern muss gewahrt werden. Wir haben allen Grund, dieser für uns den politischen wie den organisatorischen Ruin bringenden Richtung endlich kräftig zuzurufen: Bis hierher und nicht weiter! (Lebhafter Beifall.) |
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