Nadeschda Krupskaja: Brief an M. A. Uljanowa [Geschrieben am 20. Juni 1899. Geschickt von Schuschenskoje nach Podolsk. Zum ersten Mal veröffentlicht 1929 in der Zeltschrift „Proletarskaja Rewoluzija" Nr. 8/9. Nach der Handschrift. Nach Lenin: Briefe, Band 10, Berlin 1976, S. 403 f.] 20. Juni Ich habe Ihnen schon eine ganze Ewigkeit nicht geschrieben, liebe Maria Alexandrowna, irgendwie hatte ich nicht die rechte Stimmung zum Schreiben, zumal ich dachte, dass Sie vielleicht doch noch kommen würden. Jetzt will ich den Brief aber nicht länger hinausschieben. Wir leben immer noch in alter Weise. Wolodja liest unentwegt alle mögliche Philosophie (das ist jetzt seine offizielle Beschäftigung), Holbach, Helvétius u. dgl. m. Ich sage im Scherz, dass man sich bald fürchten wird, mit ihm zu sprechen, so voll stopft er sich mit dieser Philosophie. Die Jagd hat bisher noch nicht angefangen, und das berühmte Gewehr wird fast gar nicht aus dem Futteral genommen. Wir gehen regelmäßig jeden Tag baden und machen Spaziergänge, sammeln Sauerampfer, Beeren u. dgl.; Wolodja tut das alles mit richtigem Jagdeifer, ich habe gestaunt, als ich sah, wie er beim Sauerampfer mit beiden Händen zupackte … Von der Jagd wird viel geredet, wo wollen sie nicht überall hin, an irgendwelche vierzig Seen, wo es so viel Wild gibt, dass man mit einem Mal eine Fuhre vollladen kann usw. Das alles ist für die Zeit nach Peter und Paul vorgesehen. Nach Peter und Paul wollen wir auch nach Minussa fahren, vielleicht mit dem Dampfer, wir haben schon die Erlaubnis. Kürzlich hatten wir Besuch: erstens Anatoli mit Frau, dann Lepeschinski mit seiner Frau und einem drei Monate alten Mädelchen. Anatoli sieht ganz schlecht aus, er wird sich wohl kaum wieder erholen, und seine Frau ist völlig niedergeschlagen, ganz still ist sie. Jetzt kann Anatoli auch das günstige Klima hier nicht mehr helfen. Lepeschinskis haben während der zwei Tage, die sie bei uns waren, unsere Wohnung mit Lärm, Kindergeschrei, Wiegenliedern u. dgl. angefüllt. Ihr Mädelchen ist prächtig, aber sie sind beide so zärtliche Eltern, dass sie das Kind keine Minute in Frieden lassen, sie singen, tanzen und geben ihm keine Ruhe. Neue sind nicht nach hier geschickt worden, und seit Beginn des Sommers tauchen auch Oskar und Prominski seltener am Horizont auf, beide befassen sich mit Gemüseanbau. Mama und ich haben auch alles mögliche angepflanzt (sogar Zuckermelonen und Tomaten), und wir essen schon lange unsere eigenen Radieschen, eigenen Salat und Dill. Einen Blumengarten haben wir auch angelegt, die Reseda blüht, die übrigen Blumen aber (Levkojen, Wicken, Tausendschönchen, Stiefmütterchen, Phlox) blühen erst in mehr oder minder ferner Zukunft, trotzdem macht der Garten auch Mama Freude. Diesen Sommer bleibt das Mädchen, das im Winter in unserm Hause war, bei uns, und deshalb haben wir mit der Hauswirtschaft keine Umstände. Da bis zur Abreise nur noch sieben Monate bleiben, drehen sich unsere Gespräche oft um die Rückkehr nach Russland, Wolodja wollte Ihnen über unsere Pläne in dieser Hinsicht schreiben. Wie geht es Ihnen allen? Haben Sie Ihr Fieber und hat Anjuta ihren Husten überstanden? Anjuta habe ich nicht geantwortet, aber sie soll nicht böse sein, ich hatte doch immer die Absicht, bei unserem Zusammentreffen mit ihr über alles ausgiebig zu plaudern. Es ist sehr schade, dass Sie nicht herkommen, aber jetzt ist es bis zu unserer Rückkehr nach Russland nicht mehr lange hin, und wenn wir termingemäß hier wegkommen, dann sind wir im Februar schon zu Hause, in Russland. Dann werden Sie ja sehen, wie sich Wolodja in Schuscha erholt hat und dass er unvergleichlich besser aussieht als in Petersburg. Ich umarme Sie fest, meine Liebe, werden Sie nur nicht wieder krank. Anjuta und Manjascha küsse ich vielmals, und M. T. und D. I. sende ich Grüße. Mama lässt ebenfalls alle grüßen. Ihre Nadja |
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