Rosa Luxemburg 19020613 Eine lex Leipzig

Rosa Luxemburg: Eine lex Leipzig

[Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung" am 13. Juni 1902. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 225-227]

Auf der Tagesordnung des nächste Woche in Stuttgart zusammentretenden Gewerkschaftskongresses finden wir als achten Punkt die Stellung der Gewerkschaftskartelle in der Gewerkschaftsorganisation. Auf den ersten Blick wundert man sich, was die Delegierten des Kongresses für ein Bedürfnis haben mögen, über die durchaus klarliegende Stellung der Gewerkschaftskartelle in der Gewerkschaftsorganisation akademische Betrachtungen anzustellen. Liest man jedoch den Rechenschaftsbericht der Generalkommission der Gewerkschaften von den letzten zwei Jahren durch, so begreift man, dass für diesen Punkt der Tagesordnung zwar kein Bedürfnis der Gewerkschaften und ihrer Delegierten, wohl aber ein Bedürfnis der Generalkommission der Gewerkschaften besteht, die ein ganz spezielles Vorkommnis aus der Gewerkschaftsbewegung zum Anlass einer Gelegenheitsgesetzgebung machen und zugleich diesen Vorgang gar zu gerne als Handhabe benutzen möchte, um das altbekannte Sehnen ihres Herzens nach Erweiterung ihrer Machtbefugnisse zu befriedigen.

Längst schon empfindet die Generalkommission der Gewerkschaften die drückende Beschränktheit ihrer Einflusssphäre. Mit dem ungeheuren Tatendrang in der Brust und der erhebenden Machtbefugnis, die Gesamtvertretung der deutschen Gewerkschaftsverbände zu sein, findet sie sich einem höchst bescheidenen Wirkungskreis gegenüber, sintemalen die wichtigsten Tätigkeitsgebiete in der deutschen Arbeiterbewegung längst anderweitig vergeben sind. Nachdem der Großmachtsdusel, mit der sozialdemokratischen Partei als ebenbürtige Größe von Macht zu Macht zu verhandeln, kläglich Fiasko gemacht, versuchte sich der Betätigungstrieb der Generalkommission eine Zeitlang in utopistischer Projektmacherei, so bei dem Plan der Gründung einer allgemeinen Streikkasse und der Unterstellung des gesamten Streikwesens unter die Kontrolle der Generalkommission, um sich zuletzt bei der Funktion eines statistischen Amtes der Gewerkschaftsbewegung zu bescheiden. Aber auch in dieser untergeordneten Rolle konnte sie ihre früheren Prätentionen nicht vergessen, und sie benutzte dieses Amt, um höchst eigenmächtig eine gewerkschaftliche Organisation aus ihrer offiziellen Liste zu streichen, die sich der Anerkennung ihrer Oberhoheit versagt und ihre durchaus einseitige und parteiische Einmischung in eine rein örtliche Angelegenheit zurückgewiesen hatte1.

Es ist bereits das zweite Mal, dass die örtlichen Gewerkschaftskartelle dazu ausersehen werden sollen, einer Erweiterung der Einflusssphäre einer einseitigen gewerkschaftlichen Machtpolitik als Unterlage zu dienen. Das erste Mal war es in den sogenannten „Quarckschen Vorschlägen", die eine einheitliche Zusammenfassung der Gewerkschaftskartelle zum Zweck sozialpolitischer Betätigung forderten. Diesmal hat die Generalkommission der Gewerkschaften ihr Auge auf die örtlichen Kartelle geworfen, um in ihnen endlich den Stützpunkt für ihre sattsam bekannten Regierungsaspirationen zu finden, die sich die Verbände höflich aber bestimmt verbeten haben. Den Befähigungsnachweis dazu hat soeben die Generalkommission in ihrer Statistik der Kartelle erbracht, in der sie das Leipziger Gewerkschaftskartell souverän ignoriert, weil dieses gegen den Stachel der „obersten Behörde der Gewerkschaftsbewegung" gelöckt hat. Und diese Insubordination soll denn auch den Anlass bieten, um die Kartelle der direkten Beeinflussung der Generalkommission näherzubringen. Daher der Punkt 8 der Tagesordnung des Gewerkschaftskongresses.

Die Vorgänge, auf die sich diese neuesten Bestrebungen der Generalkommission stützen, sind den Leipziger Genossen genug bekannt. Nachdem der allgewaltige Herr Döblin die in der Frage der Tarifgemeinschaft der Buchdrucker dissentierenden Verbandsmitglieder eigenmächtig aus dem Verband ausgeschlossen hatte, organisierten sich die Ausgeschlossenen in der Buchdruckergewerkschaft, und das Leipziger Gewerkschaftskartell erkannte diese Organisation und die Delegierten im Kartell an. Herr Döblin und sein Famulus Rexhäuser liefen nun wehklagend zum Büro der Generalkommission und forderten deren allerhöchste Intervention. Diese griff die prächtige Gelegenheit, neue Hoheitsrechte zu gewinnen, so begierig auf, dass sie sich blind für die Fraktion Döblin-Rexhäuser festlegte und der Forderung der Leipziger Verbandsbuchdrucker, alle Beziehungen zum Leipziger Kartell abzubrechen, so eifrig Folge leistete, als wäre die Generalkommission die Filiale des Buchdruckerverbandes. Die Gewaltpolitik der ausschließungslustigen Herren Döblin und Rexhäuser fand ihre – allerdings abgeschwächte – Wiederholung in einer geplanten Boykottierung des Leipziger Gewerkschaftskartells.

Allein das Leipziger Gewerkschaftskartell blieb fest. Die Macht der Fraktion Döblin-Rexhäuser fand ihre Grenze an dem Leipziger Kartell; die Verbandsbuchdrucker blieben draußen, trotzdem sie die oberste Behörde der deutschen Gewerkschaftsbewegung bemüht hatten. Auch die Versuche der Generalkommission, auf die Leipziger Gewerkschaften auf dem Umweg der Verbände zu wirken, schlugen fehl; die Leipziger Gewerkschaften hatten von ihren Verbandsleitungen keine Instruktionen über ihre örtlichen Organisationsangelegenheiten anzunehmen. Die Herren Döblin-Rexhäuser sahen sich am Ende ihres Lateins; sie fanden, dass hier eine Lücke in der Gesetzgebung der Gewerkschaftsorganisation sei, und diese Lücke auszufüllen, soll der Zweck des diesjährigen Gewerkschaftskongresses sein.

Es handelt sich also um eine Art Ausnahmegesetz, das gegen das Leipziger Gewerkschaftskartell gemacht werden soll, um eine – lex Leipzig. Der gewalttätige Eigensinn der Fraktion Döblin-Rexhäuser, der bei dem Leipziger Gewerkschaftskartell nicht durchgekommen ist und auch die Generalkommission umsonst in Anspruch genommen hat, verlangt vom Gewerkschaftskongress eine Spezialwaffe gegen das widerspenstige Leipziger Kartell. Der Gewaltstreich der Herren Döblin und Rexhäuser, die Tarifgemeinschaftsgegner aus dem Verband auszuschließen, soll in dieser lex Leipzig seine letzte Rechtfertigung und Vollendung erhalten.

Wir sind überzeugt, dass sich der Gewerkschaftskongress diesen gehässigen Bestrebungen versagen wird. Wenn die Herren Döblin und Rexhäuser Meinungspolizei treiben wollen, mögen sie es in ihrem Verband tun. Die Generalkommission und der Gewerkschaftskongress sind nicht dazu da, den Maßregelungsgelüsten einer beschränkten Verbandsleitung den Arm zu leihen. Das Leipziger Gewerkschaftskartell ist eine örtliche Organisation und hat weder von einer höheren Gewerkschaftsbehörde noch auch von einem Gewerkschaftskongress darüber Instruktionen anzunehmen, welche Organisation es als kartellfähig anerkennen will und welche nicht. Vorausgesetzt, dass diese Organisation auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung steht. Das ist bei der Buchdrucker-Gewerkschaft ohne Frage der Fall. Ob es bei der Fraktion der Döblin-Rexhäuser zutrifft, das steht auf einem anderen Blatte.

1 Gemeint ist die Buchdruckergewerkschaft.

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