Parvus (Aleksandr Helphand): Staatsstreich und politischer Massenstreik (1896) [Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, II. Band, Nr. 33, 35, 36, 38, 39, S. 199-206, 261-266, 304-311, 356-364, 389-395] Einleitung In dem Kampfe der deutschen staatserhaltenden Parteien gegen den “Inneren Feind” ist eine Pause eingetreten. Ein zeitweiliger Rückzug der Reaktion nach dem kläglichen Ausgang der Umsturzvorlage war ja sehr natürlich. Aber dazu kam noch die Komplikation der äußeren politischen Lage. Die Aufmerksamkeit der Mächtigeren — große Staatsmänner und Weltstürrner in Wort und Bild — ist nach anderen Richtungen abgelenkt worden. Man trägt sich mit großen Plänen herum, über deren Wesenheit man freilich sich selbst noch nicht klar geworden ist. Aber eins ist sicher: diese Pläne erfordern viel Geld. Und so möchte man die Unzufriedenheit der Volksmassen nicht noch mehr steigern. Die Regierung gibt dieser Stimmung der sie umgebenden Kreise nach und zeigt ein freundlicheres Antlitz. So konnten wir denn erleben, dass man einen Streik vom Ministertisch aus rechtfertigte. Andererseits freilich fehlt es auch nicht an spontanen Ausbrüchen der kapitalistischen Klassenwut. Dieser Zustand wird wohl kaum lange anhalten. Wenn die neuen großen Marinevorlagen erscheinen, werden die “Staatserhaltenden” die sozialdemokratische Opposition wieder recht unangenehm empfinden, und so werden der alte Hass und Arger wieder mit ursprünglicher Gewalt zum Durchbruch kommen. Und der Kampf gegen den “Umsturz” wird wieder aufgenommen werden. Worauf die Bekämpfer des Umsturzes in letzter Linie hinauszielen, hat sich seinerzeit klar gezeigt: es ist der Umsturz der Verfassung. Der Staatsstreich wurde offen proklamiert. Wir erinnern nur an die Broschüre des Generalmajors v. Boguslawski. Dieser Herr z. D. geht sehr resolut zu Werke. Er meint: “Den Straßenräuber, der mich auf einsamem Wege anfällt, oder in mein Haus nachts einbricht, werde ich nicht entwaffnen, indem ich ihm einen Vortrag über die Unrechtmäßigkeit seines Tuns halte, oder ihn aufgrund des Paragraphen X des Strafgesetzes aus dem Hause weisen will, sondern ich werde gut tun, ihm einen Revolver vor die Nase zu halten und ihn bei der geringsten Bewegung niederzuschießen. — Das Eindringen beweist, dass die Türen und Schlösser des Hauses nicht fest genug waren, um dem Räuber den Zugang zu verwehten. Sind aber einmal solche Stellen an dem sozialen Gebäude der Gegenwart zu finden und der Räuber schon in unserem Wohnhause, so vermag nur die äußerste Entschlossenheit, ihn wieder zu vertreiben. — Alsdann können wir daran denken, Türen und Schlösser auszubessern.” — “Und im Gefühl dessen, was man zu erwarten hat, da soll man nicht zur Waffe greifen?” Aus dem Programm des resoluten Generals teilen wir folgendes mit: “Verbot der sozialdemokratischen Schriften, Zeitungen und Vereine. — Einführung der Strafe der Verbannung und Expatriierung der Rädelsführer bei sozialdemokratischen Umtrieben, deren Begriff zu erläutern wäre. — Einführung der Deportation, nach Ermessen des Richters anstelle von Gefängnis auf Zuchthaus zu erkennen, für die Verbrechen des Aufruhrs, der Verschwörung oder des Versuchs dazu. — Abschaffung des geheimen Wahlrechts und der Stichwahlen. — Errichtung eines Oberhauses mit weitgehenden Rechten.” Wie aber diese Maßnahmen durchführen? Auf die “Parteien”, anders: den Reichstag, setzt der resolute General z. D. keine großen Hoffnungen mehr. “Nimmt man den Fall an, dass der Reichstag alle ihm gemachten Vorschläge endgültig ablehnte, so wäre das ein Moment, wo eine Ansprache, ein direkter Aufruf von Kaiser und Reich gerechtfertigt erschiene … Nimmt man ferner an, dass auch dieses Mittel nicht zum Ziele führte, so stände man an einem Wendepunkt, wo die gewöhnlichen Mittel eben versagten.” Und nun konstruiert unser Kämpfer für Sitte und Ordnung sehr resolut ein förmliches Recht auf den Staatsstreich. Der Staatsstreich sei unter Umständen eine geschichtliche Notwendigkeit. “Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist ein Staatsstreich ebensowenig gerechtfertigt wie eine Revolution. Er kann aber ebensogut das Kennzeichen innerer Berechtigung an sich tragen wie diese, denn wenn man vom ethischen Standpunkt aus eine Revolution nicht missbilligt, die sich gegen eine in Wahrheit unerträgliche Tyrannei wendet, so wird man gerechterweise auch einen Staatsstreich nicht verurteilen können, der sich gegen eine demagogische Herrschaft wendet, oder mit der Überzeugung unternommen wird, einer solchen vorbeugen zu müssen.” Und er schließt seine Schrift mit den Worten: “Es handelt sich nicht, wie die Gegner sagen, um kleinliche Polizeimaßregeln — wir hassen nichts mehr wie polizeiliche Willkür —‚ sondern um einen großen, mit gewaltigen Mitteln zu führenden Kampf.” Die Schrift des Generals v. Boguslawski war, wie man weis, keine Ausnahme. Sie spiegelt nur die allgemeine Stimmung in den staatserhaltenden, besonders militärischen Kreisen wieder. Von diesen letzteren ist sie mit einem grenzenlosen Enthusiasmus aufgenommen worden. Die Redaktion der sehr respektablen “Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine” sagte z.B. in ihrer Besprechung dieser Broschüre: “Sie triff den Nagel auf den Kopf und ist ein Wort zur rechten Zeit, ein ernstes Mahnwort im Kampfe gegen die Sozialdemokratie. … Ich meine, wem jetzt noch nicht klar ist, wohin wir steuern mit dem kläglichen “Mute der Kaltblütigkeit” einem solchen Gegner gegenüber, dem ist eben nicht zu helfen! Eine Partei, deren Führer selbst sagen, es handle sich um Machtfragen, die auf anderem Gebiet gelöst werden als auf dem parlamentarischen, drückt den staatserhaltenden Parteien selbst ein Schwert in die Hand. Gebe Gott, dass die Stimme Boguslawskis nicht gleich der Stimme des Predigers in der Wüste verhalle.” So haben wir uns denn an die Aufgabe gemacht, einmal ruhig zu untersuchen, wie die Dinge in Wirklichkeit liegen. Wie weit die Reaktion gehen könnte und welche Folgen sie zeitigen müsste. Und welche Mittel die Arbeiterklasse besitzt, um die Reaktion abzuwehren. Da hat sich aber auch bald gezeigt, dass es sich in diesem Kampfe nicht bloß um die Arbeiterklasse handelt, sondern um den Schutz der politischen Freiheit überhaupt, dass die politische Reaktion, begonnen als Kampf gegen die Sozialdemokratie, zu ihrer letzten Konsequenz die Schaffung einer gewaltigen allgemeinen Protestbewegung haben muss, der sie unfehlbar erliegen wird. Eine Regierung, welche die freie politische Betätigung der kapitalistischen Klassengegensätze mit Gewalt verhindert, macht sich dadurch selbst zum allgemeinen Sündenbock des kapitalistischen Klassenkampfs. Es gibt für die Reaktion im politischen Kampfe gegen die Arbeiterklasse keinen Ausweg mehr. Das Spiel ist verloren. Je nach der eingeschlagenen Taktik mag es etwas länger oder kürzer dauern. Aber das Ende, und ein rasches Ende, ist außer Zweifel: die Reaktion verliert das Spiel, das Proletariat behauptet als Sieger das Feld. Dann dürfte sie doch wohl am besten tun, das Spiel beizeiten aufzugeben, solange sie noch irgendwie im Stande ist, die stark anwachsende Zeche zu bezahlen! Die Sozialdemokratie hält ihre Karten offen. Mögen die anderen sehen, wie sie dabei zurechtkommen! Wir berufen uns in dieser Abhandlung öfters auf Friedrich Engels. Das bedarf an und für sich keiner besonderen Erklärung. Aber es geschah noch aus einem speziellen Grunde: weil Friedrich Engels‘ letzte Ausführungen über die Taktik der Arbeiterbewegung, die er voriges Jahr in seiner Einleitung zu einem Neudruck von K. Marx‘ “Klassenkämpfe in Frankreich” gemacht hatte, vielfach missverstanden worden sind. 1. Der neue Kurs Seit einigen Jahren will den kapitalistischen Regierungen nichts mehr gelingen. Das nicht nur in Deutschland. In Frankreich, in Österreich, in England, in Italien, überall der gleiche Fall. Die Regierungen befinden sich in permanentem Konflikt entweder mit der Volksvertretung oder mit der öffentlichen Meinung oder mit beiden zugleich. In Deutschland, in Österreich und in Frankreich steht zweifellos den politischen Machthabern in erster Linie die Sozialdemokratie im Wege. Wie sonderbar: in Österreich die Zwickmühle, weil die Arbeiterklasse das allgemeine Wahlrecht nicht hat, und in den beiden anderen Ländern, weil die Arbeiterklasse im Besitze des allgemeinen Wahlrechts ist! Das sollte doch über manches belehren, wenn der Egoismus einer herrschenden Klasse überhaupt der Vernunft zugänglich wäre. Nehmen wir Deutschland, das uns am nächsten liegt. Da weis man ja, wie die Dinge stehen. Der “neue Kurs” zählt noch wenig Jahre, aber viele Niederlagen. Er reitet schnell — von Schlappe zu Schlappe. Er ist unbeständig, wechselnd wie die Launen der Verliebten. Kein Mensch weis, was der nächste Tag in die politische Welt bringen wird. Heute “soziales Königtum” und morgen der Staat eine Domäne der Agrarier. Heute soll der Staat ein Kulturträger sein, fördernd Kunst und Wissenschaft, und morgen herrschen Pfaffenkutte und Polizeibüttel über Literatur und Kunst. Die geringfügigste Veranlassung kann plötzlich zu einer gewaltigen Staatsaktion aufgebauscht werden. Jeden Augenblick Knalleffekte — der gesamte Staatserhaltungsapparat gerät in Aktion, als ob es gälte, das Vaterland zu retten, die “Patrioten” werden auf die Beine gebracht, aber nur zu bald zeigt es sich, dass alles blinder Lärm war. Die öffentliche Meinung wird irritiert. Die Bürgerschaft schüttelt den Kopf zu diesem politischen Schaukelspiel und fragt sich mit banger Besorgnis: Was soll denn das? Was will man denn eigentlich? Wo steuern wir hin? Die leitenden Personen wechseln wie die Puppen im Spiel. Kaum haben sie sich eingearbeitet, so müssen sie fort. Keine weitausschauenden Pläne sind unter solchen Umständen möglich. Die Staatslenker leben vom Augenblick. Wird da nicht ihre Politik zum Spielball des Zufalls und der Laune? Der politischen Scharlatanerie sind in der Öffentlichkeit Tür und Tor geöffnet. Die Intrige, die Koterie, die Clique, das Strebertum erreichen die größte Geltung. Ein tiefer Zwiespalt bildet sich zwischen der Staatsleitung und dem Volke. Der “neue Kurs” hat es mit allen verdorben und niemand befriedigt. Wo ist denn die Partei, auf die er sich stützen kann? Jede hat an ihn große Forderungen, aber keine will sich für ihn engagieren. Die gesetzgeberische Maschinerie, d. i. der Reichstag, versagt ihre Dienste. Eine Regierungsvorlage nach der anderen wird abgelehnt. Dann kann es auch zutreffen, dass infolgedessen einmal einer Regierung, der nicht der Wille des Volkes als höchstes Gesetz gilt, die ganze Parlamentsordnung als unbequemes, lästiges Ding erscheinen würde. Man erinnere sich nur, welche erbitterte, verletzende Stimmung von den Regierungsvertretern während der vorigen Session dem Reichstag gegenüber offenkundig zur Schau getragen wurde, und man wird diesen Gedanken nicht kurzweg von sich weisen. Was soll man erst zu Äußerungen sagen, wie die des gewesenen Ministers v. Köller: “Die Regierung bedarf Ihrer nur insoweit, als Sie den Gesetzen, die sie Ihnen vorlegt, zuzustimmen haben und die Gelder zu bewilligen haben.” Kann man denn diesen Satz nicht so umkehren: “Und wenn Sie den Vorlagen nicht zustimmen und die Gelder nicht bewilligen, dann bedarf Ihrer die Regierung nicht, dann sind Sie ihr lästig und zuwider? Das hieße also, dass der Reichstag nur dann willkommen sei, wenn er sich zum Jasagerapparat degradiert. Dass der Reichstag die Vorlagen zu prüfen hat, dass er selbst Vorlagen einbringen kann, dass er mehr noch als der Bundesrat der eigentliche. gesetzgebende Körper ist, dass die Regierung ihm Rechenschaft abzulegen hat, dass er überhaupt nicht der Regierung wegen da, dass er die Vertretung des Volkes ist — das alles wird also durch die erwähnte Äußerung eines Staatsministers des Innern ignoriert. Wer aber den Regierungsgenies in Deutschland die parlamentarische Tätigkeit am meisten verleidet, ist die Sozialdemokratie. An der Sozialdemokratie allein hält sich seit 1890 die gesamte politische Opposition im Deutschen Reich. Die Militärvorlage hätte bei weitem nicht die bekannten großen Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, die Tabaksteuer wäre schon längst angenommen worden, wenn nicht die Sozialdemokratie da wäre. Der politische Einfluss, den die Sozialdemokratie ausübt, ist zum Teil ein direkter durch ihre bei der Zersplitterung der bürgerlichen Parteien ansehnliche Vertretungszahl im Reichstag, in der Hauptsache aber ist er indirekt, indem die bürgerlichen Parteien von ihr in steter Angst und Sorge um ihre Reichstagsmandate gehalten werden. Ihre schonungslose Kritik ist es, die der Sozialdemokratie die meiste Kraft verschafft. Durch diese übt sie in politischen Fragen den größten Druck auf die Öffentlichkeit aus. Die bürgerlichen Parteien fürchten, von der Sozialdemokratie vor den Wählern bloßgestellt zu werden, und darum beherrscht sie die politische Situation. Der Hass gegen die Sozialdemokratie beruht hier also darin, dass sie die unerschrockene und rücksichtslose Vertreterin der Interessen des arbeitenden Volkes ist, das ja unter dem allgemeinen Wahlrecht bei den Wahlen den Ausschlag gibt. Aus dem allgemeinen Wahlrecht schöpft die Sozialdemokratie ihre parlamentarische Macht, und darum eben ist das allgemeine Wahlrecht den bürgerlichen Parteien lästig, denn es gemahnt sie daran, dass sie von ihren Taten dem Volke Rechenschaft abzulegen haben. Die bürgerlichen Parteien werden deshalb durch die Anwesenheit der Sozialdemokratie förmlich gezwungen, eine oppositionelle Stellung einzunehmen. Die Sozialdemokratie gibt den Ton an. Obwohl formell als Führerin nicht anerkannt, leitet sie in Wirklichkeit die gesamte parlamentarische Opposition. Darum betrachten die Wortführer des neuen Kurses die Sozialdemokratie als ihren Hauptfeind. Für diese Leute handelt es sich nicht um die Zukunftspläne der Sozialdemokratie, sondern um ihre Gegenwartsbedeutung. Wer sich mit Projekten neuer Verbrauchssteuern, neuer Zölle, neuer Militärbewaffnung, neuer Panzerbauten u. a. herumträgt, dem steht die Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt im Wege. Das ist der Kern der Sache. Der “neue Kurs”, und darunter verstehen wir nicht einzelne Persönlichkeiten, sondern eine politische Geistesrichtung, der neue Kurs, der durch sein unberechnetes, provozierendes, bramarbasierendes Auftreten die öffentliche Meinung gegen sich gekehrt und die Opposition gestärkt hat, gelangt folgerichtig dazu, dass er sich mit aller Macht auf die Sozialdemokratie als die Grundfeste der Opposition stürzt. Man will die Sozialdemokratie beseitigen, um darnach mit der bürgerlichen Opposition desto leichter fertig zu werden. Doch wie die Sozialdemokratie wenigstens aus dem Reichstage loswerden? Da ist es jedermann klar, dass zu diesem Zweck vor allem das allgemeine Wahlrecht abgeschafft werden müsste. Das ist auch die Aufgabe, an der sich viele berufene und unberufene Staatsretter seit geraumer Zeit im Schweiße ihres Angesichts abplagen. 2. Die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts Die erste Frage, die einer Aufklärung bedarf, ist also die: ob es möglich sei, das allgemeine Wahlrecht im Deutschen Reiche zu beseitigen? Die Schwierigkeit liegt nicht in der Zerstörung, sondern in dem Aufbau. Die Schwierigkeit liegt darin, durch welches Wahlsystem das allgemeine Wahlrecht ersetzt werden soll? Und das ist es eben: es gibt kein Wahlsystem, außer dem allgemeinen Wahlrecht, das sämtliche wirtschaftlichen und politischen Gruppierungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft befriedigen könnte. Österreich bietet uns ja gerade dafür die trefflichste Bestätigung. Nicht minder als ein volles Schock verschiedener Wahlprojekte sind dort bereits ausgetüftelt worden — dennoch will keines behagen, und nur die Furcht vor der Sozialdemokratie hält die Parteien vor dem allgemeinen Wahlrecht zurück. Und doch ist es leichter, ein schlechtes Wahlsystem, wie in Österreich, durch ein verbessertes zu ersetzen, als ein gutes Wahlsystem, resp. das allgemeine Wahlrecht, wie in Deutschland mit einem schlechteren System zu vertauschen.1 In Österreich kommt allerdings auch noch die nationale Zersplitterung in Betracht. Aber in einem geringeren Grade ist dies ja in Deutschland ebenfalls der Fall. Vor allem aber muss der Charakter Deutschlands als Bundesstaat berücksichtigt werden und der konfessionelle Unterschied. Es gibt im Deutschen Reiche eine Trennungslinie der Konfessionen, die als wirtschaftliche, politische und beinahe nationale Trennungslinie gelten kann. Die wirtschaftlichen und politischen Zustände in Ostpreußen oder Pommern sind anders, als im Rheinland oder in Baden oder auch in Bayern. Das alles will aber im Reichstag, bei der Gesetzgebung und Verwaltung, zum Ausdruck kommen. Nur die Wahl nach der Volkszahl kann die gemeinsame Grundlage abgeben für eine so verschiedengestaltige Interessenvertretung. Es gibt aber in Deutschland noch eine besondere Schwierigkeit zu überwinden. Das wirksamste Mittel, um das Proletariat vom Wahlrecht fernzuhalten, ist ein hoher Einkommenszensus. Da stellt sich aber sofort als unüberwindliches Hindernis heraus, dass es keine Reichseinkommensteuer, überhaupt im Reiche keine direkten Steuern gibt. Was soll denn als Maßstab des Einkommens oder des Vermögens gewählt werden? Die direkten Steuern der einzelnen Bundesstaaten sind sehr verschieden nach Veranlagung und Durchführung — würde man an diese das Wahlrecht knüpfen, so würde es tatsächlich, ebenso viele Unterschiede des Wahlrechts geben, als es Bundesstaaten gibt, und die einen wären im Vorteil resp. im Nachteil gegenüber den anderen. Was anders aber könnte als Wahlzensus gewählt werden, wenn nicht das Einkommen? Vielleicht der Grundbesitz? Das würde aber offenbar die gesamte städtische Bevölkerung, ausgenommen die Hauseigentümer, vom Wahlrecht ausschließen. Das würde nicht bloß das Proletariat treffen, sondern auch das industrielle Kapital, und würde die größten Unterschiede bilden zwischen den einzelnen Staaten, je nach ihrer industriellen Entwicklung. Das allgemeine Ergebnis wäre eine klerikal-konservative Mehrheit. Die Stellung der Regierung dem Parlament gegenüber wäre nicht minder schwierig als jetzt. Die Regierung wäre im Reichstag die Sozialdemokratie losgeworden, hätte aber dafür ein bäuerlich-klerikales Regime eingetauscht. Sie würde dabei die öffentliche Meinung gänzlich von sich abgestoßen und das Volk in ungeheure Aufregung versetzt haben. Zum Klassenkampf würde sich der religiöse Kampf gesellen, und zu dem klassenbewussten Proletariat ein unzufriedenes Bürgertum! Gerade diejenigen Elemente, die jetzt am lautesten die Unterdrückung der Sozialdemokratie fordern, würden dann, überrascht und aufgebracht durch die klerikale Herrschaft und durch die Gärung unter den Volksmassen noch mehr erschreckt als jetzt durch die Wahlsiege der Sozialdemokratie geängstigt, der Regierung an allem die Schuld beimessen und auf ihren Sturz emsig hinarbeiten. Deshalb, solange man im Deutschen Reiche nicht einmal so weit ist, eine Reichseinkommensteuer einzuführen, kann man auch das allgemeine Wahlrecht nicht abschaffen. Und würde man die Einkommensteuer einführen, dann müsste man erst recht das allgemeine Wahlrecht behalten, denn das Volk zu dem Zwecke zu besteuern, um ihm sein Wahlrecht zu rauben, das wäre ein zu schroffer und verletzender Widerspruch. Würde man es tun, so erhielte man, mag das Wahlsystem noch so kunstvoll konstruiert werden, schon bei den nächsten Wahlen die erbittertste Opposition in den Reichstag. Diese praktische Unmöglichkeit, im Deutschen Reiche das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen, macht es begreiflich, warum bis jetzt, trotz den vielen Wehklagen über die Sozialdemokratie, doch eigentlich kein einziger Vorschlag einer einschneidenden Wahlreform gemacht worden ist. Der Wunsch ist groß, doch klein das Können. Desto mehr verfällt man auf allerlei Halbmaßregeln. So ist der Vorschlag gemacht worden, die Altersgrenze der Wahlberechtigung auszudehnen. Selbst abgesehen davon, dass dadurch nicht allein die Sozialdemokratie getroffen wäre, so ist doch die Wirkung dieser Maßregel rein temporär. Es mag zutreffen, dass jetzt gerade unter den Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen der Prozentsatz der Sozialdemokraten besonders groß ist. Würde man aber die Wahlrechtsgrenze bis zum dreißigsten Jahre hinaufschieben, was würde dann eintreten? Schon in fünf Jahren, also bei der nächsten normalen Wahlperiode, würden die jetzigen Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen sich in Dreißig- bis Fünfunddreißigjährige verwandeln und dadurch den alten Prozentsatz wiederherstellen. Noch mehr: durch die Entziehung des Wahlrechts der Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen würde man diese offenbar in die Opposition treiben und den parlamentarischen Nachwuchs gegen sich kehren. Mehr Bedeutung hat der Vorschlag, das Wahlrecht an den festen Wohnsitz zu knüpfen. Viel würde aber auch dadurch nicht erreicht, es sei denn, dass das platte Land gegenüber den Städten, die industriell weniger entwickelten Gebiete gegenüber den industriell mehr entwickelten in Vorteil gesetzt werden. In die gleiche Kategorie fällt der Vorschlag, das Wahlrecht der Ledigen zu beschränken. Zu erwähnen sind noch die Maßregeln, die nicht an das allgemeine, sondern an das direkte, gleiche und geheime Wahlrecht anknüpfen. Aber das indirekte Wahlrecht hat nur einen Sinn und das ungleiche ist nur möglich auf Grundlage eines Zensus. Was über diesen gesagt wurde, bezieht sich also auch darauf. Würde nun der geheime Charakter des Wahlaktes abgestreift werden, so würde das allerdings zu vielen Drangsalierungen der Arbeiter führen. Doch ist es lächerlich, wenn die Reaktion auf diese Weise mit der Sozialdemokratie fertig werden zu können glaubt. Die Sozialdemokratie vereinigt bereits solche Massen, dass es in den meisten Fällen längst kein Geheimnis mehr ist, wie die Arbeiter wählen. Die Unternehmer müssen sich es schon gefallen lassen. Und so würden sie auch bei offener Wahl schließlich gezwungen werden, den Arbeitern die Betätigung ihres politischen Willens freizulassen. All diese unzulänglichen Maßnahmen haben das gemeinsam, dass sie das Gegenteil von dem erreichen würden, was sie bezwecken. Sie würden die Stellung der Regierung nicht verbessern, die Sozialdemokratie nicht beseitigen, wohl aber die Erbitterung im Volke steigern und die Opposition stärken. Das ist kein ernster Kampf, das sind Schikanen, entsprungen der Gehirntätigkeit erboster Narren und nicht dem Scharfsinn des Politikers. Nichts kennzeichnet das besser als das kurzweilige Projekt, das in der allerletzten Zeit aufgetaucht ist und eine rasche Berühmtheit erlangt hat. Man solle einfach dekretieren: “Kein Sozialdemokrat darf wählen und kein Sozialdemokrat darf gewählt werden!” Also, man glaubt, die Sozialdemokratie dadurch vernichten zu können, dass man den Namen vernichtet! Denn was anderes wird durch diese Zauberformel erreicht? Dann gibt es keine “Sozialdemokratie” mehr, allerdings — aber dafür gibt es eine “sozialistische Arbeiterpartei”, eine “proletarische Partei”, eine “Partei der Entrechteten oder der Ausgebeuteten”, schließlich eine “namenlose Partei”! Was dann? Oder will man das Bekenntnis zu einem bestimmten Programm verbieten? Wohlan, dann weg mit dem geschriebenen Programm — die Taktik, die prinzipielle Auffassung werden dadurch nicht geändert, denn diese ergeben sich aus den Verhältnissen. Glaubt man auf diese Weise den Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung, gegen den Militarismus gegen die Verbrauchssteuern beseitigen zu können? Wie kindisch! Solange dies alles fortbestehen bleibt, gibt es de facto eine Sozialdemokratie, mag sie so heißen oder anders. An die Folgen der Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts denkt man gar nicht. Aber die erste Folge davon wäre die Desorganisation des Deutschen Reiches. Wenn gegenwärtig die partikularistischen Tendenzen auch sehr zurückgetreten sind, so ist doch dieses Ergebnis im wesentlichen gerade dem allgemeinen Wahlrecht zuzuschreiben. Das allgemeine Wahlrecht zerstörte die politischen Schranken der Kleinstaaten, schuf eine Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit der politischen Betätigung und dadurch erst machte es Deutschland zur politischen Einheit. Löst man dieses politische Bindemittel auf, so ersetzt man die Einheit durch Zerwürfnis und Zerstückelung. Die Interessengegensätze der Einzelstaaten, die jetzt im allgemeinen Wahlrecht ausgelöscht werden, sie werden dann entfacht, erweitert. Das Ansehen des also auf Grundlage eines Zensus gewählten Reichstags schwindet. Die Reichsorganisation selbst erscheint nicht mehr als Willensäußerung des deutschen Volkes, sondern als eine polizeilich, resp. militärisch aufgenötigte Verfassung. Und die entstehenden Sonderbestrebungen finden einen mächtigen Resonanzboden in der über die Beraubung ihres politischen Rechtes erbitterten Volksmasse. Allgemeine Gärung, Unzufriedenheit, fortgesetzter, verzweifelter Kampf gegen die Regierung. Der Regierung aber bleibt dann auf dem von ihr einmal beschrittenen Wege auf all das nur eine Antwort: verstärkte Repressalien, polizeiliche Drangsalierung. Die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts führt also — wenn praktisch ermöglicht — mit Notwendigkeit zur weiteren Verschärfung der Reaktion. Die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts kann nicht eine Maßregel für sich bleiben, sondern ihr folgen auf den Fersen Beschränkung der Presse, der Versammlungen, der politischen Betätigung überhaupt. Ohne allgemeines Wahlrecht weder politische Freiheit noch bürgerliche Verfassung! So wendet sich auch hier der Kampf nicht gegen die Sozialdemokratie allein, sondern gegen die freiheitlichen Grundlagen des Staates überhaupt und gegen die Einheit des Deutschen Reiches. 3. Der Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie Je schwieriger es erscheint, der Sozialdemokratie ein für allemal die Pforten des Reichstags zu verschließen, desto mehr ist zu erwarten, dass das Bestreben entstehen wird, die politische Tätigkeit der Sozialdemokratie im einzelnen zu hemmen. Es soll nicht sozialdemokratisch agitiert werden! Es soll nicht sozialdemokratisch gewählt werden, obwohl das Recht dazu da ist! Es soll nicht sozialdemokratisch gesprochen werden. Es soll nicht sozialdemokratisch gedacht werden! Es soll sich niemand das Aussehen geben, als wäre er Sozialdemokrat! Kurz, die Sozialdemokratie soll aufhören, Sozialdemokratie zu sein. Und zu diesem Zweck soll sie auf Schritt und Tritt beobachtet und verfolgt werden. Das bedeutet einen Guerillakrieg, einen unorganisierten Kampf der Polizisten und Staatsanwälte gegen die Sozialdemokratie, der von Staat zu Staat, von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk, von Polizeidistrikt zu Polizeidistrikt anders geführt werden muss. Eine Jagd nach jedem einzelnen und nach jeder einzelnen Äußerung! Und das bei einer Partei von zirka zwei Millionen Wählern, die über mehr als drei Dutzend Tageblätter und eine große Menge anderer Zeitungen verfügt, über das ganze Reich bis in die kleinsten Nester verbreitet ist und jährlich Tausende von Versammlungen abhält! Und bei alledem geht das taktische Bestreben dieser Partei nicht etwa dahin, die Gesetze zu verletzen, sondern im Gegenteil, sie auf das Peinlichste einzuhalten! Ist es denn so schwer, vorherzusagen, dass ein derartiger Kampf mit der stets anschwellenden sozialdemokratischen Masse für die Staatsorgane völlig aussichtslos sein müsste? Wohlan, wir wollen einmal untersuchen, was auf diesem Wege der kapitalistische Staat gegenüber der Sozialdemokratie zu erreichen vermag! Ein solcher Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie geht nach zwei Richtungen: einmal gegen die Vereine und Versammlungen, dann gegen die Presse. Es ist bereits im Deutschen Reich von der Polizei in bezug auf die Beschränkung der politischen Vereinsbildung schier das Menschenmögliche erreicht worden. Außer den Wahlvereinen gibt es unter der Arbeiterschaft so gut wie gar keine politischen Vereine mehr. Und was ist das Resultat davon? Das Schwergewicht der politischen Aktion ist aus dem Verein in die Versammlung verlegt. Statt sich in kleinen Gruppen zu verzetteln, gewinnt sie von vornherein einen allgemeinen, einen Massencharakter. Die Sektenbildung, das gefährlichste für die einheitliche Entwicklung jeder politischen Bewegung, wird erschwert. Weil der Wahlverein fast die einzige mögliche Form der politischen Organisation, so ist die politische Tätigkeit von der parlamentarischen Vertretung unzertrennbar. Und weil der Reichstag eben eine Vertretung des gesamten Reiches ist, so wird dadurch eine das gesamte Reich umfassende Partei geschaffen. Statt die Sozialdemokratie zu desorganisieren, wird sie also dadurch vielmehr zu einem einheitlichen Gebilde zusammengefasst. Wir wollen damit keineswegs behaupten, dass etwa die sächsische oder preußische Vereinsgesetzgebung lauter Segen seien für die Sozialdemokratie. Die politische Schulung der einzelnen Arbeiter würde zweifellos durch die freie Entfaltung der politischen Klubs sehr gefördert werden. Aber erstens findet sich Ersatz dafür, vor allem in der Presse, sodann wird gerade das, was man mittels dieser Maßregeln zu verhindern sucht, die Bildung einer großen parlamentarischen Arbeiterpartei, in Wahrheit dadurch gefördert. Viel schwieriger schon als mit den Vereinen, wird die Polizei mit den Versammlungen fertig. Wird ein Verein aus irgendwelchen Gründen aufgelöst, so ist es eine umständliche Sache, an seiner Stelle einen anderen zu gründen, aber nach jeder verbotenen Versammlung ist es verhältnismäßig ein leichtes, eine andere einzuberufen. Immer lassen sich auch bei der zweckdienlichen Auslegung selbst des preußischen oder sächsischen Versammlungsgesetzes Versammlungen nicht verhindern. So finden denn zahllose Versammlungen statt, und mit je größeren Schwierigkeiten ihr Zustandekommen verbunden ist, desto besser werden sie besucht. Da bleibt nun nichts mehr übrig, als den Angriff auf einzelne Personen zu konzentrieren, also vor allem auf den Agitator, der in der Versammlung spricht. Dem Redner wird aufgelauert. Die Präventivmaßregeln der Polizei sind tatsächlich erschöpft. Die Agitation ist im vollen Zuge. Die Polizei selbst hat. dazu beigetragen, das Interesse der Versammelten zu steigern. Nun wird aufgepasst, ob sich nicht im Redefluss etwas zeigt, woran man irgendeinen Strafgesetzbuchparagraphen festhalten könnte. Schließlich reduziert sich die ganze staatsretterische Aktion darauf, dass es zwei preußischen Unteroffizieren vielleicht gelingt, ein Wort aufzuschnappen, das als jemandes Ehrenkränkung aufgefasst werden könnte. Und damit soll eine große politische Bewegung, die in tiefen wirtschaftlichen Interessen wurzelt, vernichtet werden? In unzähligen Fällen gelingt auch das nicht, aber wenn auch, was dann? Die Versammlung wird aufgelöst. Die Erbitterung der Masse steigt aufs höchste: der Erfolg der Agitation ist gesichert. Der Agitator wird eingesperrt. Aber anstelle des einen treten sofort zehn andere auf! So hascht die Polizei bald nach dieser, bald nach jener Richtung, hat tausenderlei zu tun, wird gar nicht fertig, regt überall das Volk auf, erweckt Erbitterung, reizt die Massen gegen sich und gegen die Regierung auf, und das nennt man: Bekämpfung der Sozialdemokratie! Eins ist doch auf den ersten Blick klar: so lange es ein allgemeines Wahlrecht gibt, lassen sich die Vereine und Versammlungen nicht gänzlich ausrotten. Das war ja auch für die Regierung das Fatale des Sozialistengesetzes, woran es zugrunde ging. Einerseits zersprengte sie die Organisationen, verbot Versammlungen, hinderte die Agitation, aber auf der anderen Seite musste sie allmählich die gesetzlichen Mittel der Wahlorganisationen, der Wahlversammlungen, der Wahlagitation freilassen. Und da sie keine anderen Wege der politischen Betätigung zuließ als diese, schuf sie mit Gewalt eine große politische Partei. Dies um so mehr, als ja im allgemeinen Wahlrecht auch das Mittel gegeben ward, das Sozialistengesetz zu beseitigen. Und wiederum, wo die Vereine und Versammlungen aus diesen oder jenen Gründen in der Agitation versagen, da springt sofort das dritte Glied der politischen Dreieinigkeit helfend ein: die Presse. Von den Dreien ist die Presse das mächtigste Agitationsmittel, das imstande ist, die übrigen zwei zu ersetzen. Hat die Zeitung einmal ihren Leser erfasst, so lässt sie ihn nicht mehr los. Sie dringt zu ihm ins Haus von Tag zu Tag. Sie ist seine Leiterin und Ratgeberin in allen öffentlichen Angelegenheiten. Sie unterrichtet ihn. Sie lässt ihn die Dinge so betrachten, wie sie es will. Sie beherrscht sein Denken. Sie bildet zugleich, wenn sie im Dienste einer Partei steht, die geistige Verbindung zwischen den Anhängern dieser Partei. Sie agitiert und organisiert in gleichem Masse und weicht nicht von der Stelle, bleibt als die Verbindung selbst stets bestehen, immer neu in ihrem Inhalt und doch gleich in ihrer Grundlage. Dabei lässt sich der Journalist noch viel schwieriger in den Netzen des Strafgesetzbuchs, mag dieses noch so verrückt ausgelegt werden, einfangen als der Redner, dem eher in der Hitze der Diskussion ein unvorsichtiges, gereiztes Wort entschlüpfen kann. Den Willen, Ungesetzlichkeiten zu begehen, hat weder der sozialdemokratische Redner, noch der sozialdemokratische Zeitungsmensch. Das weis jetzt jedes Kind. Weshalb denn auch, da die Partei auf dem gesetzlichen Boden so vorzüglich gedeiht? Keine Schlingen und kunstgerechten Widerhaken der Strafgesetze vermöchten die sozialdemokratische Bewegung zu hindern. Wie kläglich müsste es doch um die deutsche Literatur, um den Begriff- und Wortschatz der deutschen Sprache bestellt sein, wenn es tatsächlich gelingen könnte, dem Leben entsprossene und täglich aufs neue entsprießende Ideenkreise durch juristische Formeln aus der Öffentlichkeit zu bannen! Nur die Worte sind durch Gesetzesparagraphen fassbar, die Begriffe nicht. Denn die Zahl der Ausdrucksformen der Begriffe ist unendlich. Sie lassen sich in stets neue Zusammenhänge und Gegensätze bringen. Sie sind wandlungsreich wie das Leben. Und je entwickelter die Literatur, desto veränderungsfähiger die Begriffe in ihrer Ausdrucksform. Vor mehr als einem Jahrhundert schrieb Klopstock die stolzen Worte: “Dass keine, welche lebt, mit Deutschlands Sprache sich In den zu kühnen Wettstreit wage! Sie ist — damit ich‘s kurz, mit ihrer Kraft es sage — An mannigfalt‘ger Uranlage Zu immer neuer und doch deutscher Wendung reich.” Und nun, nachdem Klopstock, Lessing, Goethe, Schiller, Fichte, Heine, Lassalle usw. gewirkt haben, nunmehr sollte es möglich sein, eine großartige, durch Jahrzehnte sich entwickelnde kulturelle Bewegung dadurch zu vernichten, dass man das Aussprechen einiger Worte und Wortverbindungen unter Strafe stellt? Mehr als das ist aber ein solcher Polizeikrieg in seiner Grundlage nicht. Der Erfolg jeder Verschärfung der strafrechtlichen Verfolgung der Sozialdemokratie ist höchstens ein temporärer. Solange die Anpassung an die neuen gesetzgeberischen oder administrativen Normen noch nicht fertig ist, fallen der Staatsanwaltschaft zahlreichere Opfer zu. Aber schließlich wird die gesetzlich zulässige Ausdrucksform unbedingt herausgefunden, das Publikum lernt die Agitatoren auch in der veränderten Weise verstehen — und die polizeilichen Streiche sausen widerstandslos durch die Luft. Aber anderes wird dadurch erreicht! Je weniger es gelingen würde, die sozialdemokratische Agitation mittels strafgesetzlicher Vorschriften zu fassen, desto mehr müsste das Bestreben entstehen, diese Gesetze so auszulegen, dass sie dennoch auf den erwünschten Fall passen. Dann aber wird das Gesetz in ein Prokrustesbett gelegt: bald gekürzt, bald in die Länge gezogen, immer aber von den Rechtsprechenden selbst verletzt! Man ginge aus, Ungesetzlichkeit zu ahnden, und endete damit, dass man Ungesetzlichkeit übt. Man setzte schließlich anstelle des Gesetzes Willkür, anstelle des Richters den Polizeibüttel. Was wäre die Folge davon? Die Achtung vor den Richtern und vor der Rechtsprechung würde schwinden. Statt in ihnen die vermittelnde und regelnde Kraft in den aufeinanderprallenden gesellschaftlichen Widersprüchen zu erblicken, gewöhnte man sich unter solchen Umständen daran, die Richter als Diener einer bestimmten Klasse, der Klasse der Reichen, der Kapitalisten, der Ausbeuter zu betrachten. Der Klassencharakter des Staates wäre entlarvt. Das Volk sähe im Staate nur die Organisation, durch die es beherrscht wird. Es würde misstrauisch, unzufrieden. Und wenn die neue Reichstagswahl kommt, wächst die Stimmenzahl der Sozialdemokratie! Wäre das etwa ein Wunder? Die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts würde zur Desorganisation des Deutschen Reiches führen, der Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie aber hat, wenn konsequent durchgeführt, zur Folge die Desorganisation des Staates überhaupt, die Unterwühlung der gesetzlichen Grundlagen seines Bestandes. 4. Konstitutionalismus oder Absolutismus? Es gibt ein ehernes Muss der Konsequenzen. Die Folgen stellen sich ein, ob man es will oder nicht. Und dann muss das verhängnisvolle Dilemma entschieden werden: vorwärts oder rückwärts, fortgesetzter Kampf oder Rückzug! Richtet der Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie wenig aus, so wird er dann desto erbitterter geführt. Und je erbitterter er geführt wird, desto mehr zersetzt er die politischen Rechtsverhältnisse. Und je weiter diese Zersetzung der politischen Rechtsverhältnisse fortschreitet, je weniger von der gesetzlich garantierten Freiheit der politischen Betätigung übrigbleibt, desto notwendiger wird es, weitere gesetzliche Einschränkungen der politischen Freiheit herbeizuführen, oder aber der Polizeiwillkür ein Ende zu setzen. Ins Unendliche kann der Zwiespalt und der Widerspruch nicht geführt werden: Entweder man passt die polizeiliche Handhabung den Gesetzen an, oder die Gesetze der polizeilichen Praxis. Welches sind aber die äußersten Konsequenzen der Beschränkungen der Presse, der Vereine und der Versammlungen? Für die Presse ist diese äußerste Konsequenz: die Präventivzensur. Wenn es ein wirksames Mittel der Beschränkung der Presse gibt, so ist es zweifellos nur die Präventivzensur. Solange die Veröffentlichung von vornherein erlaubt ist und erst nachher die strafrechtliche Verfolgung eintritt, ist die Presse, wie schon dargelegt worden ist, im allgemeinen unfassbar. Denn dann liegt es auf seiten der vollziehenden Gewalt, den Beweis zu führen, dass etwas gegen die Gesetze Verstoßendes gedruckt worden ist. Es lässt sich aber für jedes Ding eine Ausdrucksform finden, die gegen die Strafgesetze nicht verstößt. Dagegen herrscht unter der Präventivzensur der Grundsatz: Jede Publikation ist verboten, oder anders: nur mit Erlaubnis des Zensor, darf gedruckt werden. Wenn nun aber der Zensor die Veröffentlichung nicht erlaubt, so ist es auf seiten des Verfassers, den Beweis zu führen, dass die Deutung des Zensor, falsch sei. Er hat der vollziehenden Gewalt den Prozess zu machen, während früher das Umgekehrte eintraf. Die Situation ist total verändert. Unter der Präventivzensur erscheint also überhaupt nur das, was der vollziehenden Gewalt genehm ist, bzw. den Instruktionen des Zensors entspricht. Das ist nicht mehr bloß Einschränkung, sondern Aufhebung der Pressefreiheit. Am Ende gelingt es freilich auch der Präventivzensur nicht, die der Regierung unliebsame Literatur zu vernichten. Das beweist die Erfahrung. Man muss sich wahrlich schämen, dass man zum Schlusse des Jahrhunderts dergleichen banale Sachen noch zu erörtern hat. So herrlich weit hat es die Bourgeoisie gebracht. Einmal sind auch Zensoren Menschen, folglich können sie düpiert werden. Sodann bildet in solchen Fällen die Literatur die absonderlichsten Arten des indirekten Meinungsaustausches mit dem Publikum heraus, so in der Gestalt der Satire, des Theaterstücks usw. Schließlich bleibt die Möglichkeit der geheimen Publikation und des Einschmuggelns vom Ausland. Das eklatanteste Beispiel dieser letzteren Art ist bekanntlich der Zürcher “Sozialdemokrat”, der trotz aller Hindernisse regelmäßig allwöchentlich in Zehntausenden von Exemplaren in Deutschland eintraf und verbreitet wurde. Vollends versagt die Präventivzensur selbstverständlich ihre Wirkung, wenn neben ihr die Redefreiheit fortbestehen bleibt. Also erfordert die Präventivzensur als unvermeidliches Gegenstück die Aufhebung der Vereins- und Versammlungsfreiheit. Aufhebung, nicht bloß Einschränkung. Wie bei der Presse, so müsste auch bei den Vereinen und Versammlungen das Verbot als Grundsatz gelten. Die Dispensation von diesem Verbot, die Erlaubnis, Vereine zu gründen, Versammlungen abzuhalten, müsste vollständig in die Hände der vollziehenden Gewalt, der Regierung, gelegt werden. Und auf diese Weise lässt sich allerdings die Vereins- und Versammlungstätigkeit, sieht man von den wenig bedeutenden geheimen Organisationen ab, nach dem Wunsche der Regierung regeln. Beispiele: Russland, die Türkei und China. Aber es ist klar, dass, wenn diese äußeren Konsequenzen der politischen Reaktion gezogen sind, dann die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts erst recht als staatserhaltende Notwendigkeit sich erweist. Denn der gesamte Groll, der durch die politischen Beschränkungen erzeugt worden wäre, würde bei den Wahlen zu einem explosiven Ausdruck kommen, um so mehr als er sonst kein Ausdrucksmittel hätte. So zieht eins das andere in einer unverbrüchlichen Kettenfolge nach sich. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob selbst die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts bei einem solchen Zustand extremer Reaktion, die alles getroffen hätte, was nur irgendwie freiheitlich oder demokratisch denkt, ausreichen würde, um auf die Dauer eine der Regierung genehme Reichstagsmajorität aufrechtzuhalten. Denn eine solche politische Ordnung würde ja die öffentliche Betätigung jeder Opposition außerhalb des Reichstags unmöglich machen, folglich bei der großen Mannigfaltigkeit der bürgerlichen Interessen eine parlamentarische Opposition förmlich erzwingen. Andererseits haben wir bereits gezeigt, mit welchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten die Einführung einer Zensuswahl im Deutschen Reiche verbunden ist. Das ist der Widerspruch: weil man die Opposition aus dem Reichstag nicht hinausdrängen kann, so sucht man ihre öffentliche Tätigkeit durch Einschränkung der politischen Freiheit zu hemmen — aber je mehr man die politische Tätigkeit außerhalb des Parlamentshauses erschwert, desto mehr stärkt man die parlamentarische Opposition; und hebt man die politische Freiheit gänzlich auf, dann hat man erst recht die Opposition im Hause! Gibt es nun keinen Ausweg aus diesem fatalen Dilemma? Doch, man muss nur die weitere Konsequenz der Reaktion ziehen. Wenn man nun einmal die Opposition im Reichstag nicht los werden kann, so muss man offenbar suchen, ihre politische Wirksamkeit innerhalb des Reichstags zu beschränken. Diese Aufgabe ist juristisch sehr leicht zu lösen. Die gesetzgeberische Initiative des Reichstags ist bekanntlich auch jetzt in enge Bahnen geleitet: kein Reichtagsbeschluss kann Gesetz werden, wenn es der Bundesrat nicht will. Man braucht dies bloß in der Weise zu vervollständigen, dass man das Ablehnungsrecht des Reichstags beschränkt. So z. B.: Wenn eine Regierungsvorlage vom Reichstag dreimal abgelehnt, aber vom Bundesrat angenommen wird, so soll sie dennoch Gesetzeskraft haben. Mit anderen Worten, das Ablehnungsrecht des Reichstags soll nur bis zum dritten Male gelten. Wird das durchgeführt, so hat die Regierung allerdings keine parlamentarische Opposition mehr zu fürchten, aber zugleich ist sie es nunmehr allein, die die Gesetze macht, und der Reichstag hört auf, der gesetzgebende Körper des Landes zu sein, Also: Aufhebung der Pressefreiheit, Aufhebung der Koalitions- und Versammlungsfreiheit, Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts, Aufhebung der gesetzgeberischen Kompetenz des Reichstags — das alles hängt eng miteinander zusammen, hat eins das andere zur unabwendbaren Folge. Bei diesem reaktionären Paternoster ist es ganz gleich, an welcher Stelle man das Abzählen beginnt. Unmerklich gelangt man weiter, zählt die ganze Reihe ab, und schließlich weis man gar nicht mehr, wo der Anfang ist und wo das Ende. Man beginne mit der Einschränkung der Kompetenz des Reichstags. Es ist klar, dass man dann auch sofort das allgemeine Wahlrecht würde abschaffen müssen, sonst würde es einen unausgesetzten erbitterten Kampf geben zwischen Reichstag und Regierung. Oder man mache den Anfang mit der Einführung der Zensuswahl. Dann wird die Opposition mit desto größerer Wucht sich in die Presse und Versammlungen werfen. Folglich Aufhebung der Pressefreiheit usw. Es bestätigt sich, was wir schon früher erörtert haben: dass die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts nicht eine Maßregel für sich bleiben kann, sondern die brutalste allgemeine politische Reaktion nach sich ziehen muss. Die Reaktionäre denken diese Folgen nicht aus. Sie steuern darauf los ins Blaue hinein. Aber die Wirklichkeit kümmert sich nicht um die Logik der Staatsmänner. Sie hat ihre eigene Logik. Und sie zwingt den Höchsten wie den Niedrigsten, ihr zu folgen oder auf halbem Wege umzukehren. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie, wenn in angegebener Weise fortgeführt, verwandelt sich mit unerbittlicher Konsequenz in einen Kampf zweier politischer Systeme, zweier politischer Gesellschaftsordnungen. Das ist doch wahrlich kein Wunder. Die Sozialdemokratie tut nichts anderes, als dass sie innerhalb der gegebenen politischen Verfassung sich betätigt. Folglich, wenn man diese Tätigkeit hindern will, so muss man die Verfassung einschränken. Indem man gegen die politische Organisation der Arbeiterklasse kämpft, kämpft man schließlich gegen den Konstitutionalismus überhaupt, der erst diese Organisation in breitem Maßstab ermöglichte. Die gesamte deutsche Reaktion erscheint von diesem Standpunkt aus als Rückkehr zu den alten Zeiten. Man will Stufe für Stufe die Leiter heruntersteigen, die man früher aufgestiegen ist — was Wunder, dass man dann schließlich dort anlangt, woher man ausgegangen ist — beim Absolutismus? Darum, wenn die politische Verfolgung der Sozialdemokratie auf eine solche Weise weiter fortschreitet, so muss unbedingt einmal nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch das Bürgertum wieder vor der Frage stehen: Konstitutionalismus oder Absolutismus? 5. Der Staatsstreich, der Militarismus, die Agrarier “Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die “Revolutionäre”, die “Umstürzler”, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes übrig, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.” Friedrich Engels Je schroffer und schärfer die Reaktion auftritt, desto mehr muss die parlamentarische Opposition wachsen. Ist nicht schon in diesem Umstand allein die Gewähr dafür gegeben, dass das reaktionäre Treiben beizeiten zusammenbrechen muss? Das wäre wohl so in einem demokratischen Staate, in dem die Regierung vom Parlament abhängig ist. Anders aber, wo die Regierung unabhängig genug ist, um auf Abenteuer ausgehen zu können. Gerät nun eine solche Regierung wirklich einmal auf die Bahn der Abenteuer, so schrickt sie schließlich auch davor nicht zurück, wenn sie die Gesetze auf verfassungsmäßigem Wege nicht ändern kann, auf ungesetzlichem Wege die Verfassung zu ändern. Met dem Säbel in der Hand zwingt sie der Volksvertretung eine neue Verfassung auf. Das ist der Staatsstreich. Man hat der deutschen Regierung schon oft geraten, durch einen Gaunerstreich à la Napoleon III. ihren Willen durchzusetzen. Noch öfter hat man der Sozialdemokratie mit einem “Aderlass” gedroht. Der Boden, dem diese hirnverbrannten Projekte entspringen, ist der Militarismus. Die allgemeine Wehrpflicht und die ungeheure Entwicklung der Waffentechnik legen eine erschreckende militärische Macht in die Hände der Regierungen. So hat denn auch erst vor kurzem der jüngst verstorbene Friedrich Engels klar und überzeugend nachgewiesen, dass die Entwicklung der militärischen Technik und Organisation, verbunden mit den Fortschritten im Kommunikationswesen eine “Barrikadenrevolution” zur Unmöglichkeit gemacht haben. Gestützt auf diese Sachlage entsteht unter den Reaktionären der Glaube, dass man mittels des Militärs alles vermag, dass das moderne stehende Heer die Stellung der Regierung unerschütterlich macht. Im Bewusstsein dieser scheinbar uneinnehmbaren Position kann schließlich nur zu leicht in einer abenteuerlustigen Regierung der Glaube entstehen, alles wagen zu können, und dann wird sie ungeduldig und unduldsam werden gegen jede Opposition. Wenn nun die Entwicklung der Dinge sie vor die Alternative stellt, entweder nachzugeben oder Gewalt anzuwenden, so wird sie vor der Gewalt wohl nicht zurückschrecken. Andererseits gibt es Interessentengruppen, denen der Gewaltstreich einer rücksichtslosen Regierung sehr erwünscht wäre, die zum Teil darauf planmäßig hinarbeiten. Da sind zunächst die Agrarier. Diese kapitalistischen Großgrundbesitzer hatten bis in die siebziger Jahre und, unter dem Zollschutz, noch weit darüber hinaus enorm steigende Grundrenten, mit denen auch die Bodenpreise kolossal gestiegen sind. Daraufhin nahmen sie Hypotheken auf, gründeten Schnapsbrennereien und Zuckerfabriken, oder ließen sich in andere Spekulationen ein, nicht zum mindesten auf der Börse, oder sie verlebten das geliehene Geld in Saus und Braus. Da nun die Zeiten der sinkenden Getreidepreise gekommen sind und gleichzeitig in Schnaps und Zucker eine Überproduktion sich herausgebildet hat, so können sie selbstverständlich ihre Schulden nicht mehr bezahlen, die Zinsenlast drückt sie und sie klagen, sie seien ruiniert. Es hat sie aber nur das endliche Schicksal jedes Spekulanten ereilt. Sie sind Bankrotteure, die sich mitnichten von jeder fallierenden Bank unterscheiden; sie machen sich aber daraus eine Tugend, währenddem es anderen als Laster angerechnet wird. Und nun heißt es: “Staat, hilf!” Aber der Staat kann ihnen nicht helfen, sintemalen selbst die Getreidezölle auf die Dauer nicht wirken. Es sei denn, dass der Staat sie aus den Schulden (die viele Milliarden betragen) herauskauft und die Schuldscheine in die Papierstampfe wirft! Sie wissen auch selbst keine Hilfe. Sie erdenken die abenteuerlichsten Pläne, einer unmöglicher als der andere, und für all das wollen sie den Staat engagieren. Ihren sämtlichen Plänen liegt am Ende der Gedanke des Staatsalmosens auf Kosten der Steuerzahler zugrunde. Sie besitzen aber nicht die Majorität im Reichstag und werden sie auch nie aus eigener Kraft bilden können, weil mit der Entwicklung der Industrie die Vertretung des Bürgertums, sowie die der Arbeiterklasse sich erweitern. Desto mehr wenden sie sich an die Regierung. Dazu kommt das traditionelle Band, das das preußische Junkertum mit der preußischen Monarchie verknüpft. Sie tragen ihre Dienste zu jedem Zwecke der Regierung an — gegen Bezahlung. Kampf gegen wen man will: gegen die Sozialdemokratie, gegen die Katholiken, gegen die Polen, gegen die Franzosen. Aber es muss bezahlt werden! Ihre Vaterlandsliebe, ihre Kaisertreue tragen sie zu Markte und feilschen darum mit der Regierung weit mehr, als ein jüdischer Pferdehändler um einen alten Schimmel. Sie sind bereit, die deutsche Freiheit gebunden irgendeiner Regierung zu überliefert, sie zu meuchelmorden, zu schänden — für angemessenen Lohn. Aber wenn sie sich von der Regierung nicht genügend bezahlt glauben, schreien sie “Betrug!”, reißen der Monarchie die Rockschöße ab und bedrohen sie mit den Fäusten! Sie geben sich als Stützen der Regierung aus, fordern aber dafür, dass die Regierung sie stütze. Sie schützen die Regierung gegen die bürgerliche Opposition, bedrohen aber von der anderen Seite selbst die Regierung, wenn sie ihren Wünschen nicht entspricht. So setzen sie die Regierung zwischen zwei Feuer, die sie entfachen: einmal indem sie die Regierung gegen die bürgerliche und proletarische Opposition hetzen, das andere Mal, indem sie die ihnen untergebenen Wählermassen gegen die Regierung hetzen. Je mehr nun die Kluft zwischen der Regierung und der politischen Volksvertretung sich ausdehnt, desto willkommener ist das den Agrariern. Denn je mehr die Opposition wächst, desto mehr braucht die Regierung ihre Stütze. Man täusche sich dort nicht: wenn die Agrarier für die Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts eintreten, so handelt es sich für sie, in deren ostpreußischen Provinzen die Arbeiterklasse sich kaum erst zu regen beginnt, viel weniger um die Sozialdemokratie, als darum, ein rücksichtsloses agrarisches Regime zu etablieren. Die Agrarier sind für die Beschränkung der politischen Freiheit, weil sie darin das Unterpfand ihrer politischen Herrschaft erblicken. Sie wollen die politische Knechtung des Volkes, um den Staat als Werkzeug der fiskalischen Ausbeutung zu handhaben. Sie sind für den Staatsstreich, weil sie dadurch die Regierung in ihre Gewalt bekommen zu können glauben. 6. Die Furcht vor der sozialen Revolution “An dem Tage, wo das Thermometer des allgemeinen Wahlrechts den Siedepunkt bei den Arbeitern anzeigt, wissen sie sowohl wie die Kapitalisten, woran sie sind". Friedrich Engels “Es ist sehr gut gesagt, man solle die sozialen Übel beseitigen und dadurch der Sozialdemokratie den Boden abgraben. Gewiss muss man dies möglichst. Man wird das aber nie ganz können. Wenigstens weis keine Partei die nötigen Mittel hierfür anzugeben. Niemals wird man diese Partei befriedigen können. Niemals.. General v. Boguslawski Viel gefährlicher noch als die machiavellische Politik der Agrarier, kann sich unter Umständen ein anderer Faktor erweisen — die Furcht der Kapitalistenklasse vor der sozialen Revolution. Die Kapitalistenklasse erwartet scheinbar von Tag zu Tag den Ausbruch einer gewaltsamen Revolution seitens des Proletariats — sollte nicht vielmehr das Proletariat Grund haben, einen Staatsstreich seitens der Kapitalistenklasse zu befürchten, wenn diese die Regierung in ihrer vollen Macht hat? Gewiss — und das kann nicht oft genug wiederholt werden — wo, wie im Deutschen Reiche, die Verfassung der Arbeiterklasse die Möglichkeit gibt, auf gesetzgeberischem Wege ihre Ziele zu erreichen, da hat die Sozialdemokratie kein Interesse an einer gewaltsamen Änderung der Verfassung mittels einer Revolution. Sie hat vielmehr allen Grund, einen solchen Konflikt zu vermeiden, weil im revolutionären Kampfe die meisten Opfer jedenfalls auf seiten des Proletariats fallen würden und weil ein solcher ein sehr riskantes Unternehmen ist, dessen Misserfolg die Reaktion ungemein stärken und die Arbeiterbewegung auf Jahre hinaus .zurückschleudern würde. Weshalb soll sie diesen gefährlichen Weg betreten, wenn ihr der durch die Gesetzlichkeit vollkommen gesicherte offen steht? Aber je weniger die Sozialdemokratie, desto mehr Grund hat die Kapitalistenklasse, wenn es nicht anders geht, mit Gewalt die Staatsverfassung zu ändern. Je erfolgreicher die Sozialdemokratie sich des allgemeinen Stimmrechts bedient, desto verhängnisvoller wird es für die Kapitalistenklasse. Je weiter der Klassenkampf fortschreitet, desto klarer wird es für jedermann, dass es sich dabei um die Existenz selbst des Kapitals handelt. Das wusste ja der wissenschaftliche Sozialismus von Anfang an und machte nie ein Hehl daraus. Wenn er dem Kapital zur Nachgiebigkeit, zur Beschreitung des Weges der sozialen Reformen rät, was anders erstrebt er damit, als ihm einen milden Tod zu verschaffen? Aber sterben muss es. Glaubt man denn, dass das Kapital sich ruhig diesem verhängnisvollen Schicksal ergeben wird? Das spräche gegen jede geschichtliche Erfahrung und gegen jede politische Erkenntnis. Noch nie hat eine Gesellschaftsklasse freiwillig auf ihre Existenz verzichtet. Und nun vollends im proletarischen Klassenkampf! Nicht mehr um politische Privilegien handelt es sich, die die Kapitalistenklasse etwa einzubüßen hätte, sondern um die wirtschaftliche Grundlage ihres gesellschaftlichen Daseins. Die Sozialdemokratie erstrebt die Expropriation der Expropriateure. Glaubt man, dass sich die Fabrikanten, Kaufleute und Großgrundbesitzer, kurz die Kapitalisten, deren Privateigentum an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches verwandelt werden soll, die dadurch ihre ganze ungeheure ökonomische Machtstellung einbüßen müssen, glaubt man, dass sie sich das widerstandslos gefallen lassen? O nein, sie werden kämpfen mit allen ihnen nur irgendwie zugänglichen Mitteln und vor nichts zurückschrecken! Wenn das Proletariat den entscheidenden Kampf kämpft, weil es nichts zu verlieren und eine Welt zu gewinnen hat, so die Kapitalistenklasse, weil sie eine Welt zu verlieren und weniges nur zu gewinnen hat. Darum, wenn auf gesetzlichem Wege der vollständige Sieg des Proletariats möglich ist, so wird die Kapitalistenklasse wenigstens entscheidenden Moment ihm diesen Weg mit bewaffneter Macht abzuschneiden suchen. Aber man braucht nicht einmal so weit zu denken. Schon jetzt, je schneller, desto besser, möchten die Hohepriester des Kapitals unter dem Proletariat ein Blutbad anrichten. Dadurch soll der Arbeiter klasse ein Schrecken eingejagt werden, der sie vor energischem politischem Auftreten zurückhält. Wie ist es nun: Ist es tatsächlich bloß die Großmut der Regierung, die sie davor zurückhält, mit Mord und Schrecken unter die Arbeitermassen zu treten? Oder liegen vielleicht die Sachen doch nicht so einfach? Hat nicht auch die Regierung etwas bei dem Spiel zu verlieren? Liegt es bloß in der Hand der Regierung, ob der politische Charakter des Landes dieser oder jener sein wird? Wenn die Regierung sich auf die Waffen stützt, auf was soll sich das Volk stützen? Wenn es dazu käme, dass die Regierung mit bewaffneter Hand das Volk angreift, wie könnte sich das Volk verteidigen? Wenn die Regierung dem Volke die verbrieften Rechte rauben wollte, wie könnte es sich des Raubens erwehren? Gibt es nichts, das man dem Staatsstreich entgegensetzen könnte? Ist der Schutz der Verfassung gegen Hochverrat, wenn dieser sich auf Flinten und gezogene Kanonen stützt, so ganz aussichtslos? Oder gibt es noch immerhin Bedingungen, unter denen er gelingen kann? Welche sind es dann? Und wie sollte der Kampf geführt werden? Das sind Fragen von großer politischer Tragweite. Wir wollen versuchen, sie zu beantworten. 7. Die Barrikadenrevolution “Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet” Friedrich Engels Was einer hochverräterischen Regierung die Zuversicht geben könnte, ihr verbrecherisches Vorhaben auszuführen, ist, wie schon erwähnt, die Annahme, das Volk sei nicht imstande, sich dagegen zu wehren. Aber man denkt dabei an eine Abwehr nur im Sinne des Straßenkampfes mit dem Militär, des Barrikadenkampfes. Dieser wäre unter den modernen strategischen Verhältnissen allerdings ein Wahnwitz. Es stehen jedoch dem Volke noch andere Mittel des Widerstandes gegen eine Vergewaltigung der Verfassung zu Gebote, die zwar nicht den gewaltsamen Charakter des Barrikadenkampfes tragen, dennoch aber nicht weniger wirksam sind. Bevor wir nun die Verteidigungsmittel des Volkes einer Durchsicht unterziehen, wollen wir noch einen kurzen Blick werfen auf die Barrikadenrevolution, um dadurch eine Vorstellung zu gewinnen von den bei einem Konflikt zwischen Volk und Regierung im allgemeinen zur Geltung kommenden Kräften und Wirkungen. Wie bei einem Staatsstreich, so handelte es sich auch bei einer gewaltsamen politischen Revolution stets um eine gewaltsame Änderung der Verfassung. Nur dass es im ersten Fall die Regierung war, die mit militärischer Macht dem Volke die Änderung aufzwang, im anderen Fall aber war es das Volk, das eine stattgehabte politische Vergewaltigung oder Unterjochung mit Gewalt beseitigte. In einem demokratischen Staat sind Staatsstreich wie gewaltsame politische Revolution für alle Zeiten ausgeschlossen. Denn ersterer setzt bereits voraus, dass die Regierung als unabhängige Macht der Volksvertretung gegenüber auftreten kann, dass sie eine genügend weite Verfügung über die bewaffnete Macht besitzt, und die zweite setzt voraus, dass eine große Gesellschaftsklasse keine ausreichenden verfassungsmäßigen Mittel hat, ihre Interessen zur politischen Geltung zu bringen. Darum, wenn die verschiedenen politischen Strömungen der Gesellschaft frei und gleichmäßig in der Öffentlichkeit und im Parlament zum Ausdruck kommen könnten, dann gäbe es nur parlamentarische Konflikte. Wenn unter solchen Verhältnissen eine Partei nicht stark genug wäre, um im Parlament den erwünschten politischen Druck auszuüben, so könnte sie es auch auf offener Straße nicht tun. Hätte aber, unter diesen Voraussetzungen, eine Partei die Volksmajorität hinter sich, so müsste sie auch die Majorität im Parlament, folglich die Klinke der Gesetzgebung in ihrer Hand haben. Wenn aber große Volksmassen, die ein ernstes politisches Interesse zu vertreten hatten, von der politischen Betätigung, vor allem vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, dann sammelte sich naturmäßig jener politische Gärungsstoff an, der schließlich zum gewaltsamen Ausbruch führte. Denn die gewaltsame politische Revolution war nie etwas Zufälliges und Plötzliches, wenn sie auch als Überraschung erschien. Sie bereitete sich allmählich und gesetzmäßig vor und musste deshalb, unter gegebenen Bedingungen, mit Notwendigkeit eintreten. Es stieg und verbreitete sich die Erbitterung der politisch unterdrückten Volksmassen, die auf alle nur irgendwie möglichen Weisen zum Ausdruck zu kommen suchte, bis die höchste Steigerung des Volksunwillens sich den höchsten gewaltsamen Durchbruch schuf. Es traten politische Kundgebungen ein, die in aufsteigender Linie von der Verminderung der “Gesetzlichkeit" bis zu jenem, von der Bourgeoisie selbst verherrlichten “ew‘gen” Revolutionsrecht führten, das, nach Schiller, “unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst” am Himmel hängt. Das Kleinfeuer der Zeitungen: Bespötteln, Bewitzeln, Beschimpfen, Nadelstiche, Keulenschläge, Kritisieren, Argumentieren, Moralisieren, Drohungen, Versammlungsbeschlüsse Petitionen, Protesterklärungen, Demonstrationen, Straßenumzüge, Murren, Schreien, Ungeduldigwerden der Volksmengen, “Zusammenrottungen” — Revolution! Die Skala brauchte nicht nacheinander und in allen Einzelheiten durchgegangen zu werden, vielmehr hing die Art des politischen Ausdrucks von der vorhandenen politischen Möglichkeit ab. Der Prozess konnte auch, wenn in der Erscheinungsform verhindert, latent vor sich gehen, bis endlich mit einem Mal alles in einem sich überstürzenden Durcheinander zum Ausdruck kam. Alle soeben gekennzeichneten Vorgänge hatten nun zum gemeinsamen Zweck, die politischen Machthaber zu beeinflussen, einzuschüchtern, zu verwirren, bloßzustellen, verächtlich, verhasst zu machen, schließlich die Regierung als den höchsten Ausdruck der hinderlichen Staatsgewalt zu stürzen bzw. zu ändern, ein Prozess, der selbst mannigfache Abstufungen zulässt, vom Kabinettswechsel bis zur Einsetzung einer revolutionären provisorischen Regierung. Bei der Schilderung des Verlaufs der eigentlichen Barrikadenrevolution muss vorausgeschickt werden, dass ihr fast ausschließliches Gebiet die Hauptstadt war und deshalb nur hier ihr vollständiger Lebenslauf verfolgt werden kann. Die Barrikadenrevolution wie sie die Geschichte aufweist, erscheint uns vor allem als der Abschluss der geschilderten Entwicklungsreihe politischer Äußerungen und zugleich ihre Vereinigung und höchste Kraft- und Wirkungssteigerung. Aber sie war mehr als das. Sie war die gesellschaftliche Desorganisation. Die Fabriken, Werkstätten, Wohnhäuser leerten sich, die Straßen und Plätze wurden überfüllt. Die Läden wurden geschlossen. Die Produktionstätigkeit, der Handel den Verkehr stocken. Die vielen tausend Fäden des gesellschaftlichen Puppenspiels wurden auf einen Augenblick gelöst. Und mit der Alltagsbeschäftigung verschwand auch der moralische Alltagsdusel. Die Bequemlichkeit hörte auf, die Lässigkeit wirkte nicht mehr, die Tradition war vergessen, der Schlendrian gebrochen, die kleinlichen Lebenssorgen wurden zurückgestellt und nur eins beseelte die schiebende, drängende, flutende, wogende Menge — das politische Interesse. Im aufgeregten Menschenchaos löste sich der Einzelwille auf und zur Geltung kamen die Gesetze der Massenbewegungen. Politisierende Menschenhaufen bildeten sich an den Straßenecken. Es waren die Nervenknoten der zu einem großen Ungetüm verschmolzenen Volksmenge auf offener Straße, die Sensitivitätsknäuel, die in zitternder Hast Eindrücke, Nachrichten, Gerüchte, Gedanken, Worte, Stimmungen weitertrugen, erzeugten, aufbauschten, im Fluss erhielten. Die Unsicherheit, das Ungewöhnliche, Perverse der Situation, die nervöse Spannung, die Konzentration des Interesses auf einen Punkt, das nahe Beisammensein in großer Volkszahl steigerten das Fassungsvermögen, schafften gleichsam anstelle der gewöhnlichen geistigen Empfänglichkeit einen verfeinerten, potenzierten, revolutionären Massenintellekt. Deshalb das schnelle Umsichgreifen eines revolutionären Aufstandes — notabene, wenn er zur richtigen Zeit kam. Der Staat wurde in den allgemeinen Trubel hineingerissen. Die Regierungsmaschinerie klappte vorzüglich, solange der gesamte gesellschaftliche Mechanismus ungestört funktionierte. Solange die Arbeiter tagsüber in den Fabriken, nachts in den Mietskasernen eingesperrt waren, die Straßen für den Tag Polizisten, Geschäftsleuten, Packträgern, Modedamen, Fuhrwerken, für den Abend Prostituierten, Gaunern, Dieben, dem Theater- und Konzertpublikum, den Ballbesuchern und den Einbrechern überlassen wurden, solange jeder seinem bürgerlichen Lebensberuf nachging: die Arbeiter frohndeten, die Fabrikanten in den weichen Kontorsesseln schlummerten, die Kaufleute hinter den Ladentischen standen, die Diebe stahlen, die Richter richteten, die Fürsten jagten — herrschte “heilige Ordnung”, vorausgesetzt, dass der gesellschaftliche Reinigungsprozess von den Straßenkehrern, Polizisten, Abdeckern, Leichenbestellern ordentlich besorgt wurde. Als aber die Berufstätigkeit aufhörte, der korrekte Geschäftsmann ebenso wie der Gauner und Schwindler außer Erwerb gesetzt wurde, wenn ernste Volksmengen sich in den Straßen bewegten und auf den Hausmauern Inschriften erschienen: “Tod den Dieben” — dann ergriff die Regierungsorgane vom Schutzmann bis zum König eine bange Besorgnis, eine herzbeklemmende Unsicherheit, eine scheue Ratlosigkeit. Gaben sie sich früher für die Beschützer des Volkes aus, so erschienen sie jetzt schutzbedürftig gegenüber dem Volk. Denn gegen sie richtete sich der lang verhaltene Zorn des aus seiner gewaltigen Ruhe aufgerüttelten Volkes. Vor allem aber ging das Bestreben der Regierung dahin, die Ordnung wieder herzustellen, d.h. das Volk mit Gewalt zu veranlassen, die einzelnen Stellungen in der gesellschaftlichen Tretmühle wieder einzunehmen, es mit Gewalt in den gewohnten Schlendrian hineinzuzwängen. Allein die Polizei verschwand im Menschenstrom und wurde machtlos. So blieb die einzige Zuversicht — das Militär. Die Aufgabe, die dem Militär zufiel, war die, das Volk aus den Straßen zu verjagen, es zu Paaren zu treiben, um dadurch die Zauberkräfte der Zusammenrottungen zu zerstören, in der Erwartung, dass die auseinandergesprengte Menge, ohne Zusammenhang untereinander, entmutigt würde und ihre aufgelösten Einzelglieder, auf sich selbst gestellt, den moralischen Halt verlören, nachgäben und wieder ins Joch kröchen, um im ausgetretenen Geleise fortzutraben. Dem widersetzte sich das Volk. So entstanden die Barrikaden. Die Bedeutung der Barrikade ist nach zwei Richtungen hin zu betrachten. Erstens war sie ein Sammelpunkt und Organisationsmittel. Gerade wo es sich um eine von vornherein unorganisierte Masse handelte, wie das bei den geschichtlich bekannten gewaltsamen Revolutionen stets der Fall war, war dieser Punkt sehr wichtig. Die Massenversammlungen bekamen dadurch ein Ziel und ein Bindemittel. Besonders wirksam zeigte sich das bei den durch ihre Berufstätigkeit voneinander getrennten, aber doch im beschränkten Raum der Straße, des Stadtviertels in sehr ansehnlicher Zahl vorhandenen Kleinhändlern, Handwerkern, Hausindustriellen usw. Durch den Barrikadenbau werden diese Leute aus den Budiken, Werkstätten, Hinterhäusern herausgelockt und vereinigt. Für alle vollends war die Barrikade die Proklamation, die öffentliche Kund- und Geltendmachung der Revolution, das aufgehisste Banner, um die revolutionären Kräfte zu sammeln. Man bedenke, wie zahlreich noch 1848 das Kleinbürgertum und das Handwerkertum waren, wie unorganisiert die Arbeiterklasse selbst, um die Wichtigkeit dieses Moments zu begreifen. Deshalb zeigt jede Revolution zunächst eine aufsteigende Bewegung. Sie brauchte Zeit, um sich zu entfalten. Und solange diese Ausdehnungsfähigkeit anhielt, war der Sieg auf seiten des Volkes. Mit Recht verweist Engels darauf, dass der Sieg des Volkes in Berlin 1848 unter anderem dem starken Zufluss neuer Streitkräfte während der Nacht und des Morgens vom 19. März zuzuschreiben ist. Zweitens war die Barrikade eine Schutzwehr: Deckung auf seiten des Volkes und Hindernis auf seiten des Militärs. Die Macht dieser Hemmung auf das Militär lag nun nicht nur in ihrer materiellen, sondern mehr noch in ihrer moralischen Wirkung. Der Marsch der Truppen wurde aufgehalten, dadurch entstand Unordnung in den Reihen, die stramme Spannung des sich militärisch bewegenden Zuges ließ nach, Zeit verstrich, die Soldaten, durch Gewohnheit, militärischen Drill zusammengehalten, durch den Trommelschlag betäubt, durch den gemeinsamen Kolonnenmarsch hingerissen, bekamen Gelegenheit, sich umzusehen, nachzudenken, sich Rechenschaft abzulegen von ihren Handlungen. Und da es nicht einen Kampf im offenen Felde gegen einen fremden Feind galt, sondern einen Angriff im engen Raum der Straße unter den Augen der Bevölkerung auf das Volk, mit dem die Soldaten gestern erst friedlich verkehrten und dem sie selbst entstammten, so bemächtigte sich eine Energielosigkeit, eine Unlust, eine Verwirrung der Truppen, sie wurden “demoralisiert”, und das desto mehr, je mehr Sympathien sie von vornherein dem Aufstande entgegenbrachten. Es ist bekannt, dass man deshalb bei revolutionären Kämpfen die mangelnde Begeisterung der Soldaten durch reichliche Branntweinrationen zu ersetzen pflegte. Im Schnapsrausch lag also in letzter Linie das Heil des Staats. Sammlung, Organisation, revolutionäre Begeisterung des Volkes auf der einen Seite, Desorganisation und Demoralisation des Militärs auf der anderen, darin lag das Wesen der Barrikaden, der eigentliche Kampf war dann nur der Kraftmesser beider Faktoren in ihrer gemeinsamen Wirkung. So sagt unser zu früh verstorbener Revolutionskämpfer und -theoretiker Engels: “Machen wir uns keine Illusion darüber: ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten. Darauf hatten aber die Insurgenten es auch ebenso selten angelegt. Es handelte sich für sie nur darum, die Truppen mürbe zu machen durch moralische Einflüsse, die beim Kampf zwischen den Armeen zweier kriegführender Länder gar nicht oder doch in weit geringerem Grade ins Spiel kommen. Gelingt das, so versagt die Truppe, oder die Befehlshaber verlieren den Kopf und der Aufstand siegt. … Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen.” Aus diesen Betrachtungen ergibt sich: 1. Da selbst in den vierziger Jahren das taktische Übergewicht bei einem Straßenkampf auf seiten des Militärs war, so wäre es blinde Tollheit, bei der äußerst verfeinerten Waffentechnik unserer Zeit, etwa einen gewaltsamen Widerstand gegen das Militär wagen zu wollen. 2. Andererseits bestand das Wesen der politischen Revolution keineswegs bloß aus dem Barrikadenkampf, sondern sie hatte noch andere Äußerungen, die zusammen als Desorganisation der Gesellschaft bezeichnet werden könnten. Die Frage drängt sich auf, ob nicht etwa der Staatsstreich auch eine allgemeine Desorganisation zur Folge haben würde und inwiefern sich diese wirksam erweisen könnte? 3. Ob das Militär sich zu den gesetz- und verfassungswidrigen Handlungen des Staatsstreichs verleiten lassen würde, hängt offenbar stets von dessen Stimmung ab und den moralischen Einflüssen, denen es unterworfen werden kann. 8. Die allgemeine Wehrpflicht Sämtliche Armeen des europäischen Festlandes beruhen nunmehr auf der allgemeinen Wehrpflicht. Das berufsmäßige Militär ist auf den Unteroffiziers- und Offiziersstand beschränkt. Für den Soldaten ist das Militärwesen kein Beruf, kein Handwerk mehr. Er findet darin nicht seine wirtschaftliche Lebensstellung. Darum ist jetzt das Heer keine besondere Gesellschaftsklasse wenn man darunter eine Gesellschaftsschicht mit gemeinsamem wirtschaftlichem Sonderinteresse versteht. Der Soldat hat kein anderes ökonomisches Interesse, als der Bauer oder Arbeiter, und darum auch kein anderes politisches Interesse. Was diese trifft, trifft schließlich auch ihn. Der Militärdienst ist zur Bürgerpflicht geworden. Es ist daher nur die künstliche Isolierung des Heeres, die es vorn Volke trennt. Aber es lässt sich durch keine künstlichen Mittel beseitigen, dass der Soldat mit seinen Erinnerungen und seinen Hoffnungen, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft dem Volke anhängt. Nur noch dort, wo das politische Leben im Volke selbst sehr schwach ist, kann der Soldat zur willenlosen Maschine gemacht werden. Je reger das politische Leben, in je weitere Kreise es dringt, desto weniger kommt der junge Mann zum Militär als “unbeschriebenes Blatt”. Die Rekruten bringen die politischen Stimmungen und politischen Meinungen, die im Volke herrschen, mit in das Heer. Nicht nur, dass sie dadurch von vornherein politisch gekennzeichnet sind, so hängt noch überdies die moralische Einwirkung des Militärdienstes sehr wesentlich von ihrer politischen Gesinnung ab. Es gibt Zeiten, wo das Militär in den Augen des Volkes mit einem Glorienschein umgeben wird und die Militärpflicht als Ehrenpflicht erscheint. Dann zieht die Jugend mit Begeisterung in den Dienst und erträgt freudig alle Strapazen und Mühseligkeiten. Aber in anderen Zeiten, wenn das Militärwesen vom Volke als schwerbedrückende Last empfunden wird, wenn der Schleier einer Volksinstitution dem Militär rücksichtslos entzogen wird, wenn vielleicht noch Versuche gemacht werden, das Militär planmäßig und offenkundig gegen das Volk zu hetzen, dann bringt das Volk Groll, Erbitterung, womöglich Hass dem Militärdienst entgegen, dann betritt der junge Mann auch mit ganz anderen Gefühlen die Kaserne, da steht er von vornherein kritisch und misstrauisch dem Dienste gegenüber, den er als unnütze, ja schädliche Zeitvergeudung betrachtet, da tritt anstelle der Begeisterung Unmut und anstelle des Diensteifers durch die Furcht vor Strafe aufgenötigter Gehorsam, hinter dem Unzufriedenheit, verbissener Groll, mit Mühe zurückgehaltener Trotz sich bergen. Unter solchen Verhältnissen können alle Maßnahmen der Militärbehörden nur ein Ergebnis erzielen: Steigerung des Unmuts. Wird die Behandlung gemildert, dann greift die Kritik desto ungezwungener um sich, wird sie aber härter, so erscheint sie als Unbill und verwandelt Unzufriedenheit in Hass. Wird die ganze Zeit des Soldaten durch den Dienst in Anspruch genommen, dann kommt er sich vor, wie der Ochse im Pfluge oder der Zuchthäusler, der an den Karren geschmiedet ist; bekommt er viel freie Zeit, dann hat er erst recht Gelegenheit, sich dem Staate, resp. dem Militärwesen feindseligen Gedanken hinzugeben. Eine eigentümliche Beleuchtung erhält von letzterem Gesichtspunkt aus der Paradedrill. Sonst zwecklos, könnte seine Bedeutung vielleicht darin liegen, die Muße der Soldaten auszufüllen, ihn zu beschäftigen, seine Aufmerksamkeit stets gebannt zu halten. Aber auch dies schlüge unter den angegebenen Verhältnissen fehl. Einem skeptischen und missgestimmten Geist müsste der Paradedrill als Herabdrückung des Militärdienstes zu einem Puppenspiel, aber einem Spiel voll Schinderei und Plackerei, erscheinen. Der Gegensatz zwischen militärischer Erziehung und politischer Einwirkung kann sich so weit entwickeln, dass es den Militärbehörden selbst, abgesehen von finanziellen Gründen, schon deshalb allein ratsam erscheint, die Dienstzeit zu verkürzen. Die Soldaten, die den Dienst bereits kennen und doch aus der Kaserne nicht heraus können, sind die schlimmsten Nörgler. Das Verlockende, das etwa das Militär für den Bauern oder Arbeiter hatte, haben sie längst durchgekostet. Der Reiz der Neuheit hat sich verflüchtigt, die neuen Verhältnisse, das sonderbare, eigenartige Soldatenleben, alles, was dem jungen Rekruten so sehr imponierte und seinen Geist in Spannung hielt, überrascht sie nicht mehr. Dagegen ist geblieben die militärische Einförmigkeit, die die Tage einander gleich sein lässt, wie die Knöpfe auf der Uniform, ein auf gezwungenes, zweckloses Dasein von einem ewigen Einerlei. Der Dienst, der nicht mehr erlernt zu werden braucht, wird langweilig, bleibt aber doch beschwerlich. Und neben dieser aufreibenden Zeitvergeudung die brennende Sorge um eine unsichere Zukunft. Dazu kommt, dass der alte Soldat auch dem militärischen Verwaltungsapparat persönlich viel näher gerückt ist. Er kennt die Eigenheiten und Schwächen seiner Vorgesetzten vom Feldwebel bis mindestens zum Major. Der Zauber ist verflogen und das Räderwerk des militärischen Mechanismus liegt klar, mit den Händen greifbar, vor seinen Augen. Man sieht, diese alten Soldaten bilden eine sehr staatsgefährliche Menschenklasse! Aber je entwickelter das politische Leben, desto politisch reger und empfänglicher, auch intelligenter das Rekrutenmaterial, desto leichter erwirbt sich der Rekrut die militärische, bzw. soldatische Erkenntnis. Nichts kennzeichnet vielleicht besser den erreichten Grad der politischen Entwicklung in Deutschland, als der Umstand, dass eine fünfjährige aktive Dienstzeit, wie sie früher bestand, jetzt auch politisch gar nicht mehr denkbar ist. Noch einige Jahre, und auch die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit wird eine politische Unmöglichkeit werden. Aber je mehr die Dienstzeit verkürzt wird, desto größer in der Armee das Übergewicht der frisch dem Volke entzogenen Elemente, desto enger überhaupt der Zusammenhang zwischen Soldat und Arbeiter, resp. Bauer. Mit der Verkürzung der Dienstzeit nähert man sich immer mehr der Volksmiliz, die die logische Konsequenz der allgemeinen Wehrpflicht ist. So bedürfte es denn, eine allgemeine, tiefgehende politische Unzufriedenheit am Volke vorausgesetzt, gar keiner Propaganda unter dem Militär, um es oppositionell zu stimmen. Ja, wenn es dazu keine anderen Mittel gäbe, als etwa die Verbreitung von Flugblättern in der Kaserne — dann würden die Militärbehörden damit stets mit der größten Leichtigkeit fertig. Aber wenn beim Militär sonst alles nach Wunsch geht, dann braucht man solche Flugblätter gar nicht zu fürchten, denn sie hätten keine Wirkung auf die Soldaten. Dass man jetzt vor jedem hinübergewehten Blättchen ängstlich zurückschaudert, das ist sehr auffallend. Das lässt vermuten, dass eine Missstimmung im Heere herrscht, die nach jeder oppositionellen Kundgebung gierig horcht. Und eine solche Missstimmung wäre dann bloß der Reflex der allgemeinen oppositionellen Stimmung im Lande — dann wären es aber die Militärbehörden selbst, dann wäre es das ganze Militärwesen, das die fürchterlichste und fruchtbarste revolutionäre Propaganda betriebe. Dann müssten die Militärbehörden bei sich selbst anfangen, wenn sie die Revolutionäre ausrotten wollten. Unter diesen Umständen könnte keine Umsturzvorlage helfen (und unter anderen wäre sie unnötig). Selbst wenn man das Militär gänzlich von der Außenwelt isolierte, so würde man dadurch bloß die Gärung im Inneren der Kaserne um so mehr steigern und die Unzufriedenheit in offenen Aufruhr verwandeln. Und je sorgfältiger man das Militär vor dem revolutionären Gift zu bewahren suchte, desto mehr würde man es selbst damit infizieren. Wenn man z.B. den Soldaten peinlich darauf überwacht, dass er nicht auch nur in die geringste Berührung mit Sozialdemokraten kommt — wird denn nicht dadurch seine Aufmerksamkeit erst recht auf die Sozialdemokratie gelenkt? Aber das war ja gerade stets die größte Schwierigkeit für die sozialistische Propaganda, die Aufmerksamkeit und das Interesse auf sich zu lenken, die stumpfe Gleichgültigkeit der Massen zu durchbrechen. Ist dies einmal gelungen, dann greift das sozialistische “Gift« wie Blausäure mit reißender Schnelligkeit um sich. So wird auch der Soldat, wenn seine Aufmerksamkeit einmal geweckt ist, nachdenklich und beobachtend, findet schnell Kameraden, die mehr oder anderes wissen, und schließlich bildet die Kasernenstube ebensogut ihre Sozialdemokraten heraus wie die Fabrik. Was hat nicht nach dieser Richtung hin allein die Umsturzvorlage geleistet, zumal bei der spaßhaften Stimmenbegleitung, die ihr der Kriegsminister v. Schellendorf gab! Oder glaubt man, die Umsturzkomödie, die beinahe ein Jahr lang die Politik beherrschte und die Öffentlichkeit erfasste, sei den Soldaten so ganz unbekannt geblieben? Die Missstimmung erregende Wirkung der Umsturzverhandlungen war größer als sämtliche Flugblätter hätten zustande bringen können, deren Eindringen in die Kaserne durch die Annahme der Umsturzvorlage etwa bis zum Ausgang dieses Jahrhunderts und noch auf ein Dezennium darüber hinaus verhütet worden wäre. Das ist also der fatale Widerspruch, der sich auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung und der allgemeinen Wehrpflicht für eine staatsstreichlustige Regierung herausbildet: je schroffer und je länger sie sich auf das Militär dem Volke gegenüber stützt, desto mehr kehrt sie das Militär gegen sich. Während die Ansprüche an dasselbe wachsen, wird seine Stützung immer weniger zuverlässig. Wollte man das Militär planmäßig für den Staatsstreich vorbereiten, so hätte man es schließlich zu allem anderen eher als zum Staatsstreich fertig. 9. Die Disziplin Es ist gesagt worden: Wenn wir einmal die Köpfe der Soldaten für uns gewonnen haben, dann haben wir auch die Bajonette. Dieser spekulativ richtige Satz darf in der Praxis nur mit äußerster Vorsicht gebraucht werden. Schon die Gewinnung der “Köpfe” ist eine recht eigene Sache. Wir dürfen uns darüber nicht täuschen, dass das Maß der Erkenntnis, die dem Volke innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft beigebracht werden kann, ein sehr beschränktes ist. Schwere Arbeit und bittere Not sind starke Gewalten, die den Geist unterdrücken. Der Proletarier, der nach einem langen Arbeitstag abgespannt und todmüde nach Hause kommt und im engen Zimmer, ausgefüllt mit Tisch und Betten, in dem die ganze Familie, vielleicht, noch ein oder mehrere Schlafgänger zusammengepfercht sind, kaum Raum und Licht genug findet zum Lesen, der überdies auch von Frau und Kindern und den häuslichen Angelegenheiten in Anspruch genommen wird, wo soll der die Musse und die Möglichkeit finden, sich eine gründliche, wenn auch nur politische Einsicht zu verschaffen? Die Proletarier, die von der Politik, auch Wissenschaft oder Kunst, so leidenschaftlich erfasst werden, dass sie, mit Hintansetzung aller übrigen Lebensinteressen und ihrer Gesundheit, alle Hindernisse überwinden, gehören und müssen zu den größten Seltenheiten gehören. Die Menschheit im großen wird stets suchen, dem Leben, wie es sich einmal darbietet, einen positiven Gehalt abzugewinnen und sich erst in zweiter Linie Reflexionen und der Kritik ergeben. Wenn nun erfahrungsgemäß die sozialdemokratische Propaganda ungemein schnell in den Proletariermassen um sich greift, so beweist das allein schon, dass es sich dabei mehr um Stimmungen, als um Überzeugungen handelt. Die sozialrevolutionäre Stimmung des Proletariats ist aber durchaus keine zufällige und schnell vorübergehende, denn sie ist das notwendige Produkt der herrschenden ökonomischen Verhältnisse, der kapitalistischen Ausbeutung. Darin liegt die Kraft der Sozialdemokratie, die nur mit der kapitalistischen Gesellschaft zu entwurzeln ist. Auch beim Militär könnte deshalb jedenfalls nur von einer oppositionellen Stimmung die Rede sein. Wo wir sie finden, ist sie stets, wie bereits auseinandergesetzt, das Produkt der allgemeinen politischen Stimmung im Volke, wird aber, einmal vorhanden, durch den Militärdienst nicht unterdrückt, eher noch mehr entfacht. Dafür aber stehen der Militärverwaltung gewaltige Mittel zu Gebote, das Heer, trotz seiner etwaigen oppositionellen Stimmung, so zu handhaben, wie es ihr beliebt. Drei Mächte sind es, auf die sie sich stützt: die militärische Organisation, die militärische Disziplin und die militärische Führung. Die durch eine jahrhundertelange Erfahrung herausgebildete militärische Organisation beruht, wie jede Organisation zur Massenbeherrschung, zunächst darauf, dass die Menge in einzelne Teile zergliedert wird, von denen jeder eine unter besonderen Befehl gestellte Gruppe bildet. Der dadurch aufgelöste lebendige Zusammenhang der Volksmenge wird ersetzt durch die Einheitlichkeit der Verwaltung. Die Masse wird gleichsam in feste, eng zusammengeschlossene Formen hineingezwängt, über die sich pyramidenartig die eiserne Konstruktion des militärischen Regierungsmechanismus aufbaut, dessen Räderwerk die getrennte, aber doch fest zusammengehaltene Menge zur Bewegung nötigt. Die einzelne Truppenabteilung fühlt sich deshalb bloß als willenloses Glied der Gesamtorganisation, die von einer höheren Macht geleitet wird. Dagegen tritt die Militärverwaltung jeder Truppenabteilung und jedem einzelnen Soldaten stets als Gesamtheit gegenüber, als einheitliche, feingegliederte, umfangreiche, überall anwesende, allwissende Regierungsgewalt, ausgerüstet mit allen Attributen der Herrschaft: Polizei, Richtern und Gefängnissen. Die ungeheure Macht der Disziplin ist viel erörtert worden. Der durch die militärische Organisation geschaffenen Form passt sie den Inhalt an. Ihr Schlusseffekt ist blinder Gehorsam, ihr Verfahren ist folgendes: Die Tätigkeit des Soldaten wird in eine Anzahl klar bestimmter Verrichtungen zerlegt, die in unverrückbarer Reihenfolge Tag für Tag mit der genauesten Korrektheit verrichtet werden müssen. Für den Soldaten gibt es im Dienste keine Wahl, keine Selbstbestimmung, keine reflektierende Tätigkeit. Es geht alles darauf hinaus, ihn in einen Automaten zu verwandeln, der mit der Genauigkeit eines Uhrwerks funktioniert. Durch die gemeinsame gleiche Abrichtung werden die individuellen Besonderheiten abgeschliffen, und es wird der Herdentypus des Soldaten herausgebildet. Den Abschluss bildet dann die Erzeugung von Massenbewegungen. Hier wird der Wille des einzelnen gänzlich aufgelöst. Nach dem Takte, nach dem Kommandowort rückt die geschlossene Reihe vorwärts, rückwärts, schwenkt sie nach der Seite, wird das Gewehr mit einem gemeinsamen Ruck der zahlreichen Arme gehandhabt usw. Kein Denken mehr — instinktives, bewusstloses, gewohnheitsmäßiges Sichanpassen, das Zusammengreifen und Sichbetätigen der zu einem gemeinsamen Körper verschmolzenen Volksmenge. Die Truppe wird zum blinden Werkzeug in den Händen ihres Kommandeurs. Die Aufgabe der militärischen Führung besteht darin, die durch die Organisation und Disziplin zu einem Organismus mit bestimmten Massenfunktionen herausgebildete Soldatenmenge in der Bewegung zu leiten. In der Bewegung ist die militärische Truppe noch mehr willenlos, als in der Ruhe. Durch den taktmäßigen Marsch in Reih‘ und Glied, die Spannung, die durch das gemeinsame, unaufhaltsame Vorwärtsdrängen erzeugt wird, “wird das Bewusstsein gelähmt, und obendrein wird noch jede Gedankenregung durch Trommelschlag oder lärmende, betäubende Musik erstickt. Der im Grunde des Herzens etwa vorhandenen oppositionellen Stimmung steht also beim Militär eine durch die Organisation, die Disziplin und die Führung planmäßig erzeugte Vernichtung der Willensbetätigung des Soldaten entgegen, die Auflösung seiner Persönlichkeit in der Gesamtheit der Truppenabteilung, die sich instinktmäßig dem Kommandowort unterwirft. Bei den bisherigen Revolutionen galt es stets, diesen Zauber zu brechen, damit der Soldat mit seiner Gesinnung, Stimmung und folglich seinem Willen zur Geltung kommen konnte. Das war die Rolle, die der Barrikade zufiel. Sie hielt die marschierenden Truppen auf und brachte sie dadurch in Verwirrung und zur Besinnung. Aber was würde denn heute bei einem etwaigen Staatsstreich dem Militär im Wege stehen, da nunmehr jede Barrikade aus der weitesten Ferne hinweggefegt werden könnte? 10. Volk und Militär wahrend eines Staatsstreichs Die politische Entwicklung hängt ebensowenig vom Militär ab, wie die kapitalistische Produktion als Ganzes von der Entwicklung der Waffentechnik. Dagegen wird bei allgemeiner Wehrpflicht das Militär selbst zum Träger der oppositionellen Stimmung, bis es schließlich nur noch durch Disziplin und Organisation zum instinktiven Gehorsam angehalten wird. Die Macht der Disziplin und Organisation ist groß, aber auf die Dauer lässt sie sich während eines Konflikts mit dem Volke kaum aufrechterhalten Das moralische Widerstreben des Soldaten kann auf einen Moment unterdrückt werden, aber wenn dieser Druck länger andauert, so lässt die Spannung nach, die Wirkung wird geringer und gleichzeitig steigert sich der Widerstand. Es würde deshalb genügen, das Militär ruhig gewähren zu lassen, damit Organisation und Disziplin sich von selbst aufreiben. Es erscheint paradox, und doch ist der taktische Nutzen der Barrikade viel geringer für das Volk, als für die Anführer des Militärs. Diesem bietet sie nur eine sehr schwache Deckung, jenen einen sehr willkommenen Angriffspunkt. Ganz anders, wo das Militär in Zeiten großer politischer Aufregung bloßen Ansammlungen von Menschen gegenübersteht. Da gibt es nichts mehr, was militärisch gefasst werden könnte. Statt gegen eine revolutionäre Armee zu kämpfen, werden nun die Soldaten zum ganz gemeinen polizeilichen Beaufsichtigungsdienst verwendet. Das ist ein Unterschied. Im ersten Falle hat das Militär einen kämpfenden Gegner vor sich und läuft selbst die Gefahr, niedergeschossen zu werden, befindet sich also, obwohl angreifend, doch gleichzeitig in Verteidigung — im anderen hat es, wenn angreifend vorgegangen werden soll, auf unbewaffnetes Volk, Männer und Frauen zu feuern, die ihm aus den Fensternischen oder auf offener Straße missmutig zwar, doch mit banger Hoffnung entgegenblicken. Truppen, die sich vielleicht noch zu einem raschen Ansturm auf eine Barrikade gebrauchen ließen, können unter diesen Umständen unschlüssig und unsicher werden. Nachdem sie tagsüber durch die Straßen herumgetrieben wurden, kehren sie dann müde und in gedrückter Stimmung nach der Kaserne zurück. Am anderen Tage sind sie selbstverständlich noch weniger zu gebrauchen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich ihre Energie gänzlich aufreibt. Die Soldaten, die von einer staatsstreichlerischen Regierung hinausgeschickt werden sollten, das seine politischen Rechte verteidigende Volk niederzuschießen oder niederzukartätschen, würden von diesem nicht mehr mit Flintenschüssen und Steinwürfen empfangen werden, denn das Volk hätte keinen Grund, die Soldaten gegen sich zu erbittern, dagegen alle Veranlassung, zu suchen, sie für sich zu gewinnen. Barrikaden können niedergeschmettert werden, aber durch nichts ließe es sich beseitigen, dass das Volk durch Zurufe, Plakate, Flugblätter auf das Militär einwirkte. Die Ohren könnten allenfalls den Soldaten durch Trommelschlag betäubt werden, aber wie sollte man ihnen die Augen verbinden? Der Schulmeister, der bei Sadowa siegte, könnte sich noch einmal als großer Volksverteidiger erweisen. Es ist nicht schwer, sich eine Vorstellung zu bilden, was ungefähr die Bürgerschaft den Soldaten sagen würde. Das Volk würde das Militär an dessen Bürgerpflichten erinnern, daran, dass es selbst ein Teil des Volkes ist, dass die Rechte des Volkes auch seine Rechte sind, das Wohl des Volkes auch sein Wohl, der Kampf des Volkes auch sein Kampf, und dass die Rollen sich schnell umtauschen könnten und die Soldaten, die jetzt etwa auf das Volk schießen wollten, vielleicht in einigen Monaten selbst unter der Volksmasse sich befinden würden, auf die geschossen wird. Es wäre nicht ausgeschlossen, dass das Volk auch persönlich dem Militär entgegentreten würde, aber nicht mit Waffen in der Hand und nur geschützt durch das Bewusstsein seines Rechtes und der Solidarität der Interessen zwischen Volk und Militär. Aber das auf offener Straße frei versammelte Volk bietet, wie schon erwähnt, dem Militär einen noch weit größeren moralischen Widerstand, als es der Volkshaufen tat, der unter dem Schutze der Barrikade das Militär mit Bleikugeln bedrohte. Die Furcht vor der Barrikade war es meistens nicht, was die Soldaten von dem Angriff zurückhielt. So könnte es vielleicht wieder einmal für das Volk Gelegenheiten geben, seinen Heldenmut zu entfalten. Dieser darf aber nicht etwa mit der Tapferkeit einer bezahlten Soldateska verwechselt werden. Es ist nicht der Mut, zu töten, sondern der Mut zu sterben! Selbst seine revolutionären Siege verdankt das Volk nicht der Kraft seiner Fäuste. Die grobmaterielle Kraft war stets auf seiten der Reaktion. Die Kräfte, durch die das Volk siegte, waren aber: begeisterte Selbstaufopferung für die gemeinsame Sache, verzweifeltes Lebensrisiko derjenigen ausgebeuteten und unterdrückten Masse, die nichts mehr zu verlieren hat, und instinktives, herdenmäßiges Zusammenhalten der Menge. Diese Kräfte waren es, die am 14. Juli 1789 das Volk in stets wachsenden Massen der Bastille zuströmen ließen, trotz dem Kanonendonner der Festung. Diese Kräfte waren es, die bei allen späteren Revolutionen anstelle der zerstörten Barrikaden über Nacht neue und größere, anstelle der getöteten Kämpfer neue und mehrere setzten. Und diese Kräfte würden auch künftighin dem Volke, wenn es not tut, die Verfassung, das höchste politische Gut, zu verteidigen, den Mut geben, der bewaffneten Macht ohne Barrikadenschutz zu trotzen. 11. Die Organisation des passiven Widerstandes Die Losung für das Verhalten des Volkes der bewaffneten Macht gegenüber während eines Staatsstreichs würde also lauten: “Keinen Barrikadenkampf! Keinen gewaltsamen Widerstand! Sich nicht provozieren lassen! Ruhig ausharren, bis die moralische Zersetzung, die unbedingt eintreten müsste, die Anstifter der ruchlosen Tat in Verwirrung bringt und sie zum Rückzug zwingt.” Aber würde auch das Volk die nötige Kaltblütigkeit bewahren und den Zusammenhalt haben, um dieser schwierigen Aufgabe zu genügen, ohne doch ängstlich und desperat zu werden? Die Revolution hatte ihr mechanisches Bindemittel: die Barrikade, Nun ist die Barrikade zum Boden geschleift. Daraus ergibt sich, dass alle jene zusammenhanglosen Volkselemente, die nur auf diese mechanische Weise vereinigt werden konnten und deren ganze Widerstandskraft in der Barrikade lag, politisch widerstandslos gemacht worden sind. Dadurch ist die revolutionäre Macht des Kleinbürgertums total gebrochen. Dadurch büßt es auch seine Rolle als Leiter der unorganisierten Proletariermassen während des revolutionären Kampfes ein. Dagegen könnte aber wohl noch eine Gesellschaftsklasse, die von vornherein organisiert ist, im passiven Widerstand, wie er schon geschildert wurde, ausharren. Das heißt mit anderen Worten: die gezogenen Kanonen und das kleinkalibrige Gewehr haben der bürgerlichen Revolution ein Ende bereitet, sie haben aber die politische Widerstandskraft des Proletariats durchaus nicht gebrochen. Wie die Arbeiter ohne mechanisches Bindemittel zusammenhalten können, zeigen die Streiks. Das hat unter anderem auch erst vor kurzem der englische Bergarbeiterstreik bewiesen, der 400.000 Arbeiter vereinigte. Die Entwicklung der Streiks hat überhaupt eine, den Umständen entsprechend allerdings sehr schwache Analogie mit der Entwicklung der politischen Kämpfe. Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, dass die ersten Streiks mit Gewalttätigkeiten gegen die Kapitalisten, mit Demolierungen der Maschinen und Brandstiftungen verbunden waren. Das war keineswegs bloß der Ausfluss der Brutalität und des Unverstandes. Aber damals, als das klassenbewusste Zusammenhalten der Arbeiter noch so wenig entwickelt war, mussten ihre Aufmerksamkeit, ihr Zorn auf etwas Handgreifliches gelenkt werden, musste ihnen eine Tätigkeit gegeben werden, damit sie sich als Masse fühlen und als Masse handeln konnten. Nunmehr ist dieses brutale Hilfsmittel der Organisation durch das Klassenbewusstsein ersetzt worden. Die Losung während des Streiks ist jetzt die gerade entgegengesetzte: “Nur keine Gewalttätigkeiten!” Deshalb haben die Streiks doch nicht aufgehört, zu existieren, im Gegenteil, erst jetzt ermöglichen sie eine Massenentfaltung. Mag die Arbeiterschaft in Gewerkschaften oder als politische Partei organisiert sein — es genügt schon, dass sie es ist. Die Bestrebungen der Gewerkschaften seien noch so unpolitisch, so kann doch im Moment der Not eine politische Bewegung sich dieser vortrefflichen Organisationen für ihre Zwecke bemächtigen. Es ist klar, je fester und allgemeiner die Organisation der Arbeiterklasse ist, desto wirksamer wird sich ihr Widerstand erweisen. Wenn nun speziell in Deutschland die politische Organisation der gewerkschaftlichen gegenüber den Vorzug hat, dass sie viel allgemeiner ist, so die gewerkschaftliche der politischen gegenüber, dass sie durch viel innigere Bande verbindet. Die politische Organisation ist lose und flüchtig und hängt von der politischen Stimmung ab, aber die gewerkschaftliche ist zähe und fasst den Arbeiter an der Grundlage seiner ökonomischen Stellung selbst, an der Ausbeutung. Sie behandelt den Arbeiter nicht bloß als Bürger, sondern als Proletarier, sie trifft ihn nicht bloß auf dem Forum und an der Wahlurne, sondern in der Fabrik und in der Wohnstube. Schon dieses festeren Bandes willen, das die Gewerkschaftsbewegung um die Arbeiter schlingt, hat sie, wie wir sehen, eine weitreichende Bedeutung. Aber nicht nur die Gewerkschaften, selbst solche Einrichtungen, wie Krankenkassen und Arbeiterversicherung, verwandeln sich, wenn es nötig ist, in politische Organisationen. Diese Wirkung hat freilich Bismarck von seiner “sozialen Reform” nicht erwartet. Aber das zeigt eben, dass die politische Bedeutung einer Einrichtung nicht in ihr selbst liegt, sondern in der politischen Situation. Es käme während des hier supponierten Konflikts darauf an, dass das Volk sich nicht lose, getrennt voneinander, sondern vereinigt, zusammengehalten und als Masse geordnet fühlt. Darum, wenn es die Ironie der Geschichte will, so verwandeln sich die Büros der Arbeiterversicherungen in politische Knotenpunkte, und ihre Beamten, mit roten Schärpen umgürtet, oder diejenigen, welche das Volk an ihre Stelle setzt, werden zu Propagandisten und Organisatoren der Volkswehr. Wenn die Arbeiter an dem Widerstand gegen den Staatsstreich teilnehmen sollten, so wäre schon dadurch, weil die Arbeiterklasse organisiert ist, auch dieser Widerstand organisiert. Man müsste sämtliche Formen von Verbindungen, ohne Ausnahme, bis auf die Gesangvereine, vernichten und verbieten, wollte man die Arbeiterklasse desorganisieren. Könnte man dieses aufrechterhalten? Könnte man das unendlich verzweigte öffentliche Leben stillstehen lassen? Würde der Staatsmechanismus, bzw. der Polizeiapparat dazu ausreichen? Und auf wie lange? Die Antwort darauf kann nicht zweifelhaft sein. Die Organisationen der Arbeiterklasse stehen, wie der Phönix, sofort wieder auf, wenn man sie zerstört. Dafür ist die Gewähr das Klassenbewusstsein des Proletariats, das aus den ökonomischen Verhältnissen sich ergibt und nunmehr durch die geschichtliche Entwicklung befestigt wird. Das Proletariat hat nunmehr durch eine viele Jahrzehnte lange Entwicklung gelernt, sich in der mannigfaltigsten Weise gesellschaftlich als Klasse zu betätigen. Das kraftvoll entwickelte Solidaritätsgefühl kann nicht mehr ausgemerzt werden. Es wurzelt zu tief in der gemeinsamen Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital, und jede gemeinsame politische Unterdrückung schmiedet nur das Band der proletarischen Einigkeit enger zusammen. So halten denn die Arbeiter zusammen, auch wenn keine formelle Organisation sie verbindet. Das haben die Wahlen sofort nach dem Ausnahmegesetz schlagend bewiesen. War damals nicht jede Organisation zerstört? Und doch gingen die Arbeitermassen zur Urne und wählten Sozialdemokraten. Das geistige Band, das sie vereinigte, konnte nicht von der Polizei konfisziert werden. Dann aber wird sich, wenn es not tut, das Proletariat sicher aus sich selbst eine Organisation des Widerstands schaffen, auch ohne Barrikaden. Um was handelt es sich? Darum, dass das Volk ausharrt, dass es sich nicht schrecken, aber auch nicht zur Unbesonnenheit provozieren lässt. Zu diesem Zwecke muss es sich Beamte, eine Polizei, eine Verwaltung, die die Ordnung aufrechterhält, erwählen. Das hat das Proletariat während der vielen Jahre des Klassenkampfs gelernt. Es ist nicht mehr eine wild zusammengelaufene Rotte, sondern ein diszipliniertes Heer. Das klassenbewusste Proletariat vermag, was keine Klasse sonst in der kapitalistischen Gesellschaft: sich selbst zu regieren. Und dies, nicht anarchistisches Bramarbasieren und Wüten, die ruhige Ordnung der starken Organisation bildet seine unbesiegbare politische Widerstandskraft. 12. Der politische Massenstreik Das geschilderte Verhalten des Volkes während eines Staatsstreichs ist nichts anderes als ein politischer Massenstreik. Auch die Barrikadenrevolution hatte den Streik zur Voraussetzung, sie hatte zur Voraussetzung, dass die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten niedergelegt wurde. Aber die Barrikadenrevolution hatte einen zu ungestümen Verlauf, um als Streik zur Geltung zu kommen. Der Generalstreik ist keine Panazee. Isoliert von den politischen Zusammenhängen ist er wirkungslos und muss zum Unterliegen der Arbeiterklasse führen. Aber nicht darum handelt es sich, sondern um den Massenstreik zu politischen Zwecken, wofür Belgien das Beispiel lieferte. Wir sagen absichtlich: “Massenstreik”, weil es in diesem Falle gar nicht darauf ankommt, dass die gesamte Arbeiterklasse des Landes ohne Ausnahme streikt. Der politische Massenstreik unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass sein Zweck nicht die Erringung besserer Arbeitsbedingungen ist, sondern die Erzielung bestimmter politischer Änderungen, dass er sich deshalb nicht gegen die einzelnen Kapitalisten, sondern gegen die Regierung wendet. Wie kann aber ein solcher Streik die Regierung treffen? Er trifft sie dadurch, dass er die ökonomische Ordnung der Gesellschaft zerrüttet. Wir haben gesehen, dass es auch eine wichtige Eigenschaft der gewaltsamen Revolution war, die Gesellschaft zu desorganisieren. Die Grundlage dieser Desorganisation ist aber zweifellos die Arbeitseinstellung. Eine Geschäftskrisis wird hervorgerufen. Die Mittelschichten der Bevölkerung werden in Mitleidenschaft gezogen. Die Erbitterung wächst. Aber die Regierung steht ratlos da, weil sie die Arbeiter nicht mit Gewalt in die Fabriken treiben kann. Sie wird um so ratloser, je weniger offener Widerstand ihr geleistet wird, je massenhafter der Streik, je länger er dauert. Welches sind nun die Bedingungen der Ausdehnung und des Anhaltens des politischen Massenstreikes? Einmal Organisation der Arbeiterklasse. Diese hängt zusammen, wie schon hervorgehoben worden, mit der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins. In diesem Zusammenhange muss wieder auf die eminente Bedeutung der Gewerkschaften verwiesen werden. Weiter, Geldmittel. Also gefüllte Streikkassen. Doch nicht nur das allein. Wenn der Streik die Sympathien der bürgerlichen Mittelschichten besitzt, dann fließen ihm aus diesen Kreisen reichliche Unterstützungen zu. Wir haben aber mehrmals auseinandergesetzt, dass nur als Antwort auf die äußerste politische Beschränkung, auf einen durch die Regierung begangenen gewaltsamen Bruch der Verfassung diese Volkserhebung denkbar sei. Wir haben auch gezeigt, dass die Reaktion nicht nur die Arbeiterklasse, sondern die gesamte Bevölkerung treffen müsste. Dann aber wären dem Proletariat die Sympathien und die Unterstützung der Mittelschichten der Bevölkerung so gut wie sicher. Neben dem baren Gelde kommt in Betracht der Kredit beim Bäcker und Krämer. Man kann wohl sagen: solange dieser Kredit anhält, ist der Streik gesichert. Nun ist aber die Sache die: je massenhafter, je allgemeiner ein Streik auftritt, desto mehr sehen sich die Geschäftsleute genötigt, den Streikenden Kredit zu gewähren, denn sonst büßen sie ihre sämtliche Kundschaft ein und ruinieren ihr Geschäft. Aus demselben Grunde, aus welchem eine große Anzahl Berliner Restaurateure den boykottierten Brauereien kündigten und nur boykottfreies Bier führten, werden der Bäcker und Krämer, wenn der Streik einen großen Teil der Arbeiterschaft ergreift, doch wohl bis zu einem gewissen Grade Kredit geben. Dazu kommen noch, wie bei der Geldbeschaffung, die Sympathien, die der Bewegung seitens der allgemeinen Bevölkerung entgegengebracht werden, in Betracht. Auch die Konsumvereine können unter diesen Bedingungen sich als sehr wertvolle Stützmittel erweisen. Das sind im allgemeinen die Bedingungen,. unter denen ein politischer Massenstreik zur Geltung kommen könnte. In den Grundzügen stimmt diese Auffassung mit dem von K. Kautsky ausgearbeiteten Antrag der X. Kommission des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses in Zürich 1893 überein, worin es heißt, “dass Massenstreikes unter Umständen eine höchst wirksame Waffe nicht bloß im ökonomischen, sondern auch im politischen Kampfe sein können, eine Waffe jedoch, deren wirksame Anwendung eine kräftige gewerkschaftliche und politische Organisation der Arbeiterklasse voraussetzt.”2 Die Frage des Generalstreiks ist leider wegen Zeitmangels im Plenum des Züricher Kongresses nicht erörtert worden, deshalb liegt auch kein Beschluss vor. Man lasse vor allem den Zusammenhang zwischen dem Streik und dem Staatsstreich nicht aus den Augen. Man vergesse die Hauptsache nicht: dass es gelten würde, den Zustand der allgemeinen Unruhe und Gärung so lange auszudehnen, bis die Staatsstreichler demoralisiert würden: das Militär würde unschlüssig, die Anstifter und Leiter des Verfassungsbruchs gerieten in Verwirrung. Je mehr dies der Fall wäre, desto mehr würde sich die Situation ändern, und der politische Charakter der Bewegung würde in Gestalt von Massenumzügen, Straßenansammlungen, Demonstrationen usw. mehr hervorgekehrt werden. Nicht darauf kommt es also bei dem politischen Massenstreik an, ob der ökonomische Druck des Streiks auf Seiten der Kapitalistenklasse oder auf Seiten der Arbeiterklasse stärker sei. Die Frage ist die, wie lange es eine Regierung unter dem Drucke einer massenhaften Arbeitseinstellung bei allgemeiner Erbitterung und Gärung würde aushalten können? Und die Beantwortung dieser Frage hängt selbstverständlich nicht nur von den allgemeinen Bedingungen eines Streikerfolges ab, sondern von der Intensität der Erbitterung, die im Volke herrscht, von den politischen Interessen, die auf dem Spiele stehen, von dem Zustande des Militärs u. a. m. Kurz, der Massenstreik ist ein wichtiger politischer Faktor, aber nicht das alleinseligmachende politische Kampfesmittel. Es ist klar, dass, je allgemeiner der Streik, desto größer seine Wirkung. Aber wenn es schon beim gewöhnlichen Streik nicht bloß auf seine Ausdehnung, sondern auch auf die Art der von ihm ergriffenen Produktionszweige ankommt, so ist das noch mehr der Fall beim politischen Streik. Es ist etwas anderes, ob die Bergarbeiter streiken oder z.B. die Schneider. Denn die Bergarbeiter ziehen die gesamte Eisen- und Maschinenindustrie in Mitleidenschaft und damit so gut wie die gesamte Großindustrie. Eine andere Bedeutung wieder hat ein Streik der Bäcker, und wiederum anders ist der Streik der Bauarbeiter usw. Das Hauptgewicht aber, und im politischen Streik ganz besonders, liegt in den Verkehrsmitteln. Wenn die großen Verkehrsmittel außer Betrieb gesetzt werden, dann stockt der gesamte gesellschaftliche Produktionsmechanismus, aber auch der politische Mechanismus. Wenn die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten, die Zugführer, die Stationsunterbeamten, die sonstigen Betriebsarbeiter, wenn die Postbeamten, die Angestellten der Telegrafen- und Telefonanstalten aufhören, ihren Dienst zu tun, dann ist die Regierung desorganisiert, dann ist es, als ob ihr das Blut aus den Gefäßen ausgeflossen wäre, und sie klappt ohnmächtig zusammen. So gewaltig die Wirkung eines Streikes der Arbeiter und Beamten an den Verkehrsmitteln wäre, so schwer ist er zustande zu bringen. Wenn es aber eine Situation gibt, die geeignet ist, diese verschiedenartigen und schwer organisierbaren Arbeiterschichten zu einer gemeinsamen Aktion. zu vereinigen, so ist es die Abwehr eines Verfassungsbruchs. 13. Die Desorganisation der Regierung Die Barrikadenrevolution hatte ihren fast ausschließlichen Kampfplatz in der Hauptstadt. Einmal, weil hier der Sitz der Regierung, sodann aber, weil nur in einer Großstadt jene spontanen Menschenansammlungen möglich sind, welche die gewaltsame Revolution erfordert. Dies bot der Regierung zunächst den Vorteil, dass sie die militärische Macht vom Lande nach der Residenz zusammenziehen konnte. Aber schon der politische Massenstreik kennt die Grenzen der Hauptstadt nicht. Seine Voraussetzung ist vielmehr eine Verbreitung durch das ganze Land. Dem entspricht eine allgemeine Geschäftsstockung, eine allgemeine Zerrüttung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im ganzen Reiche. Und abermals ist es allein das klassenbewusste Proletariat, das dies zustande bringen kann. Alle anderen Gesellschaftsschichten sind in sich selbst uneinig. Die Konkurrenz zerfrisst sie. Sie zerfallen in kleine Gruppen, die entweder lokal voneinander isoliert sind wie das Bauerntum, oder beruflich und wirtschaftlich weit auseinandergehen, wie das Kleinbürgertum und die liberalen Berufsarten. Einzig das Proletariat bildet eine gewaltige, ökonomisch gleichartige Masse, in der sich überall, in der Großstadt wie in der isoliert gelegenen Fabrik auf dem Lande, von der fernen Hafenstadt an der Ostsee bis zum industriereichen Rhein, überall das gleiche Solidaritätsgefühl bekundet. Während einer Barrikadenrevolution genügte der Aufstand in der Hauptstadt, um die Regierung in Verwirrung zu bringen — wie aber, wenn eine allgemeine Gärung mit elementarer Macht das ganze Reich ergreift? Wie, wenn in jeder größeren Stadt Versammlungen, Demonstrationen, Protesterklärungen stattfinden, und ein Sturm von Entrüstung einer staatsstreichlerischen Regierung aus dem ganzen Lande entgegenbraust? Und wenn vor allem überall die Arbeit ruht und immer lauter die Klagen sich erheben über Zerrüttung der Handelsverhältnisse — wozu schon die allgemeine Unsicherheit genügt — und über geschäftlichen Ruin? Wenn der Kurs der Staatspapiere fällt und zu gleicher Zeit die Einnahmen, besonders die Reichseinnahmen, die fast ausschließlich auf Verbrauchsabgaben beruhen, sinken, die Ausgaben aber infolge der kolossalen Tätigkeit, welche die Regierung zu entfalten hat, wachsen? Und jede weitere Stunde macht das Militär weniger zuverlässig ! Es ist schwer, einen großen Massenstreik auf die Dauer aufrechtzuerhalten — aber noch schwieriger ist es für die Regierung, einer allgemeinen politischen Protestbewegung standzuhalten. Währenddem also nunmehr die Regierung in der Hauptstadt einen viel schwierigeren Standpunkt haben würde, als zur Zeit der Barrikadenkämpfe, weil die Regierung nicht mehr so viel militärische Macht nach der Hauptstadt würde zusammenziehen können — würde die politische Bewegung in der Provinz mit einer bis dahin nicht gekannten Wucht vor sich gehen. Dies führt uns zur Betrachtung eines weiteren wichtigen Moments. Kein Staat hat eine so komplizierte und verworrene Organisation, wie Deutschland, was durch seine geschichtliche Bildung aus Kleinstaaten bedingt worden ist. Es zerfällt also zunächst in Bundesstaaten, und jeder Bundesstaat hat seinen Regierungs- und Verwaltungsapparat, der einen verschiedenartigen Mischmasch von Beamtentum und Demokratie darstellt. Schon das steht einer raschen, einheitlichen, allgemeinen Aktion der Regierung im Wege. Nicht überall ist Preußen. Je stärker die Entwicklung der Demokratie in einem Bundesstaat, desto weniger würde dieser ein willfähriger Diener der Reaktion sein, desto weniger einer etwaigen staatsstreichlerischen Reichsregierung Vorschub leisten. Dieses Verhältnis könnte zu einer Desorganisation der verfassungsbrüchigen Regierung führen, andererseits dem politischen Massenstreik von Nutzen sein. Nicht nur die Landtage kommen dabei in Betracht. Von eminenter Bedeutung sind auch die Gemeindevertretungen, vor allem die städtischen. Wenn der Stadtrat auf Seiten des Volkes steht, bzw. unter dem Drucke der Öffentlichkeit sich ihm gegenüber sympathisch erweisen muss, so verfügt das Volk nicht nur über die Autorität, sondern auch über die finanziellen Mittel der Stadtverwaltung. Ein demokratischer Stadtrat kann den Streikenden Unterstützung bewilligen, ihnen Kredit gewähren, für ihren Kredit bürgen. Er kann zu diesem Zwecke Steuern auflegen und Anleihen aufnehmen. Je länger der Massenstreik unter solchen Verhältnissen anhält — ohne Barrikadenkampf, ohne Blutvergießen, ohne jeden kriegerischen Taumel —‚ desto mehr greift die Zersetzung um sich, desto schwankender wird das Militär, desto verwirrter wird die Regierung, und schließlich kehrt sich der Verwaltungsapparat des Staates selbst gegen die Regierung. Um die Regierung völlig zu desorganisieren, fehlt nur noch eins: die Steuerverweigerung! Dies wäre die Art, wie das Volk die Verfassung gegen Hochverrat schützen könnte! Weit entfernt, durch die Entwicklung des Militarismus zur Unmöglichkeit gemacht worden zu sein, ist der Erfolg dieser Volkswehr vielmehr sicher, unter einer Bedingung: dass das Proletariat in Ruhe aushält und sich nicht zu Unbesonnenheiten hinreißen lässt! Dann müsste unbedingt sehr schnell der Zeitpunkt kommen, wo die verfassungsbrüchige Regierung zu Kreuze kriecht und winselnd um Gnade bittet! 14. Warnung! “Versteht der Leser nun, weshalb die herrschenden Klassen uns platterdings dahin bringen wollen, wo die Flinte schießt und der Säbel haut? … Die Herren verschwenden ihre Bittgesuche wie ihre Herausforderungen für nichts und wieder nichts. So dumm sind wir nicht. Sie könnten ebensogut von ihrem Feinde im nächsten Kriege verlangen, er solle sich ihnen stellen in der Linienformation des alten Fritz oder in den Kolonnen ganzer Divisionen à la Wagram und Waterloo, und das mit dem Steinschlossgewehr in der Hand. Haben sich die Bedingungen geändert für den Völkerkrieg. so nicht minder für den Klassenkampf. Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen, bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie eintreten sollen. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt.” Friedrich Engels Es wäre töricht, jetzt gegenüber der großen Entwicklung des Militärwesens eine Revolution etwa in der Art des Jahres 1848 beginnen zu wollen — aber noch törichter wäre es, eine unter modernen Verhältnissen zustande kommende politische Volksbewegung mit den Mitteln bekämpfen zu wollen, die vielleicht 1848 ausgereicht hätten. Es hat sich während dieses halben Jahrhunderts nicht nur die Militärtechnik entwickelt, sondern das gesamte wirtschaftliche und politische Leben der Völker, und schließlich ist die Entwicklung des Militärwesens nur ein blasser Widerschein der allgemeinen industriellen Entwicklung. Das vergessen die Herren Generäle a. D., die sich die langweilige Ruhe eines untätigen Daseins, in Abwechslung mit Karten-, Schachspiel und genealogischen Studien, durch papierene Revolutionskämpfe zerstreuen und sich als Staatsstreichstrategen, als hausbackene Moltkes gegen den “inneren Feind” gerieren. Ja, wenn das Volk gerade so handeln wollte, wie sie es sich vorstellen, wie herrlich würden sie es dann zu einem blutigen Brei zusammenschießen! Schade nur, dass das Volk sich nicht einfallen lässt, deshalb auf die Barrikaden zu steigen, um das Avancement gebrechlicher Generäle zu Rettern des Vaterlandes zu fördern! 1848 wurde die preußische Regierung, die stärkste Regierung Deutschlands, mit den Berliner Aufständischen nicht fertig. Gewiss, solche Kanonen und solche Flinten wie jetzt standen ihr damals nicht zur Verfügung. Aber immerhin waren es Kanonen und Flinten, also doch mehr als “Feuerspritzen”. Und ein Heer von 250.000 Mann stand unter Waffen und war der Regierung zu Gebote. Es war ein williges Heer: durch keine politische Erkenntnis, keine Bedenken noch wankelmütig gemacht, gehorsam und brutal. “Wir sind keine Pariser”, riefen die pommerschen Soldaten den gefangenen Berliner Barrikadenkämpfern zu und stießen ihnen den Gewehrkolben in den Nacken! Und doch hat der König von Preußen vor dem zusammengelaufenen “Pöbel” den Hut ziehen müssen! Und wie gering war damals die politische Macht des Volkes im Vergleich zu heute! Damals war Preußen ein Agrikulturland. Über 70 Prozent der Bevölkerung lebten auf dem platten Lande. In den Städten waren nur 28 Prozent. Dagegen beträgt nach der Zählung von 1890 die Stadtbevölkerung mehr als vier Zehntel der Gesamtheit. Damals, 1848, waren in Preußen in Gewerbe, Handel und Verkehr nur 29 Prozent der Bevölkerung tätig. Aber schon 1882 betrug diese industrielle Bevölkerung 47 Prozent, und jetzt werden es wohl über 50 Prozent sein! Und aus wem bestand denn die Stadt- resp. die gewerbetreibende Bevölkerung :848 in Preußen? Die Industrie war noch im Anfangsstadium ihrer Entwicklung, Fabriken gab es sehr wenige. Die Zählung von 1849 ergab in der Handwerkertabelle für “mechanische Künstler und Handwerker” 942.373 Personen, während demgegenüber die Fabrikentabelle in der Rubrik “Fabriken in Metall usw.” nur ein Arbeiterpersonal von 95.211 aufzuweisen hat. Das war damals in Preußen die Maschinenindustrie, die Grundlage der gesamten Industrie, in Vergleich mit den Schlossereien, Klempnereien und ähnlichen handwerksmäßigen Betrieben! Wenn man auf der einen Seite die geringe Zahl der Fabrikarbeiter, Handwerker, Kaufleute, Literaten hält, die 1848 das revolutionäre Heer bildeten, und auf der anderen das mächtige preußische, absolute Königtum von Gottes Gnaden, das sich auf eine Viertelmillion Bajonette stützte — die Feuerspritzen nicht gerechnet —‚ so muss die Revolution von 1848 als ein tolles Wagnis erscheinen, und es fehlte auch damals nicht an alten Generälen, die mit ein paar Bajonettstichen die Revolution unterdrücken zu können glaubten. Und doch hatte die Revolution von 1848 Erfolg, wie die Geschichte zeigt. Jeder Zeit ihre Kampfesart! Wer im Jahre 1848 den Massenstreik als politisches Kampfesmittel hätte gebrauchen wollen, gehörte nach den oben mitgeteilten Tatsachen ins Irrenhaus — ebenso jeder, der mittels aufgerissener Pflastersteine, alter Möbelstücke, umgeworfener Handkarren usw. dem modernen Militär den Weg durch die breiten, geraden Straßen der Großstadt verrammeln wollte. Und deshalb ist es ebenso närrisch, zu erwarten, dass das Volk in dieser Weise gegen den Staatsstreich kämpfen würde. Würde es zu einem Staatsstreich kommen, so würden die Generäle zweifellos ihre Kanonen auffahren lassen. Ob aber die Kanonen auch die Gelegenheit bekämen, loszugehen, ist eine andere Frage. Mit dem Auffahren allein wäre es noch nicht getan, und das Volk würde kaum Lust haben, Kanonenfutter zu spielen. Dazu wäre auch in Betracht zu ziehen, dass die Soldaten mehr denken als die Kanonen. Dass jetzt die industrielle Bevölkerung die größere Hälfte bildet, bedeutet andererseits, dass die Hälfte der Armee aus ihren Kreisen stammt. Die Pommern waren allerdings keine “Pariser”, aber der aus der Fabrik oder Großstadt herrührende Soldat ist auch nicht mehr der Pommer von 1848! Und dabei die zweijährige Dienstzeit! Und dabei die große Verbreitung der Aufklärung, der politischen Bildung, überhaupt die kulturelle Entwicklung eines halben Jahrhunderts! Man denke nur an die kolossale Entwicklung der Presse. Im Jahre 1847 gab es z. B. in Osterreich nur 79 Zeitungen, im Jahre 1892 waren es 1864. Die Zahl der Zeitschriften in Deutschland aber beträgt (1891) über 6300. Das verbreitete sich in Millionen von Exemplaren und findet seine Leser und weckt in dieser oder jener Weise das politische Interesse. Wie, vor einem halben Jahrhundert hat das kleine, über viele Dutzende Bundesstaaten zerstreute Häuflein der Ideologen, der Hetzer, der Demagogen die deutsche Freiheit erobert — und jetzt sollte das große, einige, deutsche Volk nicht imstande sein, diese Freiheit zu verteidigen? Hat man nicht soeben das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Gründung des Deutschen Reiches gefeiert? Und war nicht das ein Vierteljahrhundert der regsten politischen Tätigkeit? Wurde nicht das Volk durch Wahlen, durch zahllose Versammlungen, durch die vielen Vereine, durch die Presse, durch das großstädtische Beisammensein politisch wachgerüttelt, an eine politische Willensbetätigung gewöhnt? Und war nicht diese Zeit zugleich ein Vierteljahrhundert des proletarischen Klassenkampfs, der Organisation einer Volksmasse von zwei Millionen zu einer sozialrevolutionären Armee? Und das alles soll man mit ein paar Feuerspritzen aus der Welt schaffen können? Oder selbst mit gezogenen Kanonen und den kleinkalibrigen Gewehren? Wir haben gezeigt, was der Staatsstreich bedeutet: die Auflösung des Reiches und die Desorganisation des Staates. Und was bedeutet der politische Massenstreik, die unvermeidlich früher oder später eintretende Antwort auf den Staatsstreich? Nun wohl, er bedeutet die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat! Denn das ist allerdings wahr: nur das klassenbewusste Proletariat ist imstande, die politische Freiheit, die politische Verfassung gegen Gewalt zu verteidigen. Und wenn die Gewalt der verfassungsbrüchigen Regierung gebrochen würde, dann wäre es das Proletariat, das den Kampfplatz behauptete und die politische Führung übernähme. Dieses sagen wir zum Schlusse den Reaktionären in und ohne Uniform: Mir den bürgerlichen Revolutionen, bei denen das Proletariat nur Handlangerdienste leistete, ist es aus, Ihr braucht sie nicht mehr zu fürchten. Aber die bürgerlichen Revolutionen waren nur ein Kinderspiel gegenüber der politischen und wirtschaftlichen Macht, welche das Proletariat aufzubieten vermag. Sie verfügten nicht über solche Massen, solche Organisation, solche Disziplin, solche Ausdehnung, solche materiellen Interessen wie ein politischer Streik der Arbeiterklasse. Seid gewarnt vor dem Proletariat, wenn es alle seine Kampfesmittel zum Schutze der Verfassung aufbietet! Wollt ihr va banque spielen? Ihr verliert sicher und schlimmer, als ihr meint. 1 Da die politische Bedeutung der Landtage, neben dem Reichstag eine sehr untergeordnete ist, so kommen hier die Gegensätze unter den bürgerlichen Parteien weniger scharf zur Geltung. Dennoch hütete man sich in Sachsen wohl, das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen, sondern man führte die Dreiklassenwahlen in preußischer Art. also mit gemeinsamer Abgeordnetenwahl, ein, wodurch nur erreicht wird, dass weder die Arbeiterklasse, noch der Mittelstand, noch die Kapitalistenklasse ihre Abgeordneten selbständig wählen können. Das ist ein Wahlsystem, das sich selbst aufhebt, das überhaupt nur funktionieren kann, wenn eine Wählerklasse freiwillig auf ihre Selbständigkeit oder ihr Wahlrecht verzichtet. Die sächsische Bourgeoisie spekulierte, ermuntert durch die preußischen Erfahrungen, darauf, dass die Sozialdemokratie diese Kasteiung an sich üben wird. Schon bei den nächsten Wahlen wird sich der reaktionäre Rausch verfliegen — desto bitterer wird der Katzenjammer sein. 2 Vgl. auch Ed. Bernstein: “Der Streik als politisches Kampfmittel”. “Neue Zeit”, 1893/94, Band I, S. 689. |