Rosa Luxemburg: Taktische Fragen [Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung am 26., 27., 28. Juni 1913., Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 634-644] I. Wollte man zusammenstellen, was in den jüngsten Tagen an taktischen Anregungen und Betrachtungen in unserer Partei geäußert worden ist, so käme ein gar unstimmiges Konzert zustande. Auf der einen Seite rufen Vertreter und Befürworter der Kompromisstaktik, wie Frank und Breitscheid, unter Zustimmung des „Bochumer Volksblattes" dringend zum Massenstreik auf, anderseits erklärt ein Parteiblatt, das auf radikalem Standpunkt steht, wie die „Essener Arbeiterzeitung", der politische Massenstreik sei in Deutschland für absehbare Zeit undurchführbar, wir wären noch nicht entfernt reif und gewappnet für derartige Unternehmungen. Während mehrere Organisationen wiederum fordern, dass der nächste Parteitag „die planmäßige Erziehung der Arbeiterklasse zum politischen Massenstreik" in die Wege leite, ja, dass allmählich mit der vorbereitenden Sparaktion nach belgischem Muster begonnen werde, erklären andere, wie Genosse Meerfeld in der „Neuen Zeit", die Phase des politischen Massenstreiks sei für unsere Bewegung längst vorbei, der Deutsche tauge überhaupt zum Massenstreik so ungefähr wie der Bär zum Seiltanzen. Zwei Tatsachen treten aus diesem Durcheinander hervor. Erstens, dass die Idee des Massenstreiks jedes Mal von selbst auftaucht und instinktiv in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt wird, sobald die Partei das Bedürfnis empfindet, ihre Aktion vorwärts zu bringen, der Stagnation zu wehren, Macht zu entfalten. Zweitens ist ebenso unzweideutig sichtbar, dass in Bezug auf die Anwendung des Massenstreiks, seine Bedingungen und Zwecke bei Anhängern wie bei Gegnern in unseren Reihen noch eine heillose Unklarheit herrscht. Die Vorstellung zum Beispiel, dass sich der Massenstreik in Preußen mit dem Großblock in Baden verbinden lasse, zeugt von einer rein mechanischen und oberflächlichen Auffassung des Massenstreiks, die von tieferen geschichtlichen Zusammenhängen der Massenaktionen, von der Massenpsychologie des proletarischen Klassenkampfes völlig absieht. Nach dieser Vorstellung werden die Massen dort, wo die Staatsmannskunst und Diplomatie der Parlamentarier versagt, wie Schachfiguren vorgeschoben, um auf Kommando der Führer dem Feinde Schreck einzujagen, und sobald das Paktieren und Handeln mit dem mürbe gemachten Feinde beginnt, schleunigst wieder vom Schauplatz abzutreten und sich bis zum nächsten Kommando fein still zu verhalten. Wenn nichts mehr hilft, dann „machen wir" einen Generalstreik –, das ist so recht die rohe Auffassung des Anarchismus. In Wirklichkeit ist der Massenstreik nicht ein schlau ersonnenes „äußerstes Mittel", zu dem man mal in Ausnahmefällen greift, eine Art schwere Vorratskanone, die aus dem entlegensten Winkel hervor geschleppt wird, wenn alle anderen Waffen versagt haben. Der Massenstreik als Praxis des Proletariats ist eine geschichtliche Entwicklungsphase des allgemeinen Klassenkampfes, nämlich die Phase der selbständigen Aktion der proletarischen Masse, der äußersten Verschärfung des Klassenkampfes im Ganzen. Speziell in Preußen greift man jetzt von allen Seiten zur Idee des Massenstreiks deshalb, weil jede Hoffnung auf die Ergiebigkeit der parlamentarischen Aktion, auf die Unterstützung der Liberalen geschwunden ist, weil die jämmerliche Haltung und der reaktionäre Charakter des Liberalismus im ganzen Reich, namentlich auch wieder in den Kämpfen um die Militärvorlage, zeigt, dass die Arbeiterklasse ganz allein auf sich angewiesen ist, der vereinigten bürgerlichen Reaktion gegenüber isoliert dasteht. In dem gleichen Moment aber, wo in der Budgetkommission die Liberalen, statt gemeinsam mit der Sozialdemokratie fortschrittliche Besitzsteuern dem Zentrum und den Konservativen aufzuzwingen, hinter dem Rücken der Sozialdemokratie mit dem Zentrum ein Steuerkompromiss zur Schonung der junkerlichen Interessen schließen, – in diesem Moment in Baden mit denselben Liberalen einen Wahlblock zur Zertrümmerung der „Herrschaft des Zentrums" abschließen, in Süddeutschland sich an monarchischen Kundgebungen beteiligen und in Preußen den Massenstreik proklamieren, vor wenigen Monaten dem Bethmann Hollweg im Reichstag das Vertrauen der Sozialdemokratie in der auswärtigen Politik aussprechen und ein halbes Jahr darauf die Massen auf die Straße rufen –, das ist politische Seiltänzerei, das ist Gelegenheitspolitik, die nur geeignet ist, der Sozialdemokratie sowohl im Parlament wie auf der Straße ein Fiasko zu bereiten. Der Massenstreik ist an sich genau so wenig ein wundertätiges Mittel, um die Sozialdemokratie aus einer politischen Sackgasse zu retten oder eine haltlose Politik zum Siege zu führen, wie der Wahlkampf und jede andere Kampfform. Er ist eben an sich auch nur eine Kampfform. Es ist aber nicht die technische Form, die den Ausgang des Kampfes, den Sieg oder die Niederlage entscheidet, sondern der politische Inhalt, die angewandte Taktik im Ganzen. Wir leben in einer Phase, wo die wichtigsten politischen Fragen nur noch durch das eigene Eingreifen breiter Massen beeinflusst werden können: die plötzlichen Wendungen der internationalen Lage, Kriegsgefahr, Wahlrechtsfragen, Ehrenfragen der Arbeiterklasse erfordern gebieterisch die Aktion der Massen. Treten diese in entscheidenden Momenten nicht auf, dann wird die Aktion der Partei flügellahm, es fehlt ihr der Stachel, und die Partei empfindet schmerzlich selbst ihre Unzulänglichkeit. Aber umgekehrt garantiert die Anwendung des Massenstreiks durchaus noch nicht den Elan und die Wirksamkeit der sozialdemokratischen Aktion im Ganzen. Wird der Massenstreik zum Beispiel verkoppelt mit einer Taktik, die allgemeine Unentschlossenheit mit vereinzelten energischen Vorstößen, gelegentliche Massenaktionen mit parlamentarischen Illusionen in Bezug auf die Mitwirkung des Liberalismus paart, die Massen nach Belieben hin und her schieben will, sie bald ins Feuer schickt, bald wieder mitten in der Schlacht abwinkt, dann kommen die Massenstreiks auf ohnmächtige Experimente hinaus, die trotz des größten Opfermuts kläglich scheitern müssen. Die Schicksale des belgischen Wahlrechtskampfes seit zehn Jahren sollten in dieser Hinsicht ein warnendes Exempel für die internationale Sozialdemokratie sein. Nicht der Massenstreik in irgendeinem bestimmten Fall an sich ist das Entscheidende, sondern die politische Offensive in der Gesamthaltung der Partei, eine Taktik, die in der Kampfperiode auf allen Gebieten die äußerste Tatkraft entwickelt, auf alle Provokationen der Gegner scharf antwortet, in jedem Moment die Energie und den Kampfmut des Proletariats aufs höchste steigert. Mit einer kräftigen offensiven Politik ist auch schon dafür gesorgt, sowohl dass die Massen handeln, als dass ihr Auftreten Früchte trägt. Eine konsequente, entschlossene, vorwärts strebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend. Im ersteren Falle brechen Massenstreiks „von selbst" und immer „rechtzeitig" aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen der Leitung zum Massenstreik erfolglos. Hätten wir bis jetzt eine kräftige offensive Taktik befolgt, hätte man beispielsweise zum Zarenbesuch in Berlin einen eintägigen Protestmassenstreik veranstaltet, wie solche Dutzende von Malen in anderen Ländern vorgekommen sind, hätte man zum Kaiserjubiläum, statt sich – wie das Zentralorgan – beinahe zu entschuldigen, dass sich das Proletariat an. der Farce nicht beteiligt, im ganzen Reich republikanische Massendemonstrationen gemacht, so würde das, obwohl nicht direkt mit der preußischen Wahlrechtssache verbunden, die Position unserer Partei und die Chancen unseres Kampfes sowohl um das preußische Wahlrecht wie auch im Kampfe gegen die Militärvorlage bedeutend gestärkt haben. Lässt man sich aber alle Infamien ruhig gefallen, so demoralisiert man die Massen und festigt die Gegner in ihrem Übermut. Wird unter solchen Umständen plötzlich ein Appell an die Massen ergehen, einen Massenstreik zu „machen", dann kommt entweder nichts oder ein zaghafter Anlauf zustande, der die Partei blamiert und die Massen noch mehr entmutigt. Die Massenstreiks lassen sich also nicht beliebig inszenieren, als taktischer Kunstgriff, der zu jeder Art Politik passt. Sie können nur machtvoll und wirksam auftreten als Steigerung einer bereits im Gange befindlichen Aktion, als Ausdruck einer hohen Spannung der revolutionären Energie der Massen. Will man eine solche in günstiger Situation auslösen, dann muss die Partei vor allem selbst in ihrer Haltung auf der ganzen Linie in die politische Offensive treten. Alsdann fort mit allen parlamentarischen Selbsttäuschungen, mit aller partikularistischen Winkelpolitik, mit allen Illusionen in Bezug auf den alten und „neuen" Liberalismus, mit allen Experimenten, um heute das Zentrum mit Hilfe der Nationalliberalen und morgen die Nationalliberalen mit Hilfe des Zentrums als die „wahre Reaktion" zu stürzen. Ist der preußische Wahlrechtskampf ein reichsdeutsches Lebensinteresse, dann ist auch die Taktik der reichsdeutschen Sozialdemokratie eine preußische Angelegenheit. Nicht die Parole zum Massenstreik ins Blaue hinein, sondern die allgemeine Gestaltung der Taktik im Geiste des konsequenten revolutionären Klassenkampfes und in der Richtung auf eine energische Offensive im ganzen, im Norden wie im Süden, – das ist die dringendste Aufgabe der Partei. II. Es entsteht nunmehr die Frage, die viele sonst kampffrohe Genossen ernstlich beunruhigt, ob wir denn überhaupt zu erfolgreichen Massenaktionen reif seien, ob der Stand unserer Organisationen, die ja erst einen geringen Teil der Arbeiterschaft umfassen, an Massenstreiks in Deutschland zu denken gestatte. Die neulich vom Genossen Meerfeld geäußerte Meinung, wonach den Deutschen kraft ihrer besonderen nationalen Eigenschaften die Fähigkeit zu stürmischen Massenaktionen abgehe, bedarf freilich kaum einer ernsthaften Widerlegung. Der Klassenkampf des Proletariats ist eine so tief gewurzelte Erscheinung der modernen Geschichtsentwicklung, dass er in seinen Hauptäußerungen von allgemeinen sozialen und internationalen Verhältnissen, nicht von so nebensächlichen Momenten, wie nationales Temperament, bestimmt wird. Eher ist schon die besondere politische Geschichte jedes Landes und die mit ihr verbundenen Traditionen von Einfluss. Der Mangel an jeder großen revolutionären Tradition im deutschen Bürgertum und daher auch im deutschen Proletariat hat sicher bis in die Reihen der Sozialdemokratie einen gewissen Mangel an Selbstvertrauen, ein Übermaß an eingefleischtem Respekt vor der „Gesetzlichkeit" des absolutistisch-bürokratischen Polizeistaates und vor der Autorität des Schutzmannssäbels erzeugt. Aber auch diese Psychologie wandelt sich schließlich rasch in großen Momenten, in revolutionären Situationen, die uns in naher Zukunft nicht erspart bleiben. Überhaupt ist eine so allgemeine und hoffnungslose Heulmeierei über unsere „Verbürgerlichung", wie sie Genosse Meerfeld in der „Neuen Zeit" angestimmt hat, völlig unfruchtbar. Sie dient auch manchem „radikalen" Genossen als bequeme innere Entschuldigung, um in der Praxis alle Fünf gerade sein zu lassen, ist aber nur ein Gegenstück zu dem gedankenlosen Offiziösentum in unseren Reihen, das alles, was in der Partei geschieht, stets herrlich findet. Die geschichtliche Entwicklung, die so manchen schweren Block aus ihrem Wege zu räumen weiß, wird auch noch mit unserer Schwerfälligkeit fertig. Wie sehr sie versteht, auch den bedächtigsten und friedfertigsten Leuten unter Umständen Dialektik einzupauken, zeigt wieder der Verlauf der soeben beendeten achten Generalversammlung der Deutschen Buchdrucker. Der Ton der allgemeinen Unzufriedenheit und tiefen Beunruhigung, der in dieser Versammlung als Echo der technischen Umwälzungen der Produktion vorherrschte, zeigt, dass auch der deutsche Bär, dem man so wenig zutraut, auf der heißen Platte der historischen Entwicklung allmählich tanzen lernt. Sachlich von Wichtigkeit und einer ernsten Untersuchung wert ist die Frage von der Rolle sozialdemokratischer Organisationen in den proletarischen Massenkämpfen im Allgemeinen. Merkwürdig genug ist freilich, dass die stärksten Zweifel an der Reife der Arbeiterschaft zu Massenaktionen gerade in dem Lande auftauchen, wo die Sozialdemokratie wie die Gewerkschaften die größte Macht erreicht haben. In Schweden und Holland, in Belgien und Italien, in Spanien und in Russland, in Frankreich und in Österreich, in der Schweiz und in Ungarn haben wir seit einem Dutzend von Jahren zahlreiche Massenstreiks verschiedener Art erlebt, nur in Deutschland, dem Musterland der Organisation, der Disziplin und der Wahlsiege, soll das Proletariat zum Massenstreik noch nicht reif sein! Solche Ansichten gäben ein trauriges Zeugnis für den Wert unserer Organisationen ab, wären sie nicht selbst bloß der Ausfluss eines auffallenden Mangels an historischer Perspektive. Wir sollen offenbar erst dann zu Massenstreiks „reif" sein, wenn der letzte Mann und die letzte Frau aus der Arbeiterklasse eingeschriebene Mitglieder des sozialdemokratischen Vereins geworden sind. Bei allem löblichen Eifer für die Organisationsarbeit spricht aus solchen Ansichten eine gefährliche Unterschätzung der geschichtlichen Rolle und der Aktionsfähigkeit der unorganisierten Masse. Man muss sich schließlich an den Kopf fassen und fragen: wie ist denn die Weltgeschichte bisher ohne uns, ohne Wahlvereine, ohne den sozialdemokratischen Parteivorstand und die Fraktion ausgekommen? Der Klassenkampf ist – was man in unseren Reihen nur zu oft vergisst – nicht ein Produkt der Sozialdemokratie, umgekehrt: die Sozialdemokratie ist selbst nur ein Produkt des. Klassenkampfes, sein jüngstes Produkt. Der Klassenkampf ist so alt wie die Klassengesellschaft, und es waren stets und überall die arbeitenden Massen, die handelten, wenn die Zeit reif war, die Schlachten lieferten, die den Kampf entschieden. Da ging auch noch alles ohne Wahlvereine und ohne Parteipresse. Wie waren Bauernkriege möglich? Wie kamen die großzügigen Aktionen der Masse in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts zustande? Wie die Chartistenbewegung, wie die wunderbare Kampagne des Pariser Proletariats im Jahre 1848 und 1871, wo die sozialistische Organisation nur winzige Geheimzirkel umfasste? Und in diesen Fällen handelte es sich nicht mehr um chaotische Ausbrüche verzweifelter Haufen, wie man – völlig zu Unrecht – die Bauernkriege auffassen mag, sondern um großartige Aktionen mit politischem Gedanken, Ausdauer, Zähigkeit, Opfermut, mit Disziplin und Zucht, Ernst und Würde. Und wenn auch in der Revolution von 1848, wenn in der Pariser Kommune Fehler und Dummheiten gemacht wurden, – werden denn von unseren Führern nicht häufig genug Dummheiten gemacht? Das Aufkommen der Sozialdemokratie biete so wenig Garantie vor politischen und historischen Fehlern, wie es den Erfolg und Sieg der Arbeitersache in jeder einzelnen Kampfphase verbürgt. Wir müssen eben genau so jeden Tag von neuem aus der Geschichte lernen, wie alle aufstrebenden und kämpfenden Schichten es seit jeher mussten. Die Sozialdemokratie hat allerdings, dank der theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen ihres Kampfes, in einem nie gekannten Maße Bewusstsein in den proletarischen Klassenkampf hineingetragen, ihm Zielklarheit und Tragkraft verliehen. Sie hat zum ersten Mal eine dauernde Massenorganisation der Arbeiter geschaffen und dadurch dem Klassenkampfe ein festes Rückgrat gegeben. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, sich nun einzubilden, dass seitdem auch alle geschichtliche Aktionsfähigkeit des Volkes auf die sozialdemokratische Organisation allein übergegangen, dass die unorganisierte Masse des Proletariats zum formlosen Brei, zum toten Ballast der Geschichte geworden ist. Ganz umgekehrt. Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen. Mit dem Hirngespinst, das gesamte arbeitende Volk erst in die Parteikaders einzustellen, ehe man Geschichte macht, drehen wir uns übrigens im fehlerhaften Zirkel. Je mehr unsere Organisationen wachsen, Hunderttausende und Millionen umfassen, um so mehr wächst notgedrungen der Zentralismus. Damit geht aber auch das geringe Maß an geistigem und politischem Inhalt, an Initiative und Entschluss, das im alltäglichen Leben der Partei von den Organisationen aufgebracht wird, gänzlich auf die kleinen Kollegien an der Spitze: auf Vereinsvorstände, Bezirksvorstände und Parlamentarier über. Was für die große Masse der Mitglieder übrig bleibt, sind die Pflichten zum Beitragzahlen, zum Flugblätteraustragen, zum Wählen und zu Wahlschlepperdiensten, zur Hausagitation für das Zeitungsabonnement und dergleichen. Das Musterbeispiel in dieser Hinsicht ist die Berliner Organisation, in der so ziemlich alles Wichtige an Leitung und Entschluss von dem Zentralvorstand erledigt wird, und wo die Initiative von unten sich gewöhnlich an dem Gitterwerk der zahllosen Instanzen wie an einem Stacheldrahtzaun ohnmächtig bricht. Es ist aber eine wunderliche Idee, dauernd Millionen von Menschen nur mit Erfüllung laufender Pflichten, mit Erörterungen über eine Erhöhung der Beiträge, über die Anstellung neuer Zeitungsausträgerinnen, mit Wahlen des ersten und zweiten Vorsitzenden und des Kassierers, oder, zur Abwechslung, mit allerlei örtlichen kleinen Reibereien unter den Funktionären zu beschäftigen, wie sie nun einmal nicht zu vermeiden sind, wo viele Menschen zusammenarbeiten. Es ist eine wunderliche Vorstellung, man brauche diesen bürokratischen Kleinkram nur mechanisch ins Riesenhafte zu steigern, um mit der Zeit zwei Millionen, drei Millionen, vier Millionen Mitglieder und so weiter in die Parteiorganisationen hinein zu kriegen und sie dort halten zu können. Für die großen Massen muss viel mehr die Quantität in eine ganz andere Qualität umschlagen. Die großen Massen müssen sich in einer ihnen eigenen Weise betätigen, ihre Massenenergie, ihre Tatkraft entfalten können, sie müssen sich selbst als Masse rühren, handeln, Leidenschaft, Mut und Entschlossenheit entwickeln. Da aber unser alltäglicher Organisationsapparat unmöglich ein solches Leben bieten kann – gehören doch auch geschichtliche Situationen dazu, die sich nicht künstlich schaffen lassen –, da in unserer Organisation umgekehrt selbst das mögliche Minimum an geistigem Leben der Masse durch den Zentralismus erstickt wird, so muss man sich ein für allemal von dem Wahn freimachen, als ob uns je gelingen würde, die ganze gewaltige Masse des arbeitenden Volkes in beitragzahlende Mitglieder der Wahlvereine zu verwandeln. Dies ist als Vorbedingung für große Massenaktionen weder möglich noch auch notwendig. Was notwendig, ist nur eine kühne Initiative und Aktion der Partei, mit der sie sich an die Spitze der Massen stellt, jedes Mal wo die politische Situation dies erfordert. Die unorganisierten Massen, ja, die gegnerisch organisierten Schichten, werden ihr dann begeistert Heerbann leisten. Als Beweis diene dasselbe belgische Beispiel, das vielfach von verkehrter Seite auf unsere Genossen so faszinierend wirkt. Das wichtigste, was sich als positive Lehre aus dem belgischen Experiment ergibt, ist gerade die Tatsache, dass die unorganisierten Massen in wichtigen Momenten nie versagen und dass jede ernste Aktion der Sozialdemokratie ohne diese Massen ganz undenkbar wäre. In Belgien lassen die gewerkschaftlichen wie die politischen Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig, auf jeden Fall können sie sich mit den deutschen nicht entfernt messen. Und doch kommt seit 20 Jahren ein imposanter Wahlrechtsstreik nach dem anderen zustande. Allerdings können die Massen nur dann Erfolge erzielen, wenn die Führung der Partei konsequent, entschlossen und durchsichtig klar ist. Wird auf zwei Schritte vorwärts stets ein Schritt zurück gemacht, dann werden schließlich auch die Massenaktionen verpuffen. In jedem Fall versagt aber dann, wenn ein politischer Feldzug scheitert, nicht die unorganisierte Masse, sondern die organisierte Partei und ihre Führung. Die Sozialdemokratie ist historisch dazu berufen, die Vorhut des Proletariats zu sein, sie soll als Partei der Arbeiterklasse führend voran stürmen. Bildet sie sich aber ein, sie allein, die Sozialdemokratie, sei berufen, die Geschichte zu machen, die Klasse sei selbst nichts, sie müsse erst ganz in Partei verwandelt werden, ehe sie handeln darf, dann kann sich leicht ergeben, dass die Sozialdemokratie zum hemmenden Moment im Klassenkampf wird und dass sie, wenn die Zeit reif ist, der Arbeiterklasse nachlaufen muss, von ihr wider Willen zu Entscheidungsschlachten geschleift. III. Jedennoch wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, sich einzubilden, die preußische Wahlrechtsfrage könnte durch irgendeinen etwa vom Parteitag oder in dessen Auftrag beschlossenen Massenstreik wie der gordische Knoten durch einen Schwerthieb durchhauen werden. Schon die Vorstellung von irgendeinem einzelnen Massenstreik, der womöglich nach gründlichster Vorbereitung von langer Hand, in schönstem Schick zur festgesetzten Stunde „losbricht", ist eine ganz verfehlte Spekulation: Auf diese Weise, nach strengem Plan und auf Kommando, lassen sich allenfalls kurze Demonstrationsstreiks aus besonderen momentanen Anlässen veranstalten. Auch solche Streiks haben freilich ihre große Bedeutung und hätten sie namentlich in Deutschland, als eine völlig neue Aktionsform. Es wäre aber ein leerer Wahn, etwa in der Frage des preußischen Wahlrechts durch einen in derselben Weise, nach belgischem Muster vorbereiteten, pedantisch durchgeführten Massenstreik etwas ausrichten zu wollen. Auf diesen feierlich angesagten und klug vorbereiteten Massenstreik würden sich die Gegner noch besser vorbereiten als wir, und sie würden uns höchstwahrscheinlich ruhig streiken lassen, solange als es uns gefällt. Es bliebe dann übrig, genau wie in Belgien, den ersten Vorwand zu erhaschen, um den Streik abzubrechen und noch die großartige Disziplin bewundern zu lassen, mit der wir vom Kampfplatze abziehen, ohne etwas ausgerichtet zu haben. Sollte bei uns auf einen derartigen Massenstreik abgezielt werden, dann wäre es entschieden viel besser, gar nichts zu unternehmen, denn auf diese Weise weckt man in den Massen lediglich eitle Hoffnungen und arbeitet einer unvermeidlichen Enttäuschung und Mutlosigkeit vor. Im Kampfe um das preußische Wahlrecht kann nicht irgend ein Massenstreik in Frage kommen, der uns nach 10 oder 20 Tagen geduldigen Streikens den Sieg bescheren soll, sondern eine lange Periode erbitterter und scharfer Kämpfe, mit mehreren Massenstreiks von verschiedener Dauer und verschiedenem Charakter, je nach der einzelnen Wendung des Kampfes und der allgemeinen Situation: Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, politische und wirtschaftliche Streiks. In einer solchen Periode gälte es, alle Momente auszunützen, die zur Aufpeitschung der Masse beitragen, alle größeren gewerkschaftlichen Konflikte, Arbeitslosenbewegungen und dergleichen, sich zunutze kommen zu lassen, namentlich aber die stummen Sklaven des Staates, die Arbeiter und Angestellten der öffentlichen Dienste aufzurütteln, um alle Energien der Masse wachzurufen, allen Zorn, der in ihr bebt, in dasselbe Bett des politischen Kampfes zu leiten und den Ungestüm des Druckes aufs Höchste zu steigern. Eine derartige Aktion muss von Hause aus stürmischen Charakter haben, soll sie etwas ausrichten, soll sie die ganze wirkliche Macht der Volksmasse in die Waagschale werfen. Und damit ist schon gegeben, dass man zu einer solchen Kampfperiode nicht mit einem fertigen, bis ins Kleinste und Kleinlichste ausgearbeiteten Feldzugsplan und mit einer fertigen Kostenrechnung in der Tasche ausrücken, dass man dabei nicht die „Gesetzlichkeit" zur wichtigsten Sorge der Leitung und die Disziplin zur Kampfparole des Kampfes machen kann. Zu einem großen politischen Kampfe, der ein Stück Geschichte machen soll, darf man nicht die Arbeitermassen führen, wie der Tierbändiger wilde Bestien vorführt, hinter eisernem Gitter und mit Pistolen und Schutzstangen in jeder Hand. Das Ungestüm der unorganisierten Massen ist uns in großen Kämpfen überhaupt viel weniger gefährlich als die Haltlosigkeit der Führer. Bei näherer Betrachtung sieht also die Anwendung des Massenstreiks, wie sie allein in der Praxis in Betracht kommen kann, viel weniger gemütlich aus, als sich mancher Genosse vorstellt. Mit kleinlichen Mitteln und zaghafter Politik lässt sich ein Kampf auf diesem Maßstab nicht meistern, und nicht die „Vorbereitung“ zu irgend „einem" Massenstreik liegt uns gegenwärtig ob, sondern die Vorbereitung unserer Organisation zur Tauglichkeit für große politische Kämpfe, nicht die „Erziehung der Arbeiterklasse zum „Massenstreik", sondern die Erziehung der Sozialdemokratie zur politischen Offensive. Der Zustand der allgemeinen Unzufriedenheit, der sich unserer Partei in diesem Augenblick bemächtigt hat, ist auch keine neue Erscheinung. Er ist bloß die Fortsetzung der Schwierigkeiten, die uns bereits die auswärtige Politik: die Marokkoaffäre, die internationale Aktion gegen den Krieg bereitet haben. Zieht man das Fazit aus den Erfahrungen der letzten Jahre bis zu der jetzigen Militärvorlage, so kann man sie dahin verallgemeinern: die Periode der imperialistischen Entwicklung versetzt der Arbeiterklasse immer heftigere Nackenschläge, unsere Aktion ist aber vielfach nicht auf der Höhe, um diese Schläge entsprechend zu parieren. Das ist auch gar nicht verwunderlich, und es wäre verfehlt, den eigentlichen „Schuldigen" dieses Zustandes zu suchen. Unser Organisationsapparat wie unsere Parteitaktik sind seit 20 Jahren, seit dem Fall des Sozialistengesetzes, im Grunde genommen auf die eine Hauptaufgabe zugeschnitten gewesen: auf Parlamentswahlen und parlamentarischen Kampf. Darin haben wir das Äußerste geleistet und darin sind wir groß geworden. Aber die neue Zeit des Imperialismus stellt uns immer mehr vor neue Aufgaben, denen mit dem Parlamentarismus allein, mit dem alten Apparat und der alten Routine nicht beizukommen ist. Unsere Partei muss lernen, Massenaktionen in entsprechenden Situationen in Fluss zu bringen und sie zu leiten. Dass sie dies bislang noch nicht versteht, dass ihr bisheriger Maßstab an Leitung in wichtigen Momenten versagt, zeigt mustergültig die in der Mitte abgebrochene Aktion im preußischen Wahlrechtskampf, dank der wir uns heute trotz aller Vertröstungen genau so weit befinden, wie vor drei Jahren um diese Zeit. Dieselbe Unfähigkeit zeigen auch gegenwärtig Äußerungen in unseren Reihen, die zu „dem Massenstreik" wie zu einer Militärparade ausrücken möchten, die auf große geschichtliche Massenkämpfe denselben Hausrat an Disziplin, Leitung, Umsicht, Vorsicht und Rücksicht anwenden wollen, der sich bei Gewerbegerichtswahlen, Gemeinderatswahlen und Reichstagswahlen so trefflich bewährt hat. Was soll man z. B. dazu sagen, wenn uns erklärt wird: wir dürfen nicht die Verantwortung für so schwerwiegende Schritte wie ein politischer Massenstreik in Deutschland auf uns laden, als bis wir mit voller Sicherheit darauf rechnen können, einen Sieg zu erringen. Die Ansicht klingt äußerst altklug, ist aber in Wirklichkeit das gerade Gegenteil politischer Weisheit. Wir sehen davon ab, dass im Allgemeinen der ein trauriger Feldherr ist, der nur zur Schlacht ausrückt, wenn er den Sieg in der Tasche hat. Hätten sich Revolutionskämpfer seit jeher durch solche Maximen leiten lassen, dann gäbe es keine Revolutionen und keine Siege in der Geschichte. Aber besonders sündigt eine solche Strategie gegen die geschichtlichen Grundgesetze des proletarischen Klassenkampfes. Das Proletariat kann seine Kräfte nicht sammeln und seine Macht für den endgültigen Sieg nicht anders steigern, als indem es sich im Kampfe erprobt, mitten durch Niederlagen und alle Wechselfälle, die ein Kampf mit sich bringt. Ein ausgefochtener großer Kampf, ganz gleich ob er mit Sieg oder Niederlage endet, leistet in kurzer Zeit an Klassenaufklärung und geschichtlicher Erfahrung mehr als Tausende von Propagandaschriften und Versammlungen in windstiller Zeit. Und diejenigen, die nur mit allen Garantien des Sieges zum Kampf ausrücken wollen, sollten sich die bekannten Worte Marxens im Achtzehnten Brumaire einprägen: „Proletarische Revolutionen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren 'beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse selbst rufen: ,Hier ist Rhodus, hier springe!'" Dies ist Gesetz des proletarischen Klassenkampfes geblieben, auch nachdem die Sozialdemokratie dessen Führung übernommen hat. Für sie als die berufene Führerin der Massen gilt deshalb nicht die Sorge, sichere Siege zu erspähen, sondern das elementare Gebot einer revolutionären Partei: tausendmal schlimmer als jede Niederlage ist ein längeres Ausweichen dem Kampfe dort, wo er unvermeidlich geworden ist. |