Rosa Luxemburg 19050516 Gegen sozialdemokratische Juliane

Rosa Luxemburg: Gegen sozialdemokratische Juliane

[Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 111 vom 16. Mai 1905. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 573-577]

Unsere Parteipresse hat in verschiedenen Tonarten den Schöpfer Tells und Wallensteins gefeiert, und gewiss, jedes von den sozialdemokratischen Blättern Schiller gespendete Wort der Begeisterung und des Dankes, mag es hie und da auch etwas unbeholfen ausgefallen sein, war unvergleichlich aufrichtiger und ehrlicher gemeint als die prunkvollen, verstiegenen und gelahrten Hymnen, die sich die bürgerliche Presse geleistet hat.

Allein, auch bei dieser Gelegenheit sollte es in unseren Blättern nicht an Leistungen fehlen, die von gutem Willen zeugen mögen, jedoch im Interesse Schillers wie des lesenden Arbeiterpublikums lieber hätten unterbleiben sollen. So ist uns z. B. ein Schiller-Artikel aufgefallen, der seltsamerweise sogar durch einen beträchtlichen Teil der Parteipresse die Runde gemacht hat, der aber – um es rundheraus zu sagen – ein so konfuses Wortgebimmel von Anfang bis zu Ende darstellt, dass man geneigt wäre, seine Veröffentlichung einfach auf ein Versehen der Redaktion zurückzuführen, wenn dies „Versehen" leider nicht einer so großen Anzahl unserer Blätter passiert wäre.

Jede sachliche und stilistische Kritik dieser merkwürdigen Leistung verbietet sich von selbst, und es bleibt nur übrig, einige Proben hier leibhaftig abzudrucken. Gleich der Anfang des Artikels ist eine Perle in jeder Hinsicht:

Heute vor hundert Jahren starb er, fünfundvierzig Jahre alt. Er hatte das Schicksal aller großen Wahrheiten – bisher –, er starb zu früh. Alle menschliche Kultur- und Geistesgeschichte – bisher – ist eine Geschichte vom vorzeitigen Sterben."

Und nach diesem Generalbegräbnis der „großen Wahrheiten" geht es mit Grazie fort:

Die glänzenden Wahrheiten antiker Weisheit waren längst veraltet, als das Volk des Mittelalters in starrer Unwissenheit dahinlebte, dem Bettler gleich, unter dessen elender Hütte ein köstlicher Kronschatz vergraben liegt (!!); er aber weiß es nicht und siecht kümmerlich dahin; ein undurchdringlicher Bodensatz von Schmutz und Unflat trennt ihn von Glanz und Glück. Dann kamen zur Zeit der Reformation die Humanisten, die den Kampf wider die Dunkelmänner aufnahmen und mühsam den Schutt hinweg zu räumen begannen. Jetzt drang ein Strahl des aufgehenden Lichts auch in die Werkstatt des schaffenden Volkes, und Hans Sachs, der Schuhmacher, jubelte der rotbrüstigen Morgenröte entgegen. (!!) Vorbei! Der Dreißigjährige Krieg, die Gegenreformation, der ersterbende Monarchismus zertrümmerten die Anfänge einer neuen menschlichen Kultur (!!), und wie im tiefsten Mittelalter decken dichte Schleier der Unwissenheit das weite Land. Seit dem Ende des furchtbarsten aller Kriege waren drei Menschengeschlechter gekommen und gegangen; das vierte aber, dem Friedrich Schiller entspross, ward ein Geschlecht der Befreier, das erste in einer Reihe, die noch nicht abgeschlossen ist und deren Glieder nach der Zukunft weisen.

Aber auch hier noch wiederholt sich das ewige traurige Motiv der menschlichen Geschichte: der Frühtod der Wahrheit! (!!) Vor hundert Jahren starb Schiller; der ganze Geistesschatz seines Lebens wurzelt in einer Zeit, die uns fremd geworden ist – selbst seine Sprache ist nicht mehr ganz die unsere. Aber Friedrich Schillers Wahrheit ist in den fünfundvierzig Jahren seines Lebens und in den hundert Jahren seit seinem Tode keinen einzigen Tag das geistige Gemeineigentum der deutschen Nation gewesen: Noch ehe sie sich zur Vollkraft entwickelte, alterte sie und schwand stückweise dahin. (!!) Freilich, ein leuchtender Stern blieb. (!!)

Wenn die bürgerliche Gesellschaft die Schillerfeier als eine ,Nationalfeier' zu begehen vorgibt – ja, wer ist die deutsche Nation? Es ist eine heuchlerische gleißende Lüge, wenn man schlechtweg sagt, dass Friedrich Schiller der Dichter des Volkes sei. Das deutsche Volk hat keinen Dichter! (!!) Man kann keinen Dichter haben, wenn man, nachdem einem in der Volksschule der Kopf mit Religion und Patriotismus vollgetrichtert worden ist, mit rauer Hand in den Lebenskampf hineingestoßen wird, vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Maschine steht und kärgliche Arbeitspausen mit Schlaf und der Sorge um morgen ausfüllt! (!!)...

Zunächst das Einfachste: Schiller war ein Dichter, das heißt ein Mann, der aus Worten Kunstwerke schuf. (!) Der Genuss von Kunstwerken verschafft, ungeachtet ihres besonderen geistigen Inhalts, ein reineres, tieferes echteres Glück, als der begreifen kann, der solches Glück nicht kennt. (!) In diesem Sinne (!) sind Schillers Werke dazu bestimmt, das geistige Gemeingut des ganzen Volkes zu sein, ohne Rücksicht auf Stand, Klasse und Parteiung. Soweit es sich um ihren abstrakten Schönheitswert (!) handele, steht ihnen der am nächsten, der die größte Genussfähigkeit besitzt, sowie nicht der die größte Freude an Homer hat, der an griechische Götter glaubt, sondern vielmehr jener, der die beste Kenntnis der griechischen Sprache mit der stärksten Vorstellungskraft verbindet. (!) Schiller hat Dramen und Gedichte geschrieben, die einfach schön sind (!), so dass die Freude an ihnen auch nicht beeinträchtigt werden kann, wenn man mit den Gedanken, die in ihnen ausgedrückt sind, etwa gar nicht einverstanden sein sollte. Schiller, so lautet die marktgängige literarische Phrase, hat ,uns' das deutsche Drama gegeben, er hat das deutsche Theater belebt, das sich ohne seine Werke heute nicht mehr denken ließe. Aber wem gehört das deutsche Theater? Etwa ,uns'? (!!) Und wenn Schillers Dramen zeitweilig stark von der Bühne verdrängt wurden, um plattem Alltagstand Platz zu machen – war es der Geschmack des deutschen ,Volkes', der sie von da verdrängte? Allüberall, in den größeren Städten, in denen die breiten arbeitenden Massen auf irgendwelche Weise dazu kamen, einigen Einfluss auf den Spielplan der Schaubühne auszuüben, vollzog sich auch die Einsetzung Schillers in seine Rechte. Denn diese Massen empfanden die allbezwingende Macht des Gesanges (!!), fühlten die Schönheit der großen Dichtung. Mit allen großen Dichtern hat Schiller das gemein, dass er keine übertriebenen Ansprüche an die gelehrte Bildung seiner Hörer stellt. (!) Wenn früher gesagt worden ist, das deutsche Volk habe keine Dichter, so muss hinzugefügt werden: es könnte seine großen Dichter haben, ohne ein Volk von Professoren werden zu müssen. (!!) Es braucht dazu nur ein wenig Muße, ein wenig Sorglosigkeit, ein wenig Zeit und ein wenig Geld (!!)...

Die große geistige Tat aber, die das achtzehnte Jahrhundert vollbrachte, war die Entthronung der Gottheit und die Inthronisation des Menschen. (!!) Was immer man von der Wiedereinsetzung des Gottesbegriffes durch Kants Kritik der reinen Vernunft (!!) halten mag – soviel ist gewiss, dass dieser neugeschaffene Gott nichts mehr mit jenem der positiven Religion gemein hat. Die Kritik der reinen Vernunft hat zwischen alter und neuer Zeit in revolutionärer Weise jedes Bindeglied zerrissen. Gott hat nicht den Philosophen geschaffen, sondern der Philosoph Gott. Die Religion erschien kulturhistorisch als ein Hebel des menschlichen Fortschritts, aber sie hatte aufgehört, als die eine absolute Wahrheit zu gelten; die denkende Vernunft und die moralische Gesetzlichkeit waren die neuen Herren einer neuen Welt. Solche Gedanken hat Schiller wohl nicht selbst gefunden (!!), aber in ewig klare Formen geprägt (!!)...

An die Stelle eines tyrannischen Pfaffengottes tritt der selbstgewollte Gott (!) des ,ewigen Willens', an die Stelle einer abergläubischen Vorstellung eine philosophische Abstraktion, die dem menschlichen Fortschritt zu Wahrheit und Freiheit nicht mehr hemmend im Wege steht. Das Gesetz aber, das Schiller gegen die Schmähungen des ,Sklavensinnes' verteidigt, ist nicht das kirchliche noch das staatliche, sondern das moralische Gesetz, das in der Brust des Menschen lebt.

Gegenüber dem trügerischen Materialismus der Dogmenreligion (!!), die mit grob-sinnlichen Vorstellungen arbeitet, erhebt sich das revolutionäre System des Idealismus, das die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt der Welt stellt. Das menschliche Denken erkennt die Begrenztheit seiner Erkenntnisfähigkeit..."

Und so weiter und so weiter im gleichen Wahnwitz fortgefahren durch mehrere Spalten.

Es wäre wahrhaftig ein zu billiges Vergnügen, einen schwachen und verfehlten Artikel aus einem sozialdemokratischen Provinzblatt herauszugreifen, um daran herumzumäkeln. Unsere Provinzredakteure sind gewiss geplagte Wesen, und ihre Arbeitsbedingungen sind beschwerlich genug, um eine übermäßige Strenge im Urteil und ein übertriebenes Maß von Anforderungen speziell an literarische Artikel zu stellen. Aber abgesehen davon, dass es sich bei der Schiller-Feier doch gewissermaßen um einen „Extrafall" handelte, bei dem auch eine Extraportion von Fleiß und Mühe seitens unserer Redakteure sehr wohl angebracht war, liegt das Empörende in der Leistung, von der wir hier ausreichende Proben gegeben haben, nicht in dem unzureichenden Inhalt, sondern in der so vielseitigen totalen Unwissenheit, die sich aber zugleich in prätentiösester Weise mit dem Schein der Bildung zu schmücken sucht. Dieses alberne Geschwätz über Homer, Kant, Materialismus, Idealismus, Feudalismus, Religionsphilosophie, Hans Sachs, Humanisten und Gott weiß was noch, dieses Umsichwerfen mit hohlen und verstiegenen Redensarten, von denen wohl auch die sieben Weisen von Griechenland mit vereinten Kräften nicht ein Sterbenswort verstehen würden, das ist viel schlimmer als einfaches geistiges Nichtkönnen, es ist – geistige Korruption. Und die Tatsache, dass gerade auf diesen klingenden Wortschwall so viele unserer Provinzredakteure hereingefallen sind, zeugt von einer ganz verfehlten geistigen Geschmacksrichtung ihrerseits. Man sollte meinen, dass im Lande, wo Lassalle an dem Literaturhistoriker Julian Schmidt seine unsterbliche Exekution ausgeführt hat, am allerwenigsten in den Reihen von Lassalles eigenen Jüngern das julianische Unkraut aufschießen dürfte. Mag unsere Parteipresse den Arbeitern hie und da – wenn sie es nicht besser kann – nur eine magere Kost servieren. Aber echt und gesund und unverfälscht muss sie sein, darauf hat unsere Arbeiterschaft einen unbestreitbaren Anspruch! Und gegen die ganze jetzt leider aufkommende Richtung in unseren Literatenkreisen, die zur äußerlich prätentiösen überladenen Ausschmückung einer schillernden Gedanken- und Wissensarmut neigt, muss im Interesse der geistigen Hebung der proletarischen Massen, die nur auf uns angewiesen sind, mit aller Entschiedenheit Front gemacht werden.

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