Rosa Luxemburg 19020621 Düsseldorf und Stuttgart

Rosa Luxemburg: Düsseldorf und Stuttgart

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 21. Juni 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 229-231]

Gleichzeitig tagen in Deutschland zwei wichtige Kongresse für soziale Arbeiterfürsorge: der internationale Arbeiterversicherungskongress und der 4. deutsche Gewerkschaftskongress. Hier wie dort soll dasselbe Werk – die praktische Sozialreform – betätigt werden. Und doch gestalten sich die beiden Kongresse zu einer eklatanten Kundgebung des Gegensatzes: hie bürgerliche, hie proletarische Sozialreform. In Düsseldorf eine erlauchte Gesellschaft: wirkliche und geheime Oberregierungsräte, Minister, Bürgermeister, Leuchten der offiziellen Wissenschaft, Repräsentanten des großen industriellen Geldsacks; in Stuttgart die homogene graue Masse des deutschen Arbeitervolkes. In Düsseldorf führen das geistige Szepter – Graf Posadowsky, der Vater der Zuchthausvorlage, und der lange Möller, der zärtliche Pflegevater der Unternehmerkartelle. Sie sind es, die das internationale Exzellenzen-Konventikel der offiziellen bürgerlichen Sozialreform als Wirte begrüßen, ihm seine Pflichten vor die Augen führen, ihm die Aufgabe stecken.

Die Milderung und Ausgleichung „der tiefen Gegensätze, die das lebende Geschlecht belasten" –, dies der vom Staatssekretär Posadowsky formulierte Zweck der offiziellen Sozialreform. – Und als Antwort darauf erklärt am gleichen Tage der Gewerkschaftskongress: „Zwischen der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften kann keine Trennung statthaben, beide müssen sich ergänzen." Dort also ist Klassenaussöhnung, hier Klassenkampf die Parole. Und auf die Hoffnungen der Exzellenzen-Sozialreform antwortet die proletarische: lasciate ogni speranza, lasst alle Hoffnung fahren! Auch außer diesem Grundgegensatz, auch im Detail, bieten die zwei Kongresse ein interessantes Pendant zueinander. Seit im Jahre 1847 durch den historischen Ruf Marxens: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! die internationale Arbeiterbewegung aus der Taufe gehoben wurde, dauert eine wütende Hetze aller „gutgesinnten" Parteien und Gruppen, aller Vertreter der bestehenden Ordnung, der ganzen bürgerlichen Welt – gegen die „vaterlandslosen Gesellen", gegen den internationalen Gedanken des Proletariats. Je mehr die Arbeiterklasse aller Länder sich zum höchsten kulturellen und historischen Weltbürgertum entwickelt, um so krampfhafter stürzt sich die alternde Bourgeoisie einem barbarischen Chauvinismus in die Arme. Und nun, was sehen und hören wir? „Ich sehe das Schwergewicht Ihrer Versammlung nicht in der noch so schätzenswerten Behandlung von Einzelfragen, sondern vielmehr in dem sichtbaren Ausdruck einer gemeinsamen internationalen sozialpolitischen Überzeugung". So sprach der offizielle Vertreter der deutschen Reichsregierung, Graf Posadowsky, auf dem Kongress in Düsseldorf. Der Schöpfer der Zuchthausvorlage, der den sozialpolitischen Internationalismus feiert und auf den Schild erhebt –, das ist wohl einer der größten Triumphe der proletarischen Vaterlandslosigkeit!

Allerdings, es ist eine andere, es ist die umgekehrte Seite der sozialen Entwicklung, die auch den Bekennern der Religion des Nationalitätenhasses internationale Einsicht eingepaukt hat. Vor allem die konkurrierenden Interessen des nationalen Kapitals, das Interesse an der Ausgleichung der durch sozialpolitische Opfer bedrohten Profitquote auf dem Weltmarkte, ferner die internationale Solidarität in der Angst vor der Arbeiterbewegung und dem Wunsche, sie zu bekämpfen, haben die Posadowskys aller Länder zur „gemeinsamen internationalen sozialpolitischen Überzeugung" gebracht. Es ist sozusagen die internationale Zuchthausvorlage, was als historischer Kern und als der umgekehrte Zweck hinter der internationalen Exzellenzen-Sozialreform steckt. Es ist gewissermaßen eine sozialpolitische „heilige Allianz", die in Düsseldorf ihre Beratungen abhält.

Aber gerade in dieser entgegengesetzten Form bildet die „internationale sozialpolitische Überzeugung" der heutigen kapitalistischen Regierungen die denkbar glänzendste historische Probe auf die gewaltige Marxsche Deduktion, auf den internationalen Grundgedanken der Sozialdemokratie.

Und noch eine Lehre ergeben die Posadowskys als Wortführer der „internationalen sozialpolitischen Überzeugung".

Im Anfang der bürgerlichen Sozialreform war das Wort, d. h. der „hinter den Arbeitern" stehende außerordentliche Professor Sombart, das über den Klassen schwebende, klassen- und vorurteilslose soziale „Wohlwollen1".

Am Ende erscheinen als die Tat, als die Verwirklichung des klassenlosen Wohlwollens – der Vater der Zuchthausvorlage und der Kartell-Möller. Die „hinter den Arbeitern stehende Wissenschaft" entpuppt sich in der Praxis als der den Arbeitern mit Zuchthausvorlagen auf die Brust rückende Kapitalismus.

Und dies ist kein Zufall und kein Missverständnis. Die auf die sogenannten „weißen Raben" der Bourgeoisie berechnete, von lauter „außerordentlichen" Krethi und Plethi inaugurierte bürgerliche Sozialreform bildet sich zwar ein, gerade in der Vermittlung zwischen den Klassen ihr historisches Mandat zu haben. Andererseits kommt sie von vornherein als die Negation aller „grauen Theorie", aller himmelstürmenden Deduktion, als die geborene Praxis zur Welt. Sobald aber die sozialreformerische theorielose „Praxis" praktisch werden soll, steht sie vor der elementaren Frage der Macht. Ohne Macht gibt es hienieden keine „Praxis". Woher aber die Macht nehmen?

Selbst sind die „außerordentlichen" Sozialreformer gerade als solche, als die geborene Klassenlosigkeit zugleich auch die geborene Machtlosigkeit. Außerhalb ihrer gibt es aber nur zweierlei Macht, die himmelstürmende Arbeiterklasse und auf dem Gegenpol – die Posadowskys als Wächter des Zuchthauses. Sich auf die Arbeiter stützen? Aber gerade die Arbeiter sollen in ihren Sturmtheorien durch die „Praxis" überwunden werden. Also bleibt als die einzige reelle Macht zur Verwirklichung des bürgerlichen, sozialreformerischen Wohlwollens – der Posadowsky.

So entwickelt sich der in der Einbildung bürgerlicher wie unserer Phantasten einheitliche Begriff „Sozialreform" in der Wirklichkeit zu einem scharfen Gegensatz: zu einer proletarischen und zu einer bürgerlichen Sozialreform. Jene wird durch die Macht der Tatsachen zu der Erkenntnis geführt, dass zwischen „den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie keine Trennung statthaben kann", d. h. dass sie nur durch den Klassenkampf verwirklicht werden kann; diese wird ebenso durch die Macht der Tatsachen nach dem entgegengesetzten Pol gedrängt, – in die Arme des Vaters der Zuchthausvorlage.

Wenn diese Erkenntnis je geeignet war, auch für die unverbesserlichsten Optimisten der „klassenlosen" Sozialreform in unseren Reihen sinnenfällig klar zu werden, so ist es jetzt, indem sie sich in den zwei Gegenpolen scharf verkörpert, – in Düsseldorf und in Stuttgart.

1 Vergleiche den Aufsatz: Die „deutsche Wissenschaft" hinter den Arbeitern. Band III der Gesammelten Werke. Seite 221.

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