Rosa Luxemburg: Unser Marokkoflugblatt [Leipziger Volkszeitung, Nr. 197 vom 26. August 1911. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 32-36] Es hat sicher weite Parteikreise mit Genugtuung erfüllt, dass unsre Partei, nachdem sie sich endlich entschlossen hatte, eine Massenaktion gegen die Marokkoaffäre zu entfalten, sogleich auch ein Flugblatt zu diesem Zwecke herausgegeben hat. Weniger als öffentliche Versammlungen anregend, aber dafür viel nachhaltiger in ihrer Wirkung als diese, sind Flugblätter berufen, Aufklärung in die breitesten Volksmassen zu tragen, mit unsrer Auffassung auch solche Kreise bekannt zu machen, die noch nicht aufgerüttelt genug sind, um in sozialdemokratische Versammlungen zu kommen. Als Pioniere, die uns den Weg in noch nicht gewonnene Kreise bahnen müssen, und als Mittel, in den bereits gewonnenen die sozialdemokratische Weltanschauung immer wieder zu befestigen, sind die Flugblätter für uns eine außerordentlich wichtige Waffe, ihrer Abfassung muss die Partei die größte Aufmerksamkeit widmen. Sieht man sich nun das Flugblatt über die Marokkoaffäre an, so wird man unwillkürlich an das Sprichwort gemahnt: Gut Ding will Weile haben! Wäre der Entschluss zur Aktion gegen die Kriegshetze nicht mit Verspätung in solcher Hast gefasst und wäre das Flugblatt nicht von heute auf morgen fertiggestellt worden; so hätten wir wahrscheinlich etwas Brauchbares bekommen. In seiner jetzigen Fassung aber, das muss leider gesagt werden, ist das in Hunderttausenden verbreitete Flugblatt beinahe verlorene Mühe. Das erste, was man von einer Flugschrift erwarten muss, die den Marokkohandel sozialdemokratisch beleuchten soll, ist wohl der Zusammenhang der Weltpolitik mit der kapitalistischen Entwicklung. Vor allem muss doch den Volksmassen beigebracht werden, was die heutige Weltpolitik überhaupt sei. Lautet doch auch der Titel des Flugblatts: Weltpolitik, Weltkrieg und Sozialdemokratie. Das erste Wort also müsste die Aufklärung über das Wesen der Weltpolitik sein, und zwar die Auseinandersetzung ihres Zusammenhangs mit der hohen Reife des heutigen Kapitalismus. Dieser Zusammenhang bildet ja das einzige Mittel, unsre Stellung zur Weltpolitik wie die Verbindung der letzteren mit dem Sozialismus historisch zu verankern. Sonst bleibt nur die “ethische" Entrüstung über das Unmenschliche der Kriege übrig oder der bornierte Krämerstandpunkt: Uns Arbeitern blüht kein Geschäft aus der Weltpolitik. Das Parteiflugblatt enthält nun über das Wesen der Weltpolitik und ihren Zusammenhang mit dem Kapitalismus, über das A und O unsrer Auffassung nicht ein Wort. Von der Weltpolitik als einer internationalen Erscheinung ist überhaupt nicht die Rede. Das Flugblatt beginnt sofort mit dem Gegensatz zwischen Deutschland und England und stellt das ganze Problem ausschließlich auf diesen Gegensatz. England und Deutschland, Deutschland und England — so geht es durch das ganze Flugblatt, das dadurch wie infolge seiner allgemeinen entsetzlichen Flachheit mehr den Eindruck einer sozialdemokratischen Kannegießerei als einer sozialdemokratischen Analyse großer Probleme macht. Weiter müsste man unseres Erachtens erwarten, dass in dem Flugblatt der Zusammenhang der Weltpolitik im Allgemeinen und der Marokkoaffäre im Besonderen mit der inneren Entwicklung Deutschlands, mit dem Militarismus, Marinismus, mit der Finanz- und Steuerpolitik, mit dem Stillstand und der Reaktion auf sozialpolitischem Gebiete, mit der Unhaltbarkeit der ganzen inneren Lage wenigstens berührt wäre. Aber nicht ein einziges Wort finden wir darüber im Flugblatt. Wo Deutschlands Rüstungen erwähnt werden, sind auch diese lediglich vom Standpunkte des Gegensatzes mit England, nämlich als Quelle dieses Gegensatzes erwähnt. Woher aber diese Rüstungen und der Weltmachtsdrang Deutschlands wie aller andern Staaten rührt, bleibt im dunkeln und wird überhaupt nicht berührt. Wir wissen wohl: Ein Flugblatt ist keine gelehrte Abhandlung, es muss kurz und populär sein. Das kann uns aber unter keinen Umständen davon entbinden, unsre wichtigsten, grundlegendsten Anschauungen über das behandelte Problem, wenn auch mit knappen Worten, darzulegen. In dem besprochenen Flugblatt fehlt jede Erwähnung dieser Anschauungen nicht aus Raummangel, sondern deshalb, weil die ganze Sache auf eine falsche Basis gestellt worden ist. Statt die Marokkoaffäre nur als eine Teilerscheinung der internationalen Weltpolitik in großen allgemeinen Zusammenhängen zu erfassen, wie es der Titel verspricht, verbohrt sich das Flugblatt in den partiellen Gegensatz zwischen Deutschland und England, und statt — was nur die Konsequenz davon — die Weltpolitik als ein gesetzmässiges Produkt der kapitalistischen Entwicklung zu erklären, müht es sich umgekehrt die ganze Zeit ab, sie als eine Sinnlosigkeit, als einen Blödsinn auch vom Standpunkte der kapitalistischen Gesellschaft hinzustellen. Von diesem originellen Einfall geleitet, sucht das Flugblatt auf Schritt und Tritt zu beweisen, dass die Welt- und Kolonialpolitik auch für die besitzenden Klassen gar kein Gewinn, vielmehr eine Last wäre. Die Partei kommt dadurch nicht bloß in einen bizarren Widerspruch mit der offenkundigen Tatsache, dass heute sämtliche besitzenden Klassen in Deutschland wie in den andern Staaten kolonialpatriotisch, militärfromm und nationalistisch gesinnt sind, nicht bloß in die komische Lage, die eigenen Interessen der bürgerlichen Klassen besser verstehen zu wollen als diese Klassen selbst, was gewöhnlich gerade umgekehrt der Fall ist. Die Partei übernimmt hier auch noch das Amt, die kapitalistische Weltpolitik und den Militarismus statt vom Standpunkt des proletarischen Klassenkampfes vielmehr im Namen einer angeblichen Interessenharmonie in diesem Punkte zwischen dem Proletariat und “der Masse der besitzenden Klassen" zu bekämpfen! Man kann sich schwer etwas Verkehrteres einfallen lassen. Und um diese phantastische Interessenharmonie zu beweisen, versteigt sich das Flugblatt dazu, von den bürgerlichen Klassen zu behaupten, sie seien gar nicht kriegspatriotisch, sie seien “ängstlich für den Frieden besorgt". Ihre Begeisterung aber für die Weltpolitik wird zu einem Teil aus barer Unwissenheit erklärt — woraus für die Sozialdemokratie beinahe die Aufgabe erwächst, nicht das Proletariat, sondern vor allem die bürgerlichen Klassen über ihre wahren Interessen aufzuklären —, zum andern Teil aus der “Bedientenhaftigkeit und Streberei"! Diese letzteren Gründe sind namentlich die einzige Erklärung für die gegenwärtige Haltung des Freisinns wie des Zentrums gegenüber dem Militarismus und der Weltpolitik! Die Tiefe in der Auffassung der inneren parteipolitischen Entwicklung Deutschlands entspricht ganz der Tiefe in der Auffassung seiner weltpolitischen Entwicklung. Was ist schließlich jenes große Geheimnis, dessen Unkenntnis die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland zu ihrer verfehlten Begeisterung für die Weltpolitik verleitet und dessen Kenntnis den Schlüssel zur sozialdemokratischen Stellung abgibt? Es ist dies die Tatsache, dass die “glänzende englische Kolonialpolitik" ein für allemal für andre Staaten unerreichbar sei, dass die Zeiten der fetten Kühe der Weltpolitik vorbei seien. Die englische Kolonialpolitik beruhte auf der kriegstechnischen Wehrlosigkeit der außereuropäischen Nationen und auf ihrer zurückgebliebenen staatlichen Organisation, seitdem aber werden im Orient überall europäische Technik und europäische Einrichtungen eingeführt, und da ist Kolonialherrschaft nicht mehr möglich. Damit ist das Problem der Weltpolitik erschöpft! Es gehörte der Raum des ganzen Flugblatts dazu, um alle die historischen Schiefheiten zu erörtern, die in dieser kurzen Formulierung des Problems eingeschlossen sind. Jedenfalls wird man bei den Versicherungen des Flugblatts von der Unwissenheit der bürgerlichen Parteien in weltpolitischen Fragen unwillkürlich verlegen. Doch das Wichtigste: Auch in diesem Knäuel von historischen Schiefheiten kommt nur zum Ausdruck die grundsätzlich verfehlte Basis, von der aus die Weltpolitik angegriffen wird. Es wird hier nur mit dem abgebrauchten Schema gearbeitet, wonach die Kolonialpolitik ein schlechtes Geschäft für alle sei. Danach bekämpfen wir die Kolonialpolitik nur, weil sie nichts einbringt, und so wird den Massen bewiesen, um sie der Kolonialpolitik abhold zu machen, dass diese auch wirklich nichts mehr einbringen kann. Die andre Seite dieser Auffassung ist, dass das Interesse der Bourgeoisie an der Weltpolitik mit direktem klingendem Profit, mit nacktem Tascheninteresse identifiziert wird, woraus sich ergibt, dass von der ganzen bürgerlichen Gesellschaft nur eine Handvoll Flottenlieferanten die Weltpolitik stützen, die im Übrigen in der Luft hängt, wahrend die Begeisterung aller besitzenden Klassen auf Unwissenheit, Servilität und dergleichen lauter psychologischen Grundlagen beruht. Fügen wir noch hinzu, dass in dem ganzen Flugblatt nicht ein Wort von den Völkern, von den Eingeborenen der Kolonien, von ihren Rechten, Interessen und Leiden infolge der Weltpolitik gesagt wird, dass das Flugblatt mehrmals von der “glänzenden englischen Kolonialpolitik" spricht, ohne den periodischen Hungertyphus der Inder, die Ausrottung der Eingeborenen Australiens, die Nilpferdpeitsche auf dem Rücken der ägyptischen Fellahs zu erwähnen; fügen wir hinzu, dass in dem Flugblatt nicht ein Wort von der beschämenden Lage des deutschen Volkes gesagt wird, das völlig unmündig der Entscheidung Kiderlens in der Marokkofrage harrt, nicht ein Wort von der kläglichen Rolle des Reichstags und der Notwendigkeit seiner Einberufung, nicht ein Wort von dem persönlichen Regiment der Monarchie und seiner Rolle in der Weltpolitik und schließlich — nicht ein Wort vom Sozialismus und seinen Zielen! Wir sind uns wohl bewusst, es ist leichter zu kritisieren als zu schreiben, und es ist leichter, einen Zeitungsartikel zu schreiben als ein populäres Flugblatt. Die besten Absichten waren sicher bei den Herausgebern des Flugblatts vorhanden. Es scheint uns aber doch zweifellos zu sein, dass wir mit einem solchen Flugblatt unsern Aufgaben nicht gerecht werden können und dass wir anderseits ein viel geeigneteres, besser durchdachtes Flugblatt bekommen hätten, wenn die Aktion mit ruhiger Überlegung, Gründlichkeit und kritischer Prüfung, nicht aber mit Hast und Plötzlichkeit unternommen worden wäre. Jedenfalls beweist dieses offizielle Parteiflugblatt ebenso wie die Tatsache, dass im Zentralorgan die Bernsteinschen Artikel unwidersprochen erscheinen konnten, dass die Marokkofrage und die Weltpolitik noch in unsern Reihen einer Klärung bedürfen, dass sie mit Schlagworten gegen den Krieg nicht abgetan sind und dass sich der Parteitag mit diesem Problem ernst und eingehend befassen muss.
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