Parvus 18951030 Der Breslauer Parteitag

Parvus (Aleksandr Helphand): Der Breslauer Parteitag und die Taktik in den Landtagen (Oktober 1895)

[„Die Neue Zeit“, XIV.. Jahrgang 1895-96, 1. Band, Heft 6, S. 165-173. „Um der verständlichen Erregung der bayerischen Sozialdemokraten über Parvus nicht weitere Nahrung zu geben, ließ Kautsky die Artikel anonym erscheinen.“ (Winfried Scharlau: Parvus-Helphand als Theoretiker in der deutschen Sozialdemokratie und seine Rolle in der ersten russischen Revolution (1867-1910). Münster 1964, S. 55, Fußnote]

Es wurde gegen die Resolution Kautsky, den nachherigen Beschluss des Breslauer Parteitags, eingewendet, mit einer derartigen Stellungnahme würde die Partei in den Landtagen nicht durchkommen können, dort müsse man „praktische“ Politik treiben, man können vor „praktischen“ Aufgaben nicht die Augen zuschließen etc. etc. Und siehe da: kaum war der Parteitag vorbei, so stellte sich schon eine derartige Schwierigkeit ein und zwar in Bayern.

Noch hatten die bayerischen Delegierten nicht den Breslauer Staub von ihren Schuhen abgeschüttelt, nicht einmal eine Berichterstattung über den Parteitag war erfolgt — und schon sahen sich die bayerischen sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten veranlasst, eine fulminante Erklärung im Landtage abzugehen, in dem Sinne, sie seien die Alten geblieben, „vorübergehende Strömungen“ (das heißt der Breslauer Parteitag!) ließen sie unberührt.

Die Nachricht davon ging durch die Presse, und die „Leipziger Volkszeitung“ sowie das „Hamburger Echo“ lieferten den Kommentar. „Haben wir es Euch nicht vorhergesagt?“ rufen sie der gewaltigen Majorität des Parteitages zu: „Jetzt habt Ihr es! Man kann eben mit Eurem Beschluss in der praktischen Tätigkeit nicht durchkommen. Was sagt Ihr jetzt dazu? Tu l’a voulus, George Dandin!“1

Die armen bayerischen Landtagsabgeordneten, die unschuldigerweise so schnell und so hart für den dogmatischen Fanatismus der 158 „Theoretiker“ von Breslau zu büßen haben, und die bedauernswerte Partei, die unter dem verhängnisvollen Regime der „Schablone“ steht!

Doch weshalb der Lärm? Besehen wir uns das eingetretene Verhängnis genauer!!

Zunächst die Erklärung selbst. Sie besagt, ihrem positiven Gehalt nach, dass die fünf Landtagsabgeordneten nach wie vor, „wie sie für die kulturelle Entwicklung auf allen Gebieten eintreten, auch der Landeskultur ihr lebhaften Interesse entgegenbringen.“ (Um Verzeihung! Die kulturelle Entwicklung hat mit der bayerischen Landeskultur oder Agrikultur, heißt: Landwirtschaft, nur soviel zu tun, wie etwa die atomistische Theorie mit der Pferdezucht. Beiden unbestreitbar gemeinsam ist nur das Wort Kultur, aber nicht immer der Begriff. Dann aber könnte man mit dem gleichen Recht die Verbesserung der Bazillenkultur auf reinen Nährboden als politische Forderung aufstellen! Das nebenbei.) Die Lage der bedrängten Bauernschaft liege ihnen am Herzen. Sie werden den Bauern „in dem Kampfe gegen das Kapital und mit dem Fiskus tatkräftig beistehen, sie als Steuerzahler, als Schuldner, als Wald- und Weideberechtigte, als Erzeuger der zur Volksernährung nötigen Bodenprodukte vor Nachteil bewahren“.

So breitspurig diese Erklärung ist, so unbestimmt ist sie. Auch wenn man den Übergriffen der Steuerexekutoren entgegenwirkt oder wenn man das Pfandrecht reformiert, bewahrt man den Bauer „vor Nachteilen“. Und man braucht wahrlich nicht prinzipiell für die „Erhaltung und Vermehrung des öffentlichen Grundeigentums“, wie es im weiland Agrarprogramm hieß, einzutreten, um das protzige Gebaren eines Herrn v. Zoller und die Fuchsmühler Attacke nach Gebühr zu kennzeichnen. Dagegen kann kein Mensch etwas haben. Anders freilich ist es, wenn das Bewahren „vor Nachteilen“ in den bekannten „Bauernschutz“ sich verwandelt, wenn man im Interesse der Landeskultur eine Bodenzerstückelung erstrebt oder den kapitalistischen Grundbesitz auf Kosten der Allgemeinheit durch Meliorationen bereichert, wenn man, um dem Bauer als Schuldner zu helfen, eine kapitalistische Hypothekenverstaatlichung proklamiert und, um ihn als Weide- und Waldberechtigten „vor Nachteilen“ zu bewahren, die Gemeindeländereien für das Geld der Steuerzahler vermehrt.

Aber nicht auf den Wortlaut der Erklärung kommt es an, sondern auf das sie begleitende Handeln. Und dieses ist allerdings einzig in der Parteigeschichte. Noch nie gab es einen ähnlichen Fall in der deutschen Sozialdemokratie, und auch, soweit sich übersehen lässt, in den sozialistischen Arbeiterparteien anderer Länder.

Mögen die fünf sozialdemokratischen Abgeordneten des bayerischen Landtags unzufrieden sein mit dem Breslauer Parteibeschluss. Um ihn zu kritisieren gibt es Parteiversammlungen und eine Parteipresse. Sie aber warten nicht einmal ab, bis die Berichterstattung über den Parteitag in Versammlungen erfolgt ist und wenden sich an den bayerischen Landtag, diese der Partei durch und durch feindliche kapitalistische Interessenvertretung, um hier zum Gaudium der Gegner den Beschluss des Parteitags als „vorübergehende Strömung“, deren man nicht zu achten braucht, zu erklären. Sie berufen sich auf ihre Wähler und auf die bayerische Sozialdemokratie und behandeln die deutsche Sozialdemokratie so, als ob sie gar nicht da wäre. So erscheint ihr Auftreten als ein Pronunciamento, als der erste Schritt in einer Richtung, in der der zweite Schritt nur noch Rebellion bedeuten kann!

Und um jeden Zweifel zu vermeiden, erklärt Genosse Scherm, der eben die Kundgebung im Namen der Fraktion gemacht hat, seine heutigen Ausführungen dürften gezeigt haben, wie die Schlussfolgerungen beschaffen sind, die er aus den Beschlüssen des Breslauer Parteitags ziehe!

Die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten in Bayern sind zu sehr geschulte Politiker, als dass wir ihnen zumuten dürften, sie hätten die Tragweite ihrer Kundgebung nicht abzuschätzen vermocht. So mussten sie denn eine sehr ernste Veranlassung haben, um eine so ernste und unter Umständen folgenreiche Handlung zu begehen!

Was war aber der harte Stein des Anstoßes, an dem die Disziplin und die politische Schlagfertigkeit der fünf bayerischen Landtagsabgeordneten Dank dem Breslauer Beschluss wie Glas zersplitterte? Es war die von der bayerischen Regierung vorgeschlagene Rindviehversicherung. Dieserhalb sah sich die sozialdemokratische Landtagsfraktion zu ihrer Erklärung veranlasst.

Der königliche Staatsminister v. Felitzsch kann sich zu diesem Erfolg seiner Vorlage gratulieren. Denn noch keinem Minister in der Welt war es gelungen, eine sozialdemokratische Parlamentsvertretung zu zwingen, sich ohne weiteres von den Beschlüssen eines Parteitags, und noch dazu eines soeben stattgehabten, öffentlich loszusagen! Und alles das wegen der Rindviehversicherung! Welch fein ersonnenes Projekt muss das sein!

Die Absicht der bayerischen Regierungsvorlage über die Versicherung des Rindviehs (nebst Ziegen) besteht darin, im Falle einer durch Krankheit verursachten Notschlachtung oder des Ablebens der Tiere ihre Besitzer zu entschädigen. Ausgeschlossen sind aber dabei jene Viehseuchen, bei denen jeder schon auf Grund gesetzlicher Bestimmungen eine Entschädigung stattfindet (Rinderpest, Milzbrand, Lungenseuche und Rotzkrankheit; es verbleibt bei den Rindern in erster Linie die Tuberkulose). Diese Versicherungssummen sollen aufgebracht werden durch Beiträge der Viehbesitzer selbst. Der Staat von sich gibt 40.000 Mark im Jahr und einmalig 500.000 Mark für den Reservefonds.

Die Organisation soll derart sein, dass die Viehbesitzer Ortsversicherungsvereine bilden (solche existieren auch jetzt schon), die sich zu einer Landesversicherungsanstalt vereinigen. Dieser wird eine Beamtenverwaltung gegeben unter Kontrolle einer gewählten Körperschaft. Kein Versicherungszwang und kein Zwang für die Ortsvereine, der Landesorganisation beizutreten.

Es ist also weniger als eine Verstaatlichung der Viehversicherung wie sie z.B. der Agrarprogrammentwurf vorhergesehen hat. Denn die Verstaatlichung müsste gerade mit der Beseitigung dessen beginnen, was diese Vorlage zur Grundlage der ganzen Organisation macht: der Ortsversicherungsvereine, weil Privatunternehmungen. An ihre Stelle würde man dann setzen eine Staatsbank, die das ganze Risiko übernimmt und dafür die Prämien einheimst. Ob dabei ein Versicherungszwang eingeführt wird oder nicht, ändert an dem Charakter der Institution nichts. Das Tabakmonopol setzt auch nicht den Zwang voraus zu rauchen und die Verstaatlichung der Eisenbahnen nicht den Zwang zu reisen.

Weil die Versicherung keine Verstaatlichung [ist], so fällt hier auch alles weg, was gegen diese angeführt wurde. Es ist etwas ungemein Unbedeutendes, um was es sich handelt. Formell könnte man deshalb auch den bayerischen Landtagsabgeordneten vom Standpunkte der Breslauer Resolution schwerlich etwas anhaben, würden sie für diese Vorlage stimmen. Es lag auch dem Parteitag nichts ferner, als eine Schablone für jede, selbst die geringfügigste Abstimmung abzugeben, was übrigens ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Aber dem Geiste nach kamen bei dieser Gelegenheit tatsächlich zwei entgegengesetzte taktische Auffassungen in Konflikt miteinander.

Im Geiste des Breslauer Parteitags hätte man zu der Rindviehversicherungs-Vorlage der bayerischen Regierung eine ganz andere Stellung annehmen müssen als es die sozialdemokratische Fraktion des Landtags tatsächlich tat. Wie diese Stellungnahme beschaffen war, soll weiter unten gekennzeichnet werden, aber vom Standpunkte des Breslauer Agrarbeschlusses musste man der bayerischen Regierung und den bayerischen staatserhaltenden Parteien ungefähr folgendes sagen: Was man durch diese Vorlage dem Bauerntum von Staats wegen bietet, das sind 40.000 Mark, und mit den Zinsen von der halben Million Vorschuss sind es etwa 60.000 Mark jährlich. Das ist eine Lappalie, wenn man bedenkt, dass das bayerische Budget etwa 600 Millionen Mark, also genau zehntausend Mal so viel, beträgt. Trotzdem wäre es ein Fehler, diese Summen zu bewilligen, ja man muss auch gegen das gesamte Projekt stimmen, und zwar aus den verschiedensten Gründen.

Erstens, die geringe Summe, die da bewilligt werden soll, ist ungenügend. Sie ist lächerlich. Sie reicht nicht einmal aus, um das Kanzleipapier, das bei dieser Gelegenheit verschrieben werden wird, und die Gehälter der Beamten zu bestreiten. Wird der Bauer einen Vorteil haben von den ca. 60.000 Mark, die der Staat beisteuert? Wir sagen: Nein! Deshalb nicht, weil der Bauer, wenn er nur bei der Ortsverwaltung bleibt, so gut wie keine Verwaltungskosten hat. Mit dem Landesverband kommen aber auch die großen Verwaltungskosten, und die fressen den gesamten Staatszuschuss auf, sie betragen ungefähr 66.000 Mark! In der Ortsversicherung zahlt jetzt der Bauer durchschnittlich 1,08 Prozent Prämie, — für die Landesversicherung ist 1 Prozent Prämie vorgesehen und noch ein Extrabeitrag für die Verwaltungskosten!

Also dieser Staatszuschuss kommt nicht den Bauern zugute, sondern dient dazu, eine lästige Beamtenschaft aufzuziehen. Der Bauer wird vielmehr noch zuzahlen müssen.

Zweitens aber ist der Vorschlag auch prinzipiell verwerflich.

Was soll denn diese Maßregel? Sie soll den Viehstand des Kleinbauern schützen? Wohlan, dann schütze man ihn gegen die Futternot! Diese wirkt viel verheerender als die Tuberkulose. Die Futternot von 1893 hat den bayerischen Viehbestand dezimiert, um 10,4 Prozent vermindert. In diesem einen Jahr ging der ganze Nachwuchs seit 1883 verloren. 350.000 Stück Rindvieh sind in Bayern allein vernichtet worden. Wodurch? Es war keine Seuche, keine Krankheit.

Nur weil der Kleinbauer keine Mittel hatte, um das Vieh überwintern zu lassen, kam es zu diesem Ergebnis. Den reichen Bauern hat die Futternot bei weitem nicht so alteriert. Wo der Viehstand hauptsächlich im Besitze des Großbauerntum ist: in Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz, da ist auch der Rückgang am geringsten, — wo aber der kleinbäuerliche Viehbesitz vorherrscht: in der Pfalz, in Franken, in Schwaben, da ist ach der Rückgang am größten, er beträgt für Mittelfranken 18,7 Prozent!

Nun ist die Futternot in einer akuten Form, wie sie 1893 auftrat, allerdings eine Seltenheit. Aber in einer verborgenen Form ist sie beständig und wirkt auf die Dauer nicht minder verwüstend. Der Kleinbauer wird eben stets zu wenig Futtermittel haben, will er nicht seine gesamte Wirtschaft auf die Viehzucht gründen, und das können nur die Wenigsten. Der Kleinbauer steht vor der Wahl: entweder Getreide zu kaufen oder Futtermittel. Und für beides hat er kein Geld. Das und der Geldmangel überhaupt zwingen ihn, den Viehnachwuchs zu verkaufen, sobald er nur irgendwelchen passablen Wert erhalten hat. Das ist die Ursache der Depekoration, der Entviehung der Landwirtschaft. Weit entfernt, der Viehzucht förderlich zu sein, führt die bäuerliche Kleinwirtschaft vielmehr zur Ausrottung des Viehstandes.

Diese chronische Futternot hindert viel mehr die Entwicklung des kleinbäuerlichen Viehbesitzes als es die Viehkrankheiten tun. Also, wer den kleinbäuerlichen Viehbesitz schützen will, der muss hier eingreifen. Aber was kann man auf dem Boden der heutigen Gesellschaft tun? Nichts! Denn die Parzellierung des Bodens ist die notwendige Folge des Privateigentums an ihm. So lange aber diese Grundursache des chronischen relativen Rückganges des Viehstandes nicht abgeschafft ist, hilft alles andere nicht.

Dass jedoch die Viehversicherung einen bestimmten minimalen Nutzen hat, bestreiten wir nicht. Wogegen wir aber entschieden protestieren, ist, dass sie zur Haupt- und Staatsaktion erhoben wird, und dass zu diesem Zweck öffentliche Mittel aufgewendet werden.

Nicht zu vergessen ist, dass genau ein Drittel des bayerischen Kleinbauerntums nach der Gewerbezählung von 1882 überhaupt kein Rindvieh besitzt. Ein großer Teil davon besitzt zwar Ziegen. Aber wenn man auch die Ziege euphemistisch das Rindvieh des armen Mannes nennt, so ist doch die Bedeutungslosigkeit dieser Versicherung augenfällig. Sie läuft auch nur so nebenher neben der Rindviehversicherung. An dem Kern des Ganzen, an der Rindviehversicherung, hat also ein Drittel der Kleinbauern kein Interesse.

Unter den Viehbesitzern aber verfügt das Kleinbauerntum, obwohl es sechs Zehntel sämtlicher Betriebe ausmacht, nur über 30 Prozent des Viehstandes. In den besonders Viehzucht treibenden Gegenden Bayerns ist das Verhältnis für das Kleinbauerntum, d.h. die Besitzer von unter 5 Hektar, noch ungünstiger. In Oberbayern z.B. fallen auf sie bloß 17 Prozent des Viehbesitzes ab. Der durchschnittliche Viehbesitz pro Betrieb steigt stark mit der Betriebsfläche. Es ist allerdings für den Bauer mit bloß einer Kuh der höchste Verlust, wenn ihm diese fällt, aber andererseits zeigt die geringe Anteilnahme des Kleinbauerntum an dem Viehbesitz, dass, wenn öffentliche Mittel der Viehversicherung zugewendet würden, diese hauptsächlich dem Groß- und Mittelbauerntum zu Gute kämen.

Welches aber ist der Vorteil der Versicherung für die Viehbesitzer?

Der Bauer steckt stets in der Geldklemme. Was mit der Zeit seine Vieh geschieht, ist ungewiss, aber die Prämie hat er jährlich zu bezahlen. Nach der Vorlage zahlt er jährlich pro Kopf des Rindviehs 2 Mark, besitzt er zwei Stück, so sind es 4 Mark. Das ist auf dem Lande eine sehr bedeutende Geldsumme, zumal für den Kleinbauern. Was bekommt er nun dafür? Er bekommt im Falle des Umstehens oder der Notschlachtung von der Versicherung 80 Prozent des Viehwerts vergütet. Der Wert des Kadavers beträgt nach dem Anschlag 30 Prozent, somit sind es tatsächlich nur 50 Prozent des Viehwerts, die dem Bauer aus der Versicherung zufließen.

Warum wird aber die Entschädigung nicht höher bemessen? Weil dann auch die Versicherungsprämie höher angesetzt werden müsste. Indem man davon absteht, es zu tun, bekennt man selbst, dass der Vorteil der Versicherung ein sehr problematischer ist.

Es hat lange gedauert, bis die Feuerversicherung sich allgemein eingebürgert hat. Aber der Verlust des Bauern, wenn sein Hof abbrennt, ist doch ein viel größerer, und die Prämie beträgt gewöhnlich einen geringen Bruchteil eines Prozents der versicherten Wertsumme, während die Viehversicherungsprämie über 1 Prozent hinausgeht. Deshalb, je geringer der Bauernbesitz, je größer die Geldnot, desto weniger geneigt zeigt sich der Bauer, der Viehversicherung beizutreten. Darum wird auch die geplante Landesorganisation der Viehversicherung aus freien Stücken keine große Verbreitung finden.

Die Väter des Projekts können ja selbst nicht umhin, das anzuerkennen, und wenn sie sich auch nicht entschließen, den Versicherungszwang einzuführen, so führen sie die zwangsweise Beitreibung der Beiträge, d.h. der Versicherungsprämie, ein. Als was erscheint dann dem Bauer die Versicherungsprämie, wenn nicht als eine neue drückende Steuer? Um dem Bauer eventuell die Pfändung ins Haus zu bringen, zu diesem Zweck soll die Vorlage angenommen werden? — dafür ist die Sozialdemokratie nicht zu haben.

So steht es mit der Rindviehversicherungs-Vorlage.

Doch kann man nicht viel anderes machen, denn wollte man das Übel gründlich heilen, so müsste man das Privateigentum an den Produktionsmitteln beseitigen.

Hier ein Bauer, er besitzt eine Kuh. Die Kuh ist sein Privateigentum. Er glaubt in diesem Privatbesitz die beste Gewähr seines Wohlstandes zu finden, denn Niemand außer ihm darf die Kuh ausnützen. Aber die Kuh fällt, und nun zeigt sich ihm das Privateigentum von einer anderen Seite, nämlich als fremdes Privateigentum, das er nicht antasten darf. Das Privateigentum, das soeben seine Stütze zu sein schien, bewirkt jetzt seinen Ruin. Sein Unglück ist, dass er vereinzelt dasteht, dass er durch das Privateigentum von den anderen Produzenten isoliert ist.

Der Viehverlust, der für den Einzelnen als Zufall auftritt, wird für die Gesellschaft im Ganzen (abgesehen von Seuchen) zu einer regelmäßigen Erscheinung. Er wird deshalb in der kommunistischen Gesellschaft ohne jede Störung durch den Viehnachwuchs ersetzt werden.

Aber die kapitalistische Produktionsweise, die jeder regelnden gesellschaftlichen Kontrolle entbehrt, weiß für ähnliche Fälle nur einen Ausweg, die Versicherung. Was ist nun die Versicherung? Sie ist die Kapitalisierung im Voraus eines regelmäßig auftretenden gesellschaftlichen Schadens. Wodurch wird aber dieses Kapital aufgebracht? Durch Beiträge der Beteiligten. Die Entschädigung Einzelner ist hier also in demselben Umfange ein Verlust für alle Anderen.

Abweichend davon ist die deutsche so genannte Arbeiterversicherung. Ihr Wesen besteht darin, dass das Unternehmertum und der Staat zu Beiträgen gezwungen werden. Sie ist erstens eine Steuer auf die Kapitalisten zu Gunsten der Arbeiter, zweitens eine Staatsausgabe zu kulturellen Zwecken (wie z.B. die Schulausgaben) und erst in dritter Linie eine Versicherung. Außer diesem allem ist sie auch eine Organisierung der Krankenpflege, was mit einer Versicherung ebenso wenig zu tun hat wie z.B. ein Spital. Man sieht, wie lächerlich es wäre, die Viehversicherung mit der Arbeiterversicherung zu vergleichen.

Weil nun die Versicherung Entschädigungen der Einen durch Verluste aller Anderen aufbringt, so hat sie ihre Grenze in der Möglichkeit der letzteren, diese Verluste zu ertragen. Andererseits aber ist sie, wie erwähnt, eine Kapitalisierung, und da in der kapitalistischen Gesellschaft Alles in Ware, und jede Ware in Geld verwandelbar, so kann auch alles kapitalisiert werden. Deshalb kann auch die Versicherung auf Alles ausgedehnt werden, nicht aber auf Alle, sondern nur auf die Zahlungsfähige; sie hat nur eine quantitative und keine qualitative Grenze. Das bildet einen Widerspruch, der desto eher zum Ausdruck kommt, je mehr sich die Versicherung an ausgebeutete und verarmte Volksschichten wendet.

Wir haben nun beim Bauerntum: die Brandversicherung, und zwar Immobiliar- und Mobiliarversicherung, die Hagelversicherung, die Viehversicherung. Aber die Reihe ist noch bei weitem nicht abgeschlossen. Warum nicht auch Versicherung gegen Überschwemmungen? oder gegen Missernten? Warum nicht den Bauer in die Lebensversicherung einschreiben? Wahrlich, das Leben des Bauern ist doch auch wirtschaftlich viel kostbarer als das Leben seines Viehes! Man könnte auch eine Versicherung gegen Subhastationen [Zwangsversteigerungen] einrichten. Eine Brautaussteuerversicherung gibt es ja schon. Und so ins Unendliche. Es können viele Versicherung aufgeführt werden, die mindestens die gleiche Existenzberechtigung haben wie die Viehversicherung. Aber wenn man den Bauer durch alle dies Versicherungen „schützt“, so bringt man ihn durch die Beträge rasch an den Bettelstab!

Das beweist, dass die Scheu des Bauern vor der Versicherung keineswegs bloß seiner „Borniertheit“ zuzuschreiben ist, wie es überhaupt gerade bei den am meisten instinktmäßig denkenden Volksschichten am nächsten liegen sollte, zur ökonomischen Erklärung ihrer politischen respektive sozialpolitischen Willensäußerungen zu greifen. Die quantitative Grenze der Versicherungsfähigkeit des Kleinbauern ist eben leicht erreichbar. Und ist sie erreicht, so mag die Versicherung noch so nützlich sein, er kann sie nicht annehmen.

Statt der vielen Versicherungen ist es praktischer eine einzelne zu schaffen, die alle anderen ersetzt, vielmehr unnötig macht. Das ist die Versicherung gegen Ausbeutung. Diese wird erreicht nicht durch Kapitalisierung, sondern durch Abschaffung des Kapitals, d.h. Vergesellschaftung der Produktion.

Das wäre unseres Erachtens die entsprechende Antwort auf das Projekt der Viehversicherung gewesen.

Aber wie dachte die sozialdemokratische Landtagsfraktion?

Scherm begann: „Meine Herren! Unsere Stellung zu der Schaffung einer staatlich geleiteten Viehversicherung ist davon abhängig, wie das Gesetz in seinen Einzelheiten schließlich gestaltet werden wird. Was wir an der Vorlage prinzipiell auszusetzen haben, darauf werde ich später noch zu sprechen kommen.“ Nun folgte die besprochene Erklärung, um die allgemeine Stellung zu „präzisieren“. Dann hieß es, dass es vor allem darauf ankomme, den kleinen Viehbesitzern die Versicherungsmöglichkeit zu geben. Und weiter: „Meine Herren! Zum Gesetzentwurfe im Speziellen bemerke ich Folgendes: Wir stehen der Vorlage an und für sich freundlich gegenüber, bedauern jedoch lebhaft, dass man sich nicht entschließen konnte, die Versicherungspflicht in dem Gesetzentwurfe auszusprechen.“ Also soviel Gefallen hat die sozialdemokratische Landtagsfraktion an der famosen Versicherungsvorlage, dass sie diese Versicherung obligatorisch machen will. Aber aus welchen Gründen? Man höre!

Wir wissen aus Erfahrung, dass die Gleichgültigkeit in verschiedenen Kreisen so groß ist, dass sie den Nutzen und die Vorteile einer solchen Versicherung nicht einzusehen vermögen. Ich scheue mich daher nicht, es auszusprechen, dass die Menschen, wo es Not tut, zum Guten einfach gezwungen werden müssen.“

Nicht wahr, ein vortreffliches Agitationsmittel unter den Bauern, sie „zum Guten, das heißt zum Zahlen, zu zwingen“?

Vor allem aber, wem wird hier die Zwangsmacht gegeben? Dem bayerischen bürokratisch-kapitalistischen Staat, in dem das schwärzeste Zentrum, hasserfüllt gegen jede Kulturbewegung, herrscht! Wohlan, wenn jetzt das Zentrum ein neues klerikales Umsturzgesetz gegen Wissenschaft, Literatur und Arbeiterbewegung wird schaffen wollen, so wird es sich auf die sozialdemokratische Fraktion im bayerischen Landtag berufen, die ihm die Befugnis erteilt hat, „zum Guten zu zwingen“. Dahin führt das praktische Zusammenwirken mit dem kapitalistischen Staat!

Scherm verwies ferner darauf, dass die Organisation allgemeiner gefasst werden muss, dass die Verteilung des Risikos zwischen Landesverband und Ortsversicherung keine zweckentsprechende ist und dass es nicht angeht, den Kontrollausschuss durch die Landräte wählen zu lassen. Schließlich verbreitete er sich noch darüber, dass, da die Viehversicherung der Brandversicherungskammer zugeteilt wird, der Name dieser letzteren einfach in Versicherungskammer geändert werden soll.

Wir wissen nicht, was wir zuerst fragen sollen: wo ist hier der Sozialismus oder wo die Demokratie? Denn wir finden keine Spur von beiden. Wir finden aber nicht einmal Rücksichten auf die Bauernagitation. Denn es wird ausdrücklich anerkannt, dass die Bauern gegen die Versicherung sind! Deshalb wird ja der Zwang gefordert.

Was finden wir also? Die Weisheit des grünen Tisches und der Verzicht auf jede einschneidende Kritik, auf jede entschiedene Stellungnahme, eine Verwischung der Gegensätze, des Klassenkampfes.

Um eine solche Stellung einzunehmen, war es allerdings notwendig, sich zuerst von dem Breslauer Agrarbeschluss loszusagen.

Wir brauchen kaum noch die Unterscheidungslinie ziehen zwischen dieser und unserer Stellungnahme. Auf eins nur wollen wir an dieser Stelle zurückkommen.

Es ist in und nach Breslau gedroht worden: in den Landtagen werde der Agrarbeschluss in die Brüche gehen. Die Tätigkeit in den Landtagen sollte der Prüfstein sein für dessen praktische Anwendbarkeit. Und an der bayerischen Rindviehversicherung hat man uns zeigen wollen, dass mit dem Breslauer Beschluss durchaus nicht auszukommen sei.

Wir haben die Herausforderung akzeptiert. An der Hand der Landtagsagitation und speziell der bayerischen Viehversicherung sollte der Wert der Agrarresolution geprüft werden.

Und was ist nun das Ergebnis? Abgesehen von dem prinzipiellen Gesichtspunkt, welche Taktik ist die agitatorisch wirksamere?

Ist es jene, die die Nichtigkeit der ganzen Maßregel aufdeckt, das heuchlerische Gebaren der Regierung und der bürgerlichen Parteien kennzeichnet, eine scharfe Scheidelinie zieht zwischen ihnen und der Sozialdemokratie und bei alledem sich im vollen Einverständnis befindet mit der Aufnahme, die dieses Projekt unter der Bauernmasse gefunden hat?

Oder ist es die andere Taktik, die sich auf den gleichen Boden begibt wie die Regierung und das Bürgertum, diesen freundlich zulächelt, sich mit ihnen im Allgemeinen einverstanden erklärt, sich von dem Parteitag lossagt, einen Bund schließen will mit der Regierung und den Parteien, um dem Bauerntum einen Zwang aufzuerlegen, die nur einige Kleinigkeiten an der Vorlage auszusetzen hat und sich durchaus in einen Gegensatz zu dem Bauerntum verrennt?

Die bürgerlichen Vertreter haben selbstverständlich nicht verfehlt, die Regierung bei Gelegenheit dieser Viehversicherungsvorlage wegen ihrer Bauernfreundlichkeit zu belobhudeln. Und siehe, die Rede des Sozialdemokraten Scherm bildete diesmal auch keinen Misston in dieser allgemeinen Harmonie. So verhalf die sozialdemokratische Landtagsfraktion einer Regierung, die sich soeben erst bei Fuchsmühl bis auf die Knochen blamiert, zu einer teilweisen Rehabilitation!

Es fällt uns nicht ein, deshalb über die Tätigkeit dieser fünf sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten im Allgemeinen den Stab zu brechen. Im Gegenteil, die Tätigkeit, die sie im Allgemeinen entfaltet haben, erweckt mit Recht Anerkennung und Bewunderung. Sie sitzen den bürgerlichen Parteien und der Regierung beständig im Nacken und soeben erst haben sie bei den Fuchsmühler Verhandlungen und bei den Verhandlungen über das allgemeine Wahlrecht den Beweis davon gegeben. Aber sie feiern ihre Triumphe nur, so lange sie auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes bleiben. Verlassen sie diesen Boden und greifen sie zur „praktischen“ Mittätigkeit, wie es soeben bei der Viehversicherung der Fall war, so gleiten sie sofort aus. Und da ihre Stellungnahme zu der Bauernagitation auf durchaus falschen Voraussetzungen beruht, so wird ihnen das noch öfters passieren. So sind ihre Erfolge und Misserfolge der beste Beweis für die Richtigkeit des vom Breslauer Parteitag zu der Bauernagitation angenommenen Standpunkts.

1 Seitdem dies geschrieben, hat bereits die „Leipziger Volkszeitung“ ihre Stellung zum Breslauer Beschluss geändert. Welcher Art ihr jetziger Standpunkt, ist aber noch schwer zu bestimmen. Eins wollen wir bei dieser Gelegenheit all den betrübten Seelen, die sich nach Breslau in düsteren Redensarten über die Vergänglichkeit alles Irdischen ergehen, sagen: Wollt Ihr den Breslauer Beschluss umstoßen, so müsst Ihr Euch schon bestimmt und klar darüber aussprechen, womit Ihr ihn ersetzen wollt. Dann nehmt gefälligst den soeben abgelehnten Programmentwurf wieder auf und verteidigt ihn Punkt für Punkt. Wisst Ihr aber nicht, wodurch Ihr den Breslauer Beschluss ersetzen sollt, wie hofft Ihr ihn dann umzuwerfen? Auf Eure allgemeine Lamentationen ist, beim besten Willen, Achselzucken die einzige Antwort. Der Beschluss des Breslauer Parteitags steht fest. Eine Gewähr dafür ist nicht nur die Dreiviertel-Majorität des Parteitags, sondern nicht zum Geringsten die Tatsache, dass seine Gegner selbst davor zurückschrecken, den verworfenen Programmentwurf wieder aufnehmen.

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