N. K. Krupskaja: Was Iljitsch aus der schönen Literatur gefiel 1926 [Zuerst veröffentlicht 1927 in der Zeitschrift „Narodny Utschitel" Nr. 1, S. 4-6. Nach N. K. Krupskaja: Das ist Lenin. Eine Sammlung ausgewählter Reden und Artikel. Berlin 1966, S. 112-118] Der Genosse, der mich zuerst mit Wladimir Iljitsch bekannt machte, sagte mir, Iljitsch sei ein gelehrter Mann, lese ausschließlich wissenschaftliche Bücher, habe in seinem Leben keinen einzigen Roman und niemals Gedichte gelesen. Ich war baß erstaunt. Ich selbst hatte in meiner Jugend alle Klassiker immer wieder gelesen, ich kannte fast den ganzen Lermontow und anderes auswendig, und Schriftsteller wie Tschernyschewski, L. Tolstoi und Uspenski sind als etwas Bedeutsames in mein Leben eingegangen. Es erschien mit seltsam, dass es einen Menschen geben sollte, den das alles überhaupt nicht interessierte. Dann lernte ich Iljitsch bei der Arbeit näher kennen und erfuhr, wie er die Menschen beurteilte. Ich beobachtete, wie aufmerksam er das Leben, die Menschen studierte – und der lebendige Iljitsch verdrängte das Bild des Mannes, der niemals Bücher, die davon sprechen, wie die Menschen leben, zur Hand genommen haben sollte. Das Leben aber gestaltete sich damals so, dass wir niemals Zeit fanden, über dieses Thema zu sprechen. Erst später, in Sibirien, erfuhr ich, dass Iljitsch die Klassiker nicht weniger als ich selbst gelesen hatte, dass er zum Beispiel Turgenjew mehrmals gelesen hatte. Ich nahm nach Sibirien Bücher von Puschkin, Lermontow und Nekrassow mit. Wladimir Iljitsch legte sie mit den Schriften Hegels neben sein Bett, und an den Abenden las er sie immer wieder. Am meisten liebte er Puschkin. Er schätzte jedoch nicht nur die künstlerische Form. So liebte er beispielsweise Tschernyschewskis Roman „Was tun?“ trotz seiner mangelhaften künstlerischen, naiven Form. Ich war erstaunt, wie aufmerksam er diesen Roman las und welche Feinheiten er in ihm entdeckte. Übrigens verehrte er den ganzen Menschen Tschernyschewski, und sein sibirisches Album enthielt zwei Bilder dieses Schriftstellers, auf dem einen war von Lenins Hand das Geburtsjahr und das Todesjahr vermerkt. In Iljitschs Album gab es ferner Bilder von Émile Zola und von den russischen Schriftstellern Herzen und Pissarew. Pissarew wurde von Wladimir Iljitsch seinerzeit viel gelesen und sehr geschätzt. Es fällt mir ein, dass wir in Sibirien auch Goethes „Faust“ in deutscher Sprache und einen schmalen Band Gedichte von Heine hatten. Aus Sibirien zurückgekehrt, ging Wladimir Iljitsch in Moskau einmal ins Theater, um den „Fuhrmann Henschel“ zu sehen, und später sagte er, dass ihm das Stück sehr gefallen habe. Von den Büchern, die Iljitsch in München gefielen, erinnere ich mich eines Romans von Gerhard „Bei Mama“ und des „Büttnerbauern“ von Polenz. Später, während der zweiten Emigration, in Paris, las Iljitsch gern Victor Hugos Gedichte „Châtiments“ [Vergeltung] über die Revolution von 1848, die Hugo seinerzeit in der Verbannung geschrieben hatte und die heimlich nach Frankreich gebracht wurden. Diese Gedichte enthalten eine Menge naiven Schwulst, aber dennoch spürt man darin den Atem der Revolution. Sehr gern besuchte Iljitsch verschiedene Cafés und Vorstadttheater, um revolutionären Chansonniers zuzuhören, die in den Arbeitervierteln von allem möglichen sangen: von angetrunkenen Bauern, die einen durchreisenden Agitator in die Deputiertenkammer wählen, von Kindererziehung, von Arbeitslosigkeit und dergleichen mehr. Besonderes Gefallen fand Iljitsch an Montegus. Als Sohn eines Kommunarden war Montegus der Liebling der Pariser Arbeitervororte. Seine improvisierten Lieder – stets in die lebhaften Farben des tagtäglichen Lebens gekleidet – vertraten zwar keine bestimmte Ideologie, doch sprach aus ihnen viel aufrichtige Begeisterung. Häufig sang Iljitsch den Refrain des Liedes an das 17. Regiment, das sich geweigert hatte, auf Streikende zu schießen: „Salut, salut à vous, soldats du 17eme" (Seid gegrüßt, seid gegrüßt, Soldaten des 17. Regiments). Auf einer russischen Abendveranstaltung kam Iljitsch einmal mit Montegus ins Gespräch; es war seltsam, wie diese beiden grundverschiedenen Männer – Montegus ging später, als der Krieg ausbrach, Ins Lager der Chauvinisten über – von der Weltrevolution träumten. So geht es zuweilen – man trifft in einem Eisenbahnwagen wenig bekannte Menschen, und beim Rattern der Räder beginnt man von seinen geheimsten Gedanken zu sprechen, von Dingen, die man zu anderer Zeit nicht erwähnen würde, dann geht man auseinander und trifft sich niemals im Leben wieder. So war es auch hier. Außerdem wurde das Gespräch in französischer Sprache geführt – und in einer fremden Sprache spricht man sich leichter über seine Träume aus als in der Muttersprache. Für ein paar Stunden kam zu uns eine französische Scheuerfrau. Einmal hörte Lenin, wie sie ein Lied summte. Es war ein elsässisches Lied. Iljitsch bat die Scheuerfrau, es ihm vorzusingen und ihm die Worte vorzusprechen, und dann sang er es häufig selber. Es endete mit den Worten: Vous avez pris l’Alsace et la Lorraine, Mais malgre vous nous resterons français; Vous avez pu germaniser nos plaines, Mais notre cœur – vous ne l’aurez jamais ! („Ihr habt euch Elsass und Lothringen genommen, aber euch zum Trotz bleiben wir Franzosen; ihr konntet unsere Felder germanisieren, aber unser Herz werdet ihr niemals besitzen!“) Dies war im Jahre 1909, in der Zeit der Reaktion; die Partei war zerschlagen, doch ihr revolutionärer Geist war nicht gebrochen. Und dieses Lied passte ausgezeichnet zur Stimmung Iljitschs. Man braucht nur zu hören, wie siegesbewusst aus seinem Munde die Worte des Liedes ertönten: Mais notre cœur – vous ne l’aurez jamais ! Während dieser schweren Jahre der Emigration, von denen Iljitsch stets mit einer gewissen Bitterkeit sprach (bereits wieder in Russland, wiederholte er noch einmal, was er früher so oft gesagt hatte: „Warum nur sind wir damals von Genf nach Paris gezogen?“), in diesen schweren Jahren hat er beharrlicher denn je seinen Träumen nachgehangen, er träumte, wenn er sich mit Montegus unterhielt, siegesgewiss das elsässische Lied sang oder sich in schlaflosen Nächten in Verhaeren vertiefte. Später dann, während des Krieges, begeisterte sich Wladimir Iljitsch für Barbusses Buch „Le Feu“ (Das Feuer), dem er gewaltige Bedeutung beimaß. Dieses Buch stand in vollem Einklang mit seiner damaligen Stimmung, Ins Theater kamen wir selten. Wenn wir einmal hingingen, so fiel die Nichtigkeit des Stücks oder die fehlende künstlerische Wahrheit Wladimir Iljitsch jedes Mal schwer auf die Nerven. In der Regel gingen wir, wenn wir das Theater besuchten, schon nach dem ersten Akt wieder weg. Die Genossen lachten uns aus: Umsonst habt ihr Geld ausgegeben. Einmal aber blieb Iljitsch bis zum Schluss. Es war, glaube ich, Ende 1915; in Bern spielte man Leo Tolstois „Lebenden Leichnam“. Es war zwar eine deutsche Aufführung, aber der Darsteller des Fürsten war ein Russe, der es verstand, Leo Tolstois Idee wiederzugeben. Iljitsch folgte der Aufführung gespannt und tief bewegt. Und wie war es nun schließlich in Russland? Die neue Kunst erschien Iljitsch fremd und unverständlich. Einmal lud man uns zu einem Konzert im Kreml ein, das für Rotarmisten veranstaltet wurde. Iljitsch wurde in die erste Reihe geleitet. Die Schauspielerin Gsowskaja deklamierte Majakowski: „Wettlauf rührt als Gott des Herzens Trommel uns an“, und sie wandte sich direkt an Iljitsch, doch er saß – ein bisschen verwirrt und befremdet durch die Überraschung – da und atmete schließlich erleichtert auf, als die Gsowskaja von einem anderen Künstler abgelöst wurde, der Tschechows „Missetäter“ vorlas. Eines Abends wollte sich Iljitsch ansehen, wie die Jugend in der Kommune lebt. Wir beschlossen, in den Höheren staatlichen künstlerisch-technischen Werkstätten Warja Armand zu besuchen. Es war, wenn ich nicht irre, im Jahre 1921 an dem Tage, an dem Kropotkin beigesetzt wurde. Es war ein Hungerjahr, aber die Jugend war voller Begeisterung. Die jungen Leute schliefen in der Kommune fast auf bloßen Brettern, Brot hatten sie keins, aber „dafür haben wir Grütze", erklärte mit strahlendem Gesicht das diensthabende Kommunemitglied der erwähnten Werkstätten. Man kochte für Iljitsch aus dieser Grütze einen vortrefflichen Brei, allerdings ohne Salz. Iljitsch blickte die jungen Leute an, er sah in die strahlenden Gesichter der ihn umringenden jungen Künstler und Künstlerinnen; und ihre Freude widerspiegelte sich auch auf seinem Gesicht. Sie zeigten ihm ihre naiven Zeichnungen, erklärten sie ihm und überschütteten ihn mit Fragen. Er aber lachte, wich Antworten aus und beantwortete Fragen mit Gegenfragen: „Was lest ihr? Lest ihr Puschkin?“ „O nein“, platzte einer von ihnen heraus, „der war doch ein Bourgeois. Wir lesen Majakowski.“ Iljitsch lächelte. „Meiner Ansicht nach ist Puschkin besser.“ Danach wurde Iljitsch ein bisschen milder gegen Majakowski gestimmt. Bei seinem Namen erinnerte er sich der jungen Künstler aus den Kommunewerkstätten, die voll Leben und Freude waren, die bereit waren, für die Sowjetmacht zu sterben, die keine Worte in der Gegenwartssprache fanden, um sich auszudrücken, und die diese Ausdrucksmöglichkeit in den schwerverständlichen Versen Majakowskis suchten. Später lobte Iljitsch einmal Majakowski für seine Verse, in denen er den sowjetischen Bürokratismus verspottete. Von den zeitgenössischen Sachen gefiel Iljitsch, erinnere ich mich, ein Roman Ehrenburgs, der den Krieg schilderte: „Das ist, weißt du, Ilja der Zerzauste (Ehrenburgs Spitzname)“, erzählte er triumphierend. „Das ist ihm gut gelungen.“ Mehrmals besuchten wir das Künstlertheater. Einmal sahen wir die „Sintflut“1, die Iljitsch ausnehmend gut gefiel. Am nächsten Tag wollte er gleich wieder ins Theater. Man spielte Gorkis „Nachtasyl“. Iljitsch liebte Alexej Maximowitsch Gorki als Menschen, dem er sich auf dem Londoner Parteitag nahe gefühlt hatte, er liebte ihn als Künstler und war der Meinung, dass Gorki als Künstler vieles schon nach einem halben Wort begreife. Mit Gorki sprach er besonders offen. Deshalb versteht es sich von selbst, dass Ilijtsch an die Aufführung eines Theaterstücks von Gorki besonders hohe Anforderungen stellte. Das übermäßig Theatralische der Aufführung verdross Iljitsch. Nach dem „Nachtasyl“ ging er lange nicht wieder ins Theater. Ein andermal haben wir uns noch Tschechows „Onkel Wanja“ angesehen. Das Stück gefiel ihm. Unser letzter Theaterbesuch fiel in das Jahr 1922, wo wir Dickens’ „Heimchen am Herd“ sahen. Gleich nach dem ersten Akt fühlte sich Iljitsch gelangweilt. Dickens’ kleinbürgerliche Sentimentalität ging ihm auf die Nerven, und als das Gespräch des alten Spielzeugmachers mit seiner blinden Tochter begann, hielt es Iljitsch nicht mehr aus, und er ging mitten in der Aufführung weg. In Iljitschs letzten Lebensmonaten las ich ihm auf seinen Wunsch schöngeistige Bücher vor, gewöhnlich abends. Ich las Schtschedrin, las „Meine Universitäten“ von Gorki. Außerdem hörte er gern Gedichte, besonders von Demjan Bjedny, dessen pathetische Gedichte ihm jedoch besser gefielen als die satirischen. Wenn ich ihm manchmal Gedichte vorlas, blickte er nachdenklich durchs Fenster der untergehenden Sonne nach. Ich erinnere mich eines Gedichts, das mit den Worten endete: „Niemals, niemals werden Kommunarden Sklaven sein.“2 Liest man das wieder, so wiederholt man gleichsam den Iljitsch geleisteten Schwur, niemals, aber auch niemals auch nur eine Errungenschaft der Revolution preiszugeben … Zwei Tage vor seinem Tode las ich ihm abends Jack Londons Erzählung „Liebe zum Leben“ vor, die heute noch in seinem Zimmer auf dem Tisch liegt. Das ist eine sehr starke Erzählung. Durch eine verschneite Einöde, die kein menschlicher Fuß je betreten, schlägt sich mühselig ein verhungernder kranker Mann zur Anlegestelle eines großen Flusses durch. Seine Kräfte nehmen ab, und als er nicht mehr gehen kann, kriecht er, und neben ihm kriecht ein gleichfalls Hungers sterbender Wolf. Es kommt zum Kampf zwischen beiden, der Mensch siegt; halbtot, halb wahnsinnig erreicht er sein Ziel. Iljitsch gefiel diese Erzählung ganz außerordentlich. Am nächsten Tage bat er, Londons Erzählungen weiterzulesen. Aber bei Jack London wechseln starke Sachen mit außerordentlich schwachen. Die nächste Erzählung, an die wir gerieten, war von ganz anderer Art – sie war von bürgerlicher Moral durchtränkt: Ein Kapitän versprach dem Besitzer eines mit Getreide beladenen Schiffes, er werde die Fracht vorteilhaft verkaufen; er opfert sein Leben, nur um sein Wort zu halten. Iljitsch fing an zu lachen und winkte ab. Es war mir nicht vergönnt, ihm noch mehr vorzulesen … 1 „Sintflut" – von H. Berger, 116 2 Gedicht von W. W. Knjasew: Lied der Kommune. |
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