Parvus 19010814 Der Opportunismus in der Praxis

Parvus: Der Opportunismus in der Praxis (1901)

[Neue Zeit, 19. Jahrgang 1900-1901, II. Band, Nr. 46, 47, 48, 50, 51, S. 609-615, 659-663, 673-684, 740-748, 786-794]

1. Der Opportunismus und die sozialrevolutionäre Entwicklung

Das beweist wieder einmal, von welch unheilbarer Unbeständigkeit jener schreckliche Despot der guten Gesell­schaft ist: die öffentliche Meinung der Mittelklasse, und rechtfertigt wieder ein­mal die Verachtung, die wir Sozialisten einer vergangenen Generation stets für diese öffentliche Meinung hegten.”

Fried­rich Engels

Kein Zweifel mehr, wir haben jetzt in Deutschland einen vollkommenen, aus­gewachsenen Opportunismus. Es gab eine Zeit — es ist noch nicht lange her, die jüngsten in der Partei können sich ih­rer erinnern — da die deutsche Sozialde­mokratie als immun gegen den Opportu­nismus galt. Während jener Zeit genügte es, den opportunistischen Charakter einer politischen Handlung nachzuweisen, um sie innerhalb der Partei unmöglich zu ma­chen. Denn dass die Partei nicht opportu­nistisch sein darf, nicht opportunistisch sein kann, das galt als Axiom. Wer etwa noch vor zwei oder drei Jahren gegen eine Parteigröße den Vorwurf des Op­portunismus zu erheben wagte, wurde als Schwarzseher verschrien und musste sich in Acht nehmen, um nicht als Krakeeler, wegen „persönlicher Verunglimpfung” aus der Partei hinausgeschmissen zu werden.

Nunmehr scheut man weder das Wort noch den Inhalt des Opportunismus. Poli­tische Modefexe — es gibt solche auch innerhalb unserer Partei — prahlen mit ihrem Opportunismus und tragen ihn auf allen Märkten zur Schau. Dagegen hat der Revolutionismus in den Augen dieser Po­litiker vom allerneuesten Schnitte ent­schieden etwas Altväterliches, Provinzle­risches, wie die langen Röcke und die unförmigen Zylinder von Anno 1848. Kurz, der Opportunist ist da und freut sich sei­nes Daseins. Und seine Existenz dient ihm als Hauptargument seiner Daseinsbe­rechtigung und seines Wertes. Er erklärt: „Bin ich nicht wiederholt verleugnet, wi­derlegt und sonst vernichtet worden? War nicht schon oft alle Welt überzeugt, dass, nachdem meine Geistesarmut, meine Ig­noranz und meine Zitatenfälschungen so schonungslos und mit so viel Recht auf­gedeckt wurden, ich nicht mehr werde aufkommen können? Aber ich komme immer wieder und werde nur noch unver­schämter. Liegt nicht darin der Beweis, dass ich das naturnotwendige Produkt ei­ner geschichtlichen Entwicklung bin? Wo bleibt da die sozialrevolutionäre Erkennt­nis?”

Die Entwicklung der Sozialdemokratie kann nicht losgelöst werden von der all­gemeinen politischen Entwicklung der ka­pitalistischen Welt. Die sozialrevolutionäre Aktivität des Proletariats ist nicht gleich­wertig mit seiner sozialrevolutionären Er­kenntnis. Und die sozialrevolutionäre Er­kenntnis ist nicht einfach das Produkt der sozialrevolutionären Propaganda. Der Fleiß und die Zielklarheit unserer Agitation bestimmen allein noch bei Weitem nicht den sozialrevolutionären Effekt. Die gro­ßen Zusammenhänge des Weltmarktes, welche das Tempo der industriellen Ent­wicklung bestimmen, der periodische Wechsel von Aufschwung und Krisis, Stagnation der Bevölkerung auf dem Lande oder ihr Zusammendrängen in den Städten, Auswanderung, Entwicklung ka­pitalistischer Kolonien, die Entstehung neuer Industrieländer und der Untergang alter Wirtschaftsformen, die Bildung neuer Großstaaten und die Schwächung oder Zersplitterung alter, Krieg und Frieden, der Nationalitätenkampf, der Kampf zwi­schen Kirche und Staat, das alles sind Momente, die einen gewaltigen Einfluss auf die sozialrevolutionäre Aktivität des Proletariats ausüben. Wie in der ökono­mischen und politischen Entwicklung des Kapitals, so gibt es auch im Emanzipati­onskampf des Proletariats Perioden einer potenzierten und einer verlangsamten Entwicklung, Zeiten eines begeisterten Stürmens und Drängens, da die Arbeiter­klasse durch die mutige Entschlossenheit ihres Auftretens und die Kühnheit ihrer Pläne die Welt in Staunen setzt, Zeiten der Depression, da sie unschlüssig, zag­haft wird und ihre weltbewegende Kraft in Kleinigkeiten zu verausgaben scheint.

Nach dem großen geschichtlichen Stür­men der achtundvierziger Revolution, das die Regierungen stürzte und die kapitalis­tische Welt beinahe aus den Angeln hob, trat eine starke Depression ein, in den sechziger Jahren ein neuer Aufschwung, der in der Internationale, der Kommune und den großangelegten politischen Or­ganisationen der deutschen Arbeiter sei­nen Ausdruck fand, nach den Ereignissen von 1870/71 abermals in Rückschlag, der begreiflicher Weise in Frankreich am längsten dauerte, und dann ein neuer Aufschwung. Diese letzte Periode ist ge­kennzeichnet durch die Sammlung des Proletariats zu großen parlamentarischen Parteien. Vor allem in Deutschland, wo unter der raschen Entwicklung zum kapi­talistischen Großstaat Massen von Fab­rikarbeitern sich sammelten, ganze Ge­werbezweige revolutioniert wurden, wie die Schneiderei durch die Konfektion, die Schuhmacherei durch die Schuhfabriken, da mit dem Wachstum der Großstädte eine moderne Bauarbeiterschaft entstand, die ganz anders war als die Maurer und Tischler der Kleinstädte, überall sich ein neues politisches und kulturelles Leben regte, in welches die Sozialdemokratie fertige Organisationen und ein zielklares Programm hineinbrachte; während die Bourgeoisie, die nichts hinter sich hatte als die politische Tradition der Halbheit, der Schwäche, der Feigheit, des Verrats, Bismarck zu Füßen kroch, weil dieser Hausknecht des Hauses Hohenzollern ihr die deutsche Einheit, die sie nicht zu er­ringen wusste, als Gnadengeschenk des Königs von Preußen zuwarf, und der Ei­serne selbst sich in einen ebenso törich­ten wie, bei aller Brutalität, unentschlos­senen Streit mit dem katholischen Klerus verwickelte, der mächtig wachsenden jun­gen Sozialdemokratie aber durch das So­zialistengesetz Klassenbewusstsein und Zusammenhalt einpaukte! Aber auch in Frankreich, Österreich, Italien, Belgien, Holland, der Schweiz, Dänemark, Schwe­den-Norwegen, Spanien.

Ihren höchsten Glanzpunkt hat diese neue Aufschwungsperiode des sozialre­volutionären Kampfes vorläufig 1889 in Paris erreicht. Zwar sind seitdem die Or­ganisationen gewaltig erstarkt, doch ist eine solche Energie der revolutionären Initiative, wie auf dem ersten internatio­nalen sozialistischen Arbeiterkongress, dessen Zusammenberufung schon selbst eine gewaltige Leistung war, nicht mehr erreicht worden. Etliche Jahre hielt sich die Bewegung auf der gleichen Höhe, dann trat die Verflauung ein, innerhalb der wir uns jetzt befinden. Das Wachstum der Organisationen dauert fort, aber die Oberfläche der großen geschichtlichen Strömung ist nicht mehr so einheitlich, wir sehen Neben- und Querströmungen, die sich in dünnen Fäden hinschlängelnd, auch finden wir Öl auf den Wogen. Die Erscheinung lässt sich durch mannigfal­tige, positive und negative Gründe erklä­ren.

Die parlamentarische Sammlung war zu­nächst agitatorischer Selbstzweck. Aber auf die Dauer konnte der Parlamentaris­mus nicht reines agitationsmittel bleiben. Mit dem Wachstum des parlamentari­schen Wertes der Partei stellte sich das Bestreben ein, unmittelbare parlamentari­sche Erfolge zu erzielen. Als kleine und schwache parlamentarische Partei setzte die Sozialdemokratie manches auf das Konto des Klassencharakter des Staates, was nur das Ergebnis ihrer Schwäche war. Wenn dann die erstarkte Partei doch mancherlei im Parlament zu erreichen vermag, so spiegelt es sich im Kopfe das Parlamentariers leicht als Widerspruch zu der grundsätzlichen Bekämpfung des ka­pitalistischen Staates wider. Zugleich wird die politische Tätigkeit der Sozialdemo­kratie immer mannigfaltiger, reichhaltiger, geht massenhaft in die Details. Die politi­sche Kleinarbeit des Tages ist nicht nur unvermeidlich, sie ist in ihrer Gesamtheit eminent revolutionär, aber Mancher, der sich auf eine Detailarbeit konzentriert, verliert die großen Zusammenhänge aus den Augen. Überhaupt kann man von ei­ner geschichtlichen Bewegung wie jene des Proletariats, deren zahlreiche politi­sche Erscheinungsformen das gesamte öffentliche Leben zu erfassen sich an­schicken, nicht erwarten, dass sie in jeder Einzelheit ihren Grundcharakter offen zur Schau tragen wird. Je gewaltiger die sozi­alrevolutionäre Bewegung wird, desto leichter kann es in den Details Abwei­chungen und Störungen geben, desto schwieriger ist es überhaupt, aus den Details den Grundcharakter der Bewe­gung zu erkennen, desto mehr muss man auf den Massenzusammenhang die Auf­merksamkeit richten. Also, der Parla­mentarismus stellt der Sozialdemokratie viele kleine praktische Aufgaben, die leicht von dem Wege der grundsätzlichen Bekämpfung des kapitalistischen Staates ablenken, noch leichter den Beobachter irreführen.

Andererseits kann der ungemein schmerzhafte Prozess der Revolutionie­rung des Handwerkes, der zahlreich ver­zweifelte Existenzen in die Reihen der Sozialdemokratie brachte, nunmehr auch für das westeuropäische Festland im We­sentlichen als beendet gelten. Der rui­nierte Handwerker findet schon in einer allgemeinen Kritik der kapitalistischen Zu­stände eine Genugtuung, einen morali­schen Halt. Dem Industriearbeiter genügt das nicht. Er will vor allem aus seinem Elend heraus. Er will Änderungen, große, umwälzende, wenn möglich, kleine Ände­rungen, wenn es nicht anders geht. Ich kann mich hier nicht dabei aufhalten, wie das zu lösen ist, ich konstatiere bloß, dass daraus ebenfalls das Verlangen nach „positiver” Tätigkeit entspringt. Schließlich ist in der Staatspolitik gegen­über der Sozialdemokratie eine wesentli­che Änderung eingetreten. Man darf an­nehmen, dass im Allgemeinen die Epoche der politischen Entrechtung und Bevor­mundung des Proletariats vorbei ist. Ich will durchaus nicht behaupten, dass der kapitalistische Staat auf Anwendung von Gewalt gegen die Sozialdemokratie ver­zichtet hat, ganz und gar nicht, aber von der Nutzlosigkeit kleinlicher Polizeiarbeit hat er sich überzeugt. In diesem Augen­blick ist er, nach den vielen Niederlagen im Kampf gegen die Sozialdemokratie, besorgt, mit dieser ein parlamentarisches Auskommen zu schaffen. Das ist nicht nur in Frankreich der Fall, wo ein förmliches Ministerium des „sozialen Friedens” ge­schaffen wurde, sondern auch in Deutschland, in Österreich, seit jüngster Zeit in Italien. Diese Taktik wird noch durch den Umstand begünstigt, dass die Kolonialpolitik und die äußere Politik in den letzten Jahren für die kapitalistischen Staaten eine Bedeutung erlangt haben, wie schon lange nicht mehr; dadurch wird die Aufmerksamkeit der Regierungen von der inneren Politik abgelenkt und das Verlangen wird wach nach dem Frieden im Inneren, um freie Hand zu haben zum Unfrieden im Äußeren. Auch dieses Nachlassen der politischen Reaktion wirkt beschwichtigend und erzeugt in den Köpfen desto üppigere Illusionen, je fetter vorher der Boden durch sozialreformeri­schen Mist gedüngt wurde.* Zur Förde­rung dieser Illusionen hat auch der indus­trielle Aufschwung der letzten Jahre sei­nen Teil beigetragen.

Alle diese Momente sind selbstverständ­lich nicht im Stande, den sozialrevolutio­nären Charakter des proletarischen Klas­senkampfes zu ändern, allein sie reichen vollkommen aus, um in den Köpfen etli­cher Parlamentarier, Advokaten und Journalisten jenen Ideenmischmasch zu erzeugen, welchen den Opportunismus charakterisiert. Das Ganze findet in den Hohlköpfen bürgerlicher Zeitungsmen­schen den nötigen Resonanzboden in der Öffentlichkeit.

Es lassen sich aber auch bereits deutlich genug die Anzeichen einer Entwicklung wahrnehmen, die zu einer neuen sozialre­volutionären Konzentration des Proletari­ats führen muss. Auf dem kapitalistischen Weltmarkt bereitete sich eine Verschie­bung des kommerziellen Schwergewich­tes vor. Alle Welt sieht, wie die Handels­macht Englands bedroht ist. Das kann nicht ohne Einfluss auf die Politik der eng­lischen Arbeiterklasse bleiben. Der engli­sche industrielle Liberalismus hat seit dem Falle der Korngesetze eine glän­zende Entwicklung durchgemacht, und es gelang ihm sogar, die Arbeiter vor seinen Triumphwagen zu spannen. Aber die gol­dene Zeit der englischen Handelssupre­matie ist vorbei, das englische Kapital wird auf dem Warenmarkt und auf dem Kolonialmarkt gewaltig bedrängt, die Ent­wicklung seines Exports und seiner In­dustrie hält langsam nicht mehr Schritt mit der kapitalistischen Entwicklung anderer Länder, was nun? „Was wird die Folge sein, wenn kontinentale und besonders amerikanische Waren in stets wachsen­der Masse hervorströmen, wenn der jetzt noch den englischen Fabriken zufallende Löwenanteil an der Versorgung der Welt von Jahr zu Jahr zusammenschrumpft? Antworte, Freihandel, du Universalmittel!”1 Auf diese Frage, die Friedrich Engels 1885 stellte, wird jetzt die Antwort in Strömen von Blut gegeben: Imperialis­mus. Der englische Imperialismus ist der letzte Verzweiflungsschritt des englischen Kapitals, um sich noch auf eine Zeit lang die Handelsherrschaft auf den Meeren zu sichern. Es kann keinem Zweifel mehr unterliegen, der Versuch scheiterte. Wie auch der südafrikanische Krieg formell enden mag so wird er nicht die erwartete Grundlage bieten zur Schaffung eines bri­tischen Welt-Imperiums, sondern er bildet die Ära einer beginnenden rückläufigen Entwicklung der englischen Weltmacht. Dem Kriege — einerlei ob sofort oder nach einem vorherigen Gründertaumel — wird eine furchtbare ökonomische und po­litische Liquidation nachfolgen.

Indessen zieht das Zarentum vor Aller Augen einen eisernen Halbring um die asiatische Machtsphäre Englands, der be­reits von Peking bis an den Persischen Golf reicht und zahlreiche Stützpunkte besitzt. Indessen bedrängt der deutsche und amerikanische Export die englische Industrie auf dem Weltmarkt. Seitdem Engels seine Worte schrieb, hat der eng­lische Liberalismus, die politische Vertre­tung des industriellen Kapitals, fortwäh­rend an Schwäche zugenommen. Er hat sich gespalten und spaltet sich immerfort. Er wagt es nicht, die volle Verantwortung für die Politik der Regierung auf sich zu nehmen, und wagt es nicht, ihr grund­sätzliche Opposition zu machen. So ereilt auch den englischen Liberalismus das Schicksal des bürgerlichen Liberalismus überhaupt: die politische Zerfahrenheit. Das macht die englischen Arbeiter frei und muss sie dazu bringen, eine eigene politische Partei zu bilden. Und je mehr der britische Staat sich gezwungen sehen wird, auf dem Wege des Militarismus fort­zuschreiten, je kritischer die Situation auf dem Weltmarkt wird, desto mehr steigen die Aussichten der englischen Sozialde­mokratie. „Jedes Jahr bringt England dichter vor die Frage: Entweder die Nation geht in die stücke oder die kapitalistische Produktion” (Fr. Engels)

Die Industriellen des Festlandes freuen sich über den sich vorbereitenden Nie­dergang Englands, denn sie hoffen, sich in die englische Erbschaft teilen zu kön­nen. Besonders das deutsche Kapital dünkt sich als den prädestinierten Nach­folger Englands in der Handelssuprema­tie. Verfehlte Spekulation! Der Streit ist viel allgemeiner, als zwischen zwei Indust­riestaaten. Es handelt sich um die Kon­kurrenz ganzer Weltteile. Die industrielle Zukunft gehört Amerika und Russland. Diese Länder haben gegenüber dem alten Europa den Vorzug der geographischen Lage, der gewaltigen Ausdehnung, des Riesenmaßstabs, in dem sich dort die In­dustrie von vornherein entwickelt, der po­litischen Einheit. Diese Konkurrenz be­droht, ebenso gut wie England auch Deutschland und Frankreich. Nur die Staaten des Mittelländischen Meeres werden wegen ihrer Nähe zu den sich bil­denden neuen Weltmachtzentren im Stil­len Ozean und ihres Reichtums an Was­serkräften, deren Ausnützung zu elektri­scher Krafterzeugung eine große Rolle in der Entwicklung der modernen Industrie spielt, der amerikanischen und russischen Konkurrenz Paroli bieten können. Verge­bens wirft Deutschland seine Kriegsmacht in die Waagschale; es macht dadurch die Entfernungen des Weltmarktes nicht klei­ner und die industriellen Potenzen Euro­pas nicht größer. Der deutsche Imperia­lismus hat bis jetzt vorzüglich die Ge­schäfte der Sozialdemokratie besorgt. Und so wird es auch weiter sein, sofern nicht der Opportunismus die Politik der Partei zu bestimmen haben wird.

Neben industriellen Konflikten stehen dem mit dem Fluche der geschichtlichen Tradi­tion beladenen, politisch zerklüfteten Eu­ropa politische Konflikte bevor. Es gibt politische Zeitpunkte, da die Entwicklung auf den verschiedenen Gebieten zu einer entscheidenden Wendung herangereift ist und so alles zusammen auf eine große Umwälzung hinwirkt. So hatten wir wäh­rend der Revolutionskämpfe von 1848 die Verquickung des Freiheitsgedankens mit der Idee der deutschen Einheit, der Eini­gung Italiens, der Selbständigmachung Ungarns. Auch jetzt befinden wir uns in einer Periode allgemeiner Unruhe. Die Orientfrage drängt zur Entscheidung, der österreichische Nationalitätenhader hat die Staatsmaschinerie lahmgelegt. Wer nicht von vornherein auf den Glauben verpflichtet ist, dass der österreichische Staat ewig dauern wird, der wird die bö­sen Zeichen der Zersetzung, deren Zeuge wir in den letzten Jahren waren, nicht kur­zerhand von sich weisen. Das politische System Europas, das die Nationalitäten hier zerreißt, dort bündelweise zusam­menpackt, ist wieder in Widerstreit gera­ten zu der geschichtlichen Tendenz der Bildung großer nationaler Verbände. Die ganze westeuropäische Kleinstaaterei wird angesichts der Bildung der gewalti­gen wirtschaftlichen Komplexe von Ame­rika und Russland immer mehr ein Hin­dernis der ökonomischen bzw. der kapita­listischen Entwicklung. Die Bildung eines vereinigten Europas wird zu einem immer dringenderen Erfordernis des kapitalisti­schen Weltmarktes. Ein vereinigtes Eu­ropa ist aber nur denkbar als republikani­sches Europa. Und während dieses in Westeuropa vor sich geht, zeigt sich das zarische Russland immer weniger im Stande, die durch die kapitalistische Ent­wicklung ausgelösten Kräfte zu bannen, erhebt das junge Proletariat kühn sein Haupt, — schließt trotz Knute und Ver­bannung — immer enger die Reihen und umlagert in immer dichteren Scharen den Zarenthron.

Wie man sieht, braucht man nicht erst an die soziale Revolution zu denken, um der Meinung zu sein, dass die politische Ent­wicklung Europas nicht gerade glatt und friedlich verlaufen wird. Ich glaube auch, dass Mancher, der — auf dem Papier — so ganz leise, ganz unmerklich den Kapi­talismus in den Sozialismus verwandelt, vor der geschichtlich gewiss minderwerti­gen Aufgabe, wie man das Haus Habs­burg und das Haus Savoyen und noch ein Schock politischer Formen von Gottes Gnaden schmerzlos ineinander ver­schmilzt und zur Bürgervertretung macht, stutzig werden wird. Mag nun aber die po­litische Entwicklung Europas mehr oder weniger stürmisch vor sich gehen, ihr Ein­fluss auf die sozialrevolutionäre Konzent­ration des Proletariats kann nach den ge­samten Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts keinem Zweifel unterliegen. Diese Konzentration wird um so leichter vor sich gehen, als die parlamentarische Sammlung des Proletariats, die ununter­brochen fortschreitet, Organisationen ge­schaffen hat, deren grandiose Dimensio­nen nicht nur alle früheren Organisations­versuche des Proletariats tief in den Schatten stellen, sondern überhaupt ein­zig sind in der parlamentarischen Ge­schichte Europas. Zugleich findet seit ei­niger Zeit in der Industrie ein beschleu­nigter kapitalistischer Expropriationspro­zess statt, der das kapitalistische Mittelgut bei Seite wirft und gewaltige Konglome­ratikonen schafft, Riesenkartelle, die in dem gleichen Maße, in welchem sie die Produktion konzentrieren, auch den Klas­senkampf der Arbeiter konzentrieren und die Eigentumsfrage auf das einfache Problem reduzieren: Monopol einer kapi­talistischen Vereinigung oder Kollektivis­mus! Und zu gleicher Zeit wiederum voll­zieht sich unter der Entwicklung der Elekt­rotechnik eine grundlegende Umwälzung der gesamten industriellen Produktionstä­tigkeit.

Die kapitalistische Entwicklung geht viel rascher vor sich als die Entwicklung der sogenannten „öffentlichen Meinung”; sie ist den Ideen, welche in der Presse und in den Parlamenten den Ton angeben, im­mer um ein Bedeutendes voraus. Kaum haben sich die bürgerlichen Ideologen mit ihren Doktrinchen und ihrem Wunschzet­telein auf eine ruhige, langsame, gelinde kapitalistische Entwicklung eingerichtet, da sprudelt sie stürmisch hervor, über­stürzt sich und tut überhaupt so, als ob sie es extra darauf abgesehen hat, ihre wohlmeinenden Freunde zu prellen. Der Einfluss dieser stets mit Sack und Pack nachhinkenden bürgerlichen öffentlichen Meinung reicht bis in die Reihen der Sozi­aldemokratie. Wollte man über den politi­schen Charakter des proletarischen Klas­senkampfs nach den Tagesansichten ur­teilen, die innerhalb der Arbeiterparteien sich breit machen, so könnte man aller­dings mitunter sehr missgestimmt werden. Allein der sozialrevolutionäre Charakter der Arbeiterbewegung gründet in den Tat­sachen, nicht in den Ansichten, welche Dieser oder Jener unter Denen, die jewei­lig innerhalb der Sozialdemokratie das große Wort führen, sich über den Cha­rakter des proletarischen Klassenkampfes machen. Es wird immer gewisse Pechvö­gel innerhalb der Partei geben, an welche die sozialrevolutionäre Erkenntnis meis­tens von außen herantritt, in Gestalt der literarischen oder politischen Prügel, die sie erhalten. Sieht man sich von diesem Gesichtspunkt die Entwicklung an, so wird man zugeben, dass die deutsche Sozial­demokratie auch in den letzten Jahren eine sehr bedeutende Quantität sozialre­volutionäre Erkenntnis zu Tage förderte. Denn stets und überall, wo sich opportu­nistische Anwandlungen zeigten, da kam auch gleich die sozialrevolutionäre Er­kenntnis hinterher. Auf Schritt und Tritt verfolgte die sozialrevolutionäre Erkennt­nis den Opportunismus und oft zog sie ihn erst aus dem dunklen Versteck heraus. Die uns von Marx und Engels überlieferte geschichtliche Methode gibt uns die Mög­lichkeit, Irrtümer und Fehltritte in der Poli­tik des Proletariats in ihrem Ursprung und ihren Konsequenzen zu erkennen. So beugen wir Enttäuschungen vor, helfen Störungen zu beseitigen, und suchen die angesammelte sozialrevolutionäre Ener­gie so lange vor Verzettelungen zu be­wahren, bis unter dem Drucke der Ver­hältnisse eine neue sozialrevolutionäre Konzentration des Proletariats stattfindet.

Der Opportunismus selbst kann es aber gar nicht einmal erwarten, bis er von der fortschreitenden Entwicklung wegge­schwemmt wird, sondern er bemüht sich aus Leibeskräften, sich früher schon durch die Praxis ad absurdum zu führen. Ihm dabei ein bisschen theoretisch behilf­lich zu sein, ist der eigentliche Zweck die­ser Arbeit.

Sehen wir zu, wie der Opportunismus sich in der Praxis geäußert hat, was er geleis­tet hat, zu welchen Erwartungen und Hoffnungen er berechtigt. Und ziehen wir die Konsequenzen!

2. Der Opportunismus und die Doktrin

Seitdem innerhalb der deutschen Sozial­demokratie sich ein Opportunismus regt, hat er nicht aufgehört, sich darüber zu be­klagen, dass er missverstanden werde. Vollmars Eldoradoreden 1891 wurden missverstanden, seine Äußerungen zum Staatssozialismus 1892 wurden missver­standen, die Zustimmung der bayerischen Landtagsfraktion zum Budget wurde missverstanden, die Idee der bäuerlichen „Selbstwirtschafter” des süddeutschen Agrarprogrammentwurfs wurde missver­standen, Schippels Stellung zum Milita­rismus auf dem Hamburger Parteitag wurde missverstanden, Heines Kompro­misspolitik wurde missverstanden, schließlich Bernsteins Revisionismus wurde erst von meiner Wenigkeit miss­verstanden, dann folgerichtig von Jedem, der sich gegen ihn wandte, bis auf K. Kautsky, den nächsten Freund Bern­steins, der durch einen zwanzigjährigen Ideenverkehr mit ihm verbunden war! Die Fähigkeit, missverstanden werden zu können, ist die stärkste geistige Waffe des Opportunismus. Es gibt Politiker, die beim besten Willen es niemals zu einem Missverständnis bringen können, eher werden sie viel zu deutlich, ziehen im Ein­zelfall zu schroff die Konsequenzen und büßen durch einen eklatanten Wider­spruch, in den sie unbesehen geraten. Ein Widerspruch, der einem kühnen und ge­raden Streben nach Wahrheit und Klarheit entspringt, ist doch wohl ehrender, als jene geistige Anpassungsfähigkeit, die stets zwei halbe Wahrheiten im Munde führt, die nicht zusammenpassen, weil sie verschiedenen Ganzen angehören; aber der Widerspruch sticht in die Augen, die Halbheit ist allgemeingefällig.

Das Missverstandenwerden liegt im We­sen des Opportunismus. Wird er doch zu­nächst von sich selbst am meisten miss­verstanden. Er bedarf der fremden Nach­hilfe, um die Konsequenzen seines eige­nen Tuns zu ziehen, einer längeren Ent­wicklung, um sich selbst zu erkennen. Bei seinem ersten Auftreten ist er nur eine Abstufung, eine Schattierung, ein Fett­fleck; und so sehr er sich auswächst, wird er nie zu einem System, einer Doktrin oder auch nur einem Grundsatz, er bleibt formlos, gallertenartig. Darum ist ihm nichts so im Innersten der Seele zuwider als eine ausgeprägte Form — eine „Dokt­rin”, ein „Dogma”. Zugleich aber bereitet es ihm auch gar keine Schwierigkeiten, wenn er angegriffen wird, sich zum Dogma zu bekennen.

Darum war es auch noch stets unmöglich, den Opportunismus durch eine Resolution zu fassen. Als Bebel in Erfurt [1891] seine Resolution beantragte, war der Parteitag überzeugt, dass Vollmar nach seiner gan­zen Stellungnahme gewisse Änderungen und Zusätze beantragen müsste — fiel ihm aber gar nicht ein, er stellte sich viel­mehr ohne Weiteres auf den Boden der Resolution. Ja, er erklärte in seiner Schlussrede, er wolle überhaupt keine Änderung der Parteitaktik, er wolle die Taktik wie sie ist. So unterschreibt jetzt auch Bernstein alle Resolutionen. Und in­dem er einen erbosten Kampf gegen die gesamte wissenschaftliche und politische Tätigkeit von Marx und Engels führt, er­klärt er, auf dem Boden der Ideen und der Tätigkeit dieser Männer zu stehen. Und obwohl zwischen ihm und der gesamten Politik wie geschichtlichen Tradition der Partei sich längst ein Abgrund gebildet hat, wiederholt er hartnäckig, die Partei stehe auf dem gleichen Boden mit ihm, freilich meistens ohne es zu merken, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Es muss darauf verzichtet werden, den Opportunismus in eine Formel zu fassen. Er eignet sich dazu ebenso wenig wie der Flugsand zum Meißeln. Dem Kritiker bleibt nichts übrig, als ihn in seinem Ur­sprung, seiner Entwicklung und seiner Zerfahrenheit dazustellen.

Im Ursprung aller opportunistischen Verir­rungen innerhalb der sozialistischen Ar­beiterbewegung finde ich einen gemein­samen Zug: die Unfähigkeit, die Gegen­wartsarbeit der Partei mit ihrem sozialre­volutionären Ziel zu einem organischen Gebilde zu verbinden. In ihren Augen spaltet sich das: hie „Endziel” — hie „Ge­genwartsarbeit”. Sie kennen höchstens einen Parallelismus: die Agitation für die soziale Revolution und die Tätigkeit in­nerhalb des kapitalistischen Staats. Dass unsere Gegenwartsarbeit bei all ihrer Mannigfaltigkeit, all ihrem „positiven”, praktischen Charakter durch und durch sozialrevolutionär sein kann, und zwar in dem alten, wahren Sinne des Wortes, wonach die soziale Revolution erst mit der Diktatur des Proletariats beginnt, das können sie nicht fassen. Dagegen ist ih­nen der reine Revolutionismus, der auf die Gegenwartsarbeit verzichtet, durchaus klar, ihn begreifen sie. So stellte Vollmar 1891 die sogenannten „Jungen” als Mus­ter der Konsequenz hin. Er charakteri­sierte ihren Standpunkt wie folgte: „Die heutigen gesellschaftlichen und politi­schen Zustände sind keinerlei Verbesse­rung fähig … Wir haben uns deshalb von jeder Anteilnahme an der praktischen Po­litik fernzuhalten, nur um zu protestieren und im Übrigen den Zeitpunkt abzuwar­ten, wo die Gewalt auf der Straße liegt, und wir dann das Ganze auf einen Schlag bekommen. Und dieser Zeitpunkt ist nahe; ja, es hängt nur von uns ab, ihn zu beschleunigen.” Und er fügte hinzu: „Die­ser Standpunkt ist ohne Zweifel ein klarer, ganzer.”

Dagegen erscheint ihm der Standpunkt von Bebel, Liebknecht und den anderen als die reinste Inkonsequenz. Er schreibt in den gleichen Artikeln der „Münchener Post” („Über Optimismus”, reproduziert in der Broschüre „Über die nächsten Aufga­ben der deutschen Sozialdemokratie”, Verlag M. Ernst): „Unserer ganzen Auffas­sung von dem allmählichen Hineinwach­sen in die neue Gesellschaft widerspricht es stracks, wenn ab und zu plötzlich wie­der Erklärungen gegeben werden, welche die Arbeit für die unmittelbaren Ziele als so gut wie wertlos erscheinen lassen. … Kürzlich ist in Berlin von einem hervorra­genden Parteigenossen in einer wohl­überlegten Programmrede gesagt worden: ‚Der Staat der herrschenden Klassen wird sich niemals zu mehr als zu unbedeuten­den Konzessionen herbeilassen.‘ Das könnte reicht wohl einer der ‚Jungen‘ zur Begründung seiner Forderung von der praktischen Politik und rein ‚prinzipieller‘ Agitation gesagt haben. In der Tat, wozu denn neun Zehntel unserer Tätigkeit auf eine Arbeit wenden, von der ‚niemals‘ mehr als ‚unbedeutende‘ Ergebnisse zu erwarten sind?” Man sieht, was Vollmar nicht begreift, ist der sozialrevolutionäre Agitationswert der parlamentarischen Ge­genwartsarbeit, der praktischen Politik, der dann erst recht verbleibt, wenn das Klasseninteresse oder auch nur der Klas­senegoismus der Machthaber die gesetz­geberische Verwirklichung der aufgestell­ten Forderungen verhindert. Das war es gerade, worauf später die Erfurter Reso­lution das Hautgewicht legte, was freilich Vollmar nicht verhinderte, ihr zuzustim­men.

Wer den Kampf um die soziale Revolution mit der politischen respektive parlamenta­rischen Tagesarbeit nicht zu verbinden versteht, dem wird in der Praxis bald die Gegenwartsarbeit der sozialrevolutionären Agitation im Wege stehen, bald diese der Gegenwartsarbeit. Er wird als vor ein Entweder-Oder geführt. Reiner Revolutio­narismus oder reiner Reformismus! Nun begreift man, warum in den opportunisti­schen Betrachtungen der Zeitpunkt der sozialen Revolution eine so gewichtige Rolle spielt. Ist die soziale Revolution nahe bevorstehend, dann sind sie ja vom heiklen Dilemma befreit, dann glauben sie, über sozialreformerische Möglichkei­ten sich nicht erst den Kopf zerbrechen zu müssen, und ergeben sich einem Ultra-Revolutionarismus. So meinte Vollmar gegenüber Bebel, der in der nächsten Zeit große soziale Umwälzungen erwartete: „Vermöchte ich jenen Glauben zu teilen, so würde mich keine agitatorische Rück­sicht dazu bewegen können, die politische Tagwerksarbeit weiter zu verrichten.” Das wäre nun freilich gerade der rechte Weg, die nahe Revolution um einiges hinauszu­schieben, doch das nebenbei. Ob das Proletariat in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren die Macht erlangt, der ka­pitalistischen Ausbeutung ein Ende zu setzen, ist eine Frage von großer kultu­reller Bedeutung, aber die sozialrevolutio­näre Politik ist nicht vom Datum der sozi­alen Revolution abhängig, sie ergibt sich aus der kapitalistischen Entwicklung, die, ob sie nun rascher oder langsamer fort­schreitet, die Arbeiterklasse in einen un­versöhnlichen sozialen Gegensatz zum Kapital bringt. Man hat sich gewundert, dass Vollmar, der erst viel eher bereit war, in seinem extremen Revolutionarismus über die Schnur zu hauen, so gemäßigt wurde. Wir wissen jetzt, dass gerade darin eine eigene Konsequenz liegt, die sich auch später an den „Jungen” von 1891 bewährte, die sämtlich, sofern sie überhaupt der Politik verblieben sind, sich vollmarisch gehäutet haben. Es ist klar, wer nur deshalb revolutionär ist, weil er die Revolution für morgen erwartet, wird übermorgen Reformist, wenn die Revolu­tion durch den Gang der Ereignisse bis Ende der Woche hinausgeschoben wird. Der Revolutionismus der „Jungen” war eben mehr Wunsch als Überzeugung, es fehlte ihm die sichere Einsicht in die sozi­alrevolutionäre Entwicklung, er war inner­lich ebenso hohl wie ihr jetziger Opportu­nismus. Marx und Engels aber haben ein halbes Jahrhundert für die soziale Revo­lution gekämpft, ohne auch nur einen Au­genblick wankelmütig zu werden, im Ge­genteil, mit steigender Zuversicht, denn sie hatten die geschichtliche Einsicht, die den Anderen fehlte; und auch August Be­bel ist deshalb um nichts anders gewor­den, weil bis zum Jahre 1898 noch keine großen politischen Veränderungen statt­fanden. Nicht um einen großen geschicht­lichen Tag, sondern um große geschicht­liche Ereignisse handelt es sich, deren Zeitpunkt in erster Linie nicht von unserer Voraussicht, sondern von der kapitalisti­schen Entwicklung abhängig ist.

Vollmar, der Bebel der Inkonsequenz zieh, weil dieser seinen Revolutionismus nicht bis zur totalen Aufgabe jeder „Tag­werksarbeit” trieb, versäumte es jedoch, selbst die Konsequenz seines Stand­punktes zu ziehen. Denn, wenn zwischen der sozialen Revolution und der „Tag­werksarbeit” ein derartiger Gegensatz klafft, dann müsste man, um sich der Tagwerksarbeit ungestört widmen zu kön­nen, die Idee der sozialen Revolution auf­geben. Das tat aber Vollmar nicht, son­dern er erklärte, er wolle bei der Tag­werksarbeit das Endziel „im Auge behal­ten”. Schon einen Schritt weiter ging Ed. Bernstein in seinem bekannten Aus­spruch: „Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung alles”. Aber das kennzeichnet gerade den Opportunismus, dass er den Widerspruch, in den er gerät, nicht zu lö­sen wagt. Wenn der Opportunist seine sozialreformerischen Konsequenzen zieht, hört er auf, zu existieren, dann wird er eben zum Sozialreformer, dann ist die Situation klar: mit dem reinen Reformis­mus würden wir ebenso schnell fertig, wie wir mit dem reinen Revolutionismus fertig geworden sind. Wie wir später sehen werden, läuft denn auch die Entwicklung des Opportunismus darauf hinaus, dass er vom Reformismus aufgesogen wird. Aber solange das Schlussergebnis nicht eingetreten, maskiert der Opportunismus seine eigene Entwicklung. So entstehen die Theorien vom allmählichen Hinein­wachsen in den Sozialismus, vom un­merklichen Abwürgen des Kapitalismus etc., die alle darauf hinauslaufen, dass der sozialen Revolution die soziale Re­form unterschoben wird. Sie glauben die Dinge zu ändern, wenn sie die Namen ändern. Da dies aber unmöglich, so ge­raten sie im Verlauf ihrer Entwicklung in einen immer schrofferen Gegensatz zu ih­rem Ausgangspunkt, bespötteln den Re­volutionismus, erklären erst den Sozialis­mus zu einer freien Wissenschaft, appel­lieren dann von der Wissenschaft zu der Relativität der menschlichen Erkenntnis, machen schließlich den Sozialismus zur Glaubenssache, zur Temperamentsfrage — und so, noch lange bevor der Kapita­lismus sich in Sozialismus verwandelt hat, verwandeln sich unsere Sozialisten, de­nen einst nicht revolutionär genug sein konnte, in bürgerliche Sozialreformer. Nicht den Kapitalismus, sondern ihre ei­gene politische Vergangenheit würgen sie unmerklich ab.

Statt den Widerspruch zu lösen, in den er selbst steckt, überträgt ihn der Opportu­nist auf die gesamte Partei. Er glaubt, wenn wir ihn bekämpfen, so setzen wir das Zukunftsideal der sozialen Revolution der Gegenwartsarbeit entgegen. In sol­cher Fassung aber existiert für uns das Problem gar nicht einmal, denn uns stört die sozialrevolutionäre Agitation in der Gegenwartsarbeit nicht, sie fördert sie vielmehr. Um die Gegenwartsarbeit selbst, aus der die Reformisten die sozial­revolutionäre Agitation eliminieren, han­delt es sich. Es handelt sich darum, ob unsere „Tagwerksarbeit” ausschließlich auf unmittelbare parlamentarische und gewerkschaftliche Erfolge gerichtet wer­den soll, oder diese selbst uns als Mittel zu einer höheren Einheit, der sozialrevo­lutionären Organisation des Proletariats, dienen sollen. Nicht darum handelt es sich, ob wir wählen sollen, ob wir parla­mentarische Erfolge erstreben sollen, ob wir bei alledem die Staatsmacht der Bourgeoisie überlassen, oder durch all das, geistig zusammengefasst in der so­zialrevolutionären Agitation, das Proleta­riat zur Eroberung der politischen Macht führen sollen, um den Staat, die Eigen­tumsform und die Produktionsweise in ih­ren Grundlagen zu ändern. Indem die Op­portunisten uns den Verzicht auf die Ge­genwartsarbeit oder ihre Missachtung vorwerfen, kämpfen sie nicht gegen uns, sondern gegen einen konstruierten Geg­ner. So hat Vollmar dem sozialrevolutio­nären Standpunkt von Bebel, Liebknecht, Singer etc. die Revolutionsmacherei der „Jungen” unterschoben. So richtet Ed. Bernstein seine Angriffe gegen einen Blanquismus, der der reinste Putschismus ist, wie er weder in Deutschland noch sonst wo existiert, und den er sich speziell zu polemischen Zwecken konstruiert hat. So bekämpft Jean Jaurès einen Intransi­geantismus, wie er auch in Frankreich längst aus der Mode gekommen ist, und statt der praktischen Tätigkeit der Parteien Rechnung zu tragen, welche dem franzö­sischen Proletariat die sozialrevolutionäre Tagwerksarbeit gelehrt haben, zeiht er sie des Widerspruchs, weil sie Gegenwarts­arbeit leisten, ohne ihre sozialrevolutionä­ren Grundsätze aufzugeben, desselben Widerspruchs, den Vollmar 1891 bei Be­bel und Liebknecht aufgedeckt zu haben glaubte.

Wer sich die Welt durch ein Prisma an­schaut, braucht sich nicht zu wundern, wen sie ihm in Regenbogenfarben schimmert und schillert. Das ist das Schicksal des Opportunismus. Er trägt den Widersprich in sich und kämpft nur gegen sein eigenes, umgekehrtes Spie­gelbild. Er bespiegelt sich im intransigen­ten Revolutionismus, wie dieser in ihm.

3. Die Taktik Vollmar


Wie nur dem Kopf nicht die Hoffnung schwin­det,

Der immerfort an schalem Zeuge klebt,

Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt,

Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.

Goethe, Faust.

Die geistige Zerfahrenheit des Opportu­nismus bedingt eine große Mannigfaltig­keit seiner Erscheinungsformen. Soweit er bis jetzt innerhalb der deutschen Sozial­demokratie zum Ausdruck kam, kann man immerhin vier Hauptlinien unterscheiden, um die sich die mehr oder weniger ver­wandten Geister gruppieren.

In erster Linie nenne ich das Vollmarsche Staatsmännertum. Ich verstehe darunter die gewiss nicht gering anzuschlagende Kunst der politischen bzw. parlamentari­schen Kombinationen. Es gehört dazu vor allem ein Scharfblick für die augenblickli­che Wechselwirkung der parlamentari­schen Parteien und die Politik der Regie­rung. Ein derartiger staatsmännischer Blick ist gewiss jedem Politiker von Nut­zen, auch dem sozialdemokratischen. Al­lein die Sozialdemokratie braucht mehr. Für sie als sozialrevolutionäre Partei ist die Entwicklung wichtiger als der augen­blickliche Gleichgewichtszustand der poli­tischen Parteien. Die Grundlage unseres ganzen Wirkens ist ja die ökonomische Entwicklung, welche die soziale Schich­tung revolutioniert, das Kräfteverhältnis der politischen Parteien ändert, die Politik der Regierungen umgestaltet und uns zur Herrschaft bringen muss. Die Sozialde­mokratie rechnet mit Faktoren, die der bürgerliche Staatsmann gar nicht kennt. Andererseits, wenn es auch gewiss töricht wäre, die Sonderinteressen der verschie­denen Schichten der Bourgeoisie, ihren Kampf untereinander und mit der Regie­rung zu ignorieren und alles in die unter­schiedslose „reaktionäre Masse” zu wer­fen, so haben wir es doch nichtsdestowe­niger noch jedes Mal, wenn das Proleta­riat einen großen politischen Vorstoß wagte, wahrnehmen müssen, dass die Bourgeoisie und die Regierung sich im Kampfe gegen die Arbeiterklasse zu­sammenfanden. Der universelle Charak­ter des proletarischen Klassenkampfes, der sich gegen die ganze Gesellschafts­ordnung samt ihrer Staatsform wendet, bedingt es selbst, dass auch auf der Ge­genseite, trotz aller Reibereien, schließ­lich das gemeinsame Klasseninteresse der Besitzenden zu Durchbruch kommt. Der Verrat der bürgerlichen Demokratie am Proletariat ist kein Zufall, er ist Ge­setz. Erst gibt sich dieses demokratische Bürgertum, unter Verkennung der Klas­sengegensätze, der Illusion hin, die Ar­beiterinteressen ebenso gut vertreten zu können wie jene „aller anderen Volks­schichten”, und als dann der Klassenge­gensatz — für die bürgerlichen Ideologen immer spontan, plötzlich, unerwartet — zum Durchbruch kommt, bleibt ihnen nichts übrig, als entweder ihrer eigenen Klasse untreu zu werden, oder die Inte­ressen des Proletariats preiszugeben.

Der Staatsmann innerhalb der Sozialde­mokratie neigt nun vor Allem leicht zu ei­ner Überschätzung der Bedeutung der augenblicklichen parlamentarischen Konstellation und einer Außerachtlassung der großen Entwicklungsgesetze. Er legt viel zu viel Gewicht auf die Intentionen der Regierung die Ansichten und Verspre­chungen der Parteien. Er überschätzt überhaupt die Bedeutung der Regierung (nicht zu verwechseln mit der Regie­rungsgewalt) und der parlamentarischen Mehrheit und übersieht gern, dass die Staatsgewalt, also Regierung, Parlament und die gesamte politische, inklusive mi­litärische Organisation des Landes, sich im Besitz der herrschenden Kapitalisten­klasse befindet. Er legt viel zu viel Ge­wicht auf die öffentliche Meinung, welche auf das Parlament und die Regierung ei­nen Einfluss übt, — viel zu wenig auf jene aus der sozialen Gliederung sich erge­benden Interessen, welche die öffentliche Meinung schnell und gründlich umstim­men, wenn das seichte Gewässer der Ta­gespolitik plötzlich durch die großen sozi­alen Unterströmungen in wilden Aufruhr versetzt wird. Und so muss denn unser Staatsmann immer wieder die Erfahrung machen, dass seine noch so fein gespon­nenen politischen Kombinationen durch ein von oben unerwartetes Aufeinander­platzen der Klassengegensätze über den Haufen geworfen werden. Betrübt, dann erbittert, sucht er den Grund seiner Miss­erfolge in der wenig überlegten Taktik An­derer, in dem Ungestüm, mit dem die Massen vordringen. Er versucht also, die sozialrevolutionäre Bewegung einzudäm­men, sie in ein ruhigeres Fahrwasser zu geleiten. Er predigt Besonnenheit, Mäßi­gung. Er glaubt, dadurch die Entwicklung zu sichern, das Proletariat in kleinen Etappen, von Erfolg zu Erfolg zum Ziele zu führen. Wenn man nur sich nicht über­stürzt, nur den gegebenen Verhältnissen Rechnung trägt, sich „erreichbare Ziel” stellt. Er ermahnt zur Selbstbeschrän­kung, fordert Entsagung. Und er übt vor Allem selbst Entsagung. In seiner Sehn­sucht nach „positiven” Leistungen, ge­ängstigt durch Misserfolge, reduziert er immer mehr seine Forderungen, um sich der augenblicklichen politischen Konstel­lation, der momentanen parlamentari­schen Mehrheit anzupassen Immer mehr „Selbstbeschränkung” legt er dem Prole­tariat auf, immer mehr Entgegenkommen zeigt er den bürgerlichen Parteien, und damit zugleich arbeitet er sich in eine im­mer größere Wut hinein gegenüber den revolutionären Stürmern, die ihn in sei­nem löblichen Tun stören.

Wird er durch theoretische Gründe be­drängt, so wendet er sich gegen die Theo­rie überhaupt. Er will nicht Sklave des Prinzips, der wissenschaftlichen Erkennt­nis sein. Ändert sich nicht die Wissen­schaft auch? Also gebrauchen wir die Wissenschaft, die uns behagt, und finden wir augenblicklich keine passende auf dem Markte, so warten wir ab, bis eine kommt.

Nach seiner Auffassung räumt man wis­senschaftliche Argumente nicht bloß da­durch aus dem Wege, dass man sie wi­derlegt, sondern man kann sie auch um­gehen, überspringen, kurz, sie ignorieren, sich durch sie nicht imponieren lassen. Was hat’s für unseren Staatsmann zu be­deuten, wenn er einer falschen Begrün­dung, einer Unkenntnis der Tatsachen, eines Widerspruchs, einer Inkonsequenz überführt wird? Nichts unter Menschen dauert ewig, alles gerät in Vergessenheit, und die Öffentlichkeit hat ein kurzes Ge­dächtnis. Noch mehr, die Öffentlichkeit hat stets Respekt vor Jemand, der sich nicht imponieren lässt. Zum Beispiel alle Welt mag einsehen dass in einem be­stimmten Falle unser weiser Staatsmann von einem bösen Kritiker, der vielleicht gar ein Gott weiß woher gelaufener Je­mand ist, der nicht einmal Sporen und Epauletten trägt, sehr übel zugerichtet worden ist, aber wenn er dabei ein klares Auge und eine ruhige Stirn behält, dann glaubt alle Welt, der Staatsmann müsse mehr wissen als die Übrigen alle, was ihm ein Überlegenheitsgefühl verschafft, da er in einem Falle, wo jeder andere sich ge­schunden fühlen müsste, keine Miene verzieht. Wenn das sich öfters wiederholt, dann braucht der weise Staatsmann nur gelegentlich einige weise Aussprüche in die Menge zu lancieren, wie zum Beispiel, dass jedes Ding seine Zeit habe, dass die hohlen Schwätzer doch nichts ausrichten, dass er keinen Geschmack finde an bo­denlosen Diskussionen, dass die Ent­wicklung der Tatsachen schon die Ideen beeinflussen werde u.a.m. und bald wird es auf allen Marktplätzen heißen: „der weise Staatsmann weiß etwas, was alle Welt nicht weiß, aber er schweigt, weil er weise die Gelegenheit zum Sprechen ab­warten will, aber wenn diese erst gekom­men sein wird, dann — ja dann!” … Viele wiederum staunen den Kaltmut des Staatsmannes an, ohne sich über das Wieso Gedanken zu machen. Ihnen ist es einfach ein blaues Wunder, wie so Man­ches in der Welt: Ali, der unverwundbare Araber, dem man eine Stricknadel durch die blutlosen Wangen ziehen kann, der Mann mit dem Steinkopf, an dessen Schädel man den härtesten Granit in Splitter schlagen kann u.a.m.

Die Charakteristik einer Taktik kann nie­mals identisch sein mit der Charakteristik einer Persönlichkeit. Die Dinge haben mehr Konsequenz als die Menschen. Ich bitte die Leser, dieses Korrektiv im Auge zu behalten. Andererseits nehme ich das Recht in Anspruch, aus jeder politischen Handlung, aus jeder in den Meinungs­streitigkeiten innerhalb der Partei öffent­lich kundgegebenen Stellungnahme un­geschminkt die äußersten Konsequenzen zu ziehen.

Der politische Grundfehler, den Vollmar schon in seinen Eldorado-Reden 1891 begangen hatte, war, dass er auf die ver­änderte Taktik der Regierung gegenüber der Sozialdemokratie ein viel zu großes Gewicht legte. Dass er der Regierung viel mehr guten Willen zutraute, als sie hatte, dass er den kaleidoskopartigen Farben­wechsel des neuen Kurses, die großen und kleinen Umsturzvorlagen nicht vo­raussah2, das war sogar noch das Ge­ringste; die Hauptsache war, dass er eine Änderung im Verhalten der Regierung für wichtig genug hielt, um daraufhin die ge­samte Parteitaktik einer Revision zu un­terwerfen. Das läuft darauf hinaus: ist die Regierung reaktionär, dann sind wir revo­lutionär, ist sie passabel, sind wir trakta­bel. Aber das Proletariat ist nicht deshalb revolutionär, weil es politisch verfolgt wird, sondern umgekehrt. Vollmar vergaß, dass die Regierung des kapitalistischen Staa­tes, was das Proletariat anbetrifft, selbst beim besten Willen nie etwas Anderes als ein Werkzeug in den Händen der Kapita­listenklasse sein kann. Dass die Sozial­demokratie revolutionär ist, hängt weder von der Regierung noch von uns ab, es ist das Ergebnis des Klassenkampfes inner­halb der kapitalistischen Gesellschaft. Die deutsche Sozialdemokratie war mit Recht stolz darauf, dass sie sich durch das So­zialistengesetz weder nach links noch nach rechts habe drängen lassen — wes­halb sollte nun der Fall des Sozialistenge­setzes eine Änderung der Parteitaktik be­wirken? Wiederum springt ein eigentümli­cher Zusammenhang in die Augen: Ge­rade Diejenigen, welche bei der Einfüh­rung des Sozialistengesetzes die Partei zu Extremen nach links haben treiben wollen, trieben sie nach dem Sturze des Sozialistengesetzes zu Extremen nach rechts. Der Fehler lag in beiden Fällen in einer Überschätzung des Einflusses der Regierungspolitik auf den proletarischen Klassenkampf. Die sozialrevolutionäre Bewegung bahnt sich selbst einen Weg, ungeachtet des Hasses oder des Wohl­wollens der Regierung.

Vollmar glaubte also, dass mit dem Falle des Sozialistengesetzes eine Ära politi­scher und sozialreformerischer Zuge­ständnisse seitens der Regierung begon­nen habe. Er beeilte sich deshalb, unsere nächsten Forderungen auf gesetzgeberi­schem Gebiet zu präzisieren, und riet der Partei, der Regierung ein politisches Ent­gegenkommen zu zeigen, um ihr die Ar­beit zu erleichtern, Man kann nun den Wert der deutschen sozialpolitischen Ge­setzgebung der letzten zehn Jahre ver­schieden hoch einschätzen, darüber aber gibt es keinen Zweifel, dass die neunziger Jahre in dieser Beziehung gar keinen Vergleich mit den achtziger Jahren aus­halten können. Solche kardinalen Maßre­geln wie die Durchführung der Fabrikge­setzgebung und der Arbeiterversicherung sind nicht mehr vorgenommen worden. Der sozialpolitische Eifer der Regierung ist also, gerade umgekehrt zu den Voll­marschen Erwartungen, nicht gestiegen, sondern gesunken, bis schließlich offen und öffentlich der Grundsatz proklamiert worden ist, in der Sozialpolitik eine Ruhe­pause eintreten zu lassen. Wie das mit der Frage, ob sozialrevolutionäre oder opportunistische Taktik, zusammenhängt, wird an anderer Stelle erörtert werden, vorläufig konstatiere ich, dass die inten­sivste sozialpolitische Tätigkeit des Staats zur Zeit der intensivsten sozialrevolutionä­ren Agitation stattfand.

Sein staatsmännischer Blick hat also Vollmar gründlich getäuscht. Sehen wir zu, wie das auf die weitere Entwicklung seiner Taktik wirkte. Unter den fünf Forde­rungen die Vollmar 1891 aufgestellt hatte, waren besonders zwei bemerkenswert: die Erringung eines gesetzlichen Normal­arbeitstages und die „Beseitigung der Le­bensmittelzölle”. Das waren für ihn da­mals Sachen, die sofort zu verwirklichen waren und deshalb die volle Aufmerk­samkeit des praktischen Politikers erfor­dern. Gewiss musste überhaupt auf einen weiteren Ausbau der Arbeiterschutzge­setzgebung hingearbeitet werden, jedoch: „vor Allem ist die ganze Kraft auf die Er­langung eines gesetzlichen Arbeitstags — dieses Kern- und Angelpunktes aller Ar­beiterschutzvorrichtungen — zu richten.” In Bezug auf die Beseitigung der Le­bensmittelzölle äußerte er: „Ich will nur sagen, dass unser Kampf gegen das System der künstlichen Lebensmittelver­teuerung niemals erlahmen darf.” Man wird aber in der Tätigkeit Vollmars seit 1891 vergebens nach den Spuren einer Konzentration der „ganzen Kraft” auf die Erlangung des Normalarbeitstages su­chen. Im Gegenteil, je mehr sein staats­männischer Blick ihm zeigte, dass die Regierung und die Parteien vorläufig noch eine derartige Maßregel für inopportun halten, desto mehr trat für ihn die Agita­tion für den Normalarbeitstag aus dem Vordergrund in den Hintergrund gegen­über jenen kleinen und kleinsten sozialpo­litischen Gesetzen, denen er 1891 eine untergeordnete Bedeutung beimaß.

Und auch in seinem Kampfe für die Be­seitigung der Lebensmittelzölle, der „nie­mals erlahmen” sollte, ließ Vollmar eine lange Pause eintreten. Erst die jüngsten Ereignisse haben ihn wieder aufgerüttelt, und da forderte er zum Kampfe auf — gegen die „neuen Zollsätze”, also nicht mehr für die Beseitigung der Lebensmit­telzölle, sondern gegen ihre Erhöhung. Bis dahin aber ignorierte er persönlich die Gelegenheiten zur Agitation gegen die Lebensmittelzölle, die ihm der Bauern­bund sehr hartnäckig darbot. Er schwieg, als der Bauernbund Erhöhung der Getrei­dezölle beantragte, er schwieg, denn er fasste bereits den staatsmännischen Plan, die Bauernbündler ebenso durch Entgegenkommen zur Sozialdemokratie zu bekehren, wie er durch Entgegenkom­men die Regierung sozialreformerisch machen wollte. Das war nur der Teil ei­nes Ganzen, der Bauernagitation, deren Herrlichkeiten ich ebenfalls an anderer Stelle einer eingehenden liebevollen Dar­stellung unterziehen werde. Ihr leitender Gesichtspunkt war: Da das deutsche Bauerntum, wie es augenblicklich ist für das sozialistische Programm des Proleta­riats nicht zu haben wäre, so wollen wir ein sozialistisches Programm im Sinne dieses Bauerntums zusammenschustern. Hier führt bereits das Staatsmännertum, das mit einem zunächst durchaus unver­bindlichen Entgegenkommen gegenüber der Regierung — „ohne das Endziel aus den Augen zu verlieren” — begonnen hatte, zu prinzipiellen Konzessionen. Da nun Vollmar den Bauernbund nach rechts, gegenüber dem Zentrum, deckte, von links schaute, so konnte er gar nicht bes­ser die Geschäfte dieser politischen Zwitterbildung fördern. Die Quittung für diese Tätigkeit stellten die Reichstags­wahlen 1898 aus, die in den ländlichen Wahlkreisen Bayerns einen erheblichen Zuwachs der bündlerischen und eine ab­solute Verminderung der sozialdemokrati­schen Stimmen zum Ausdruck brachte. Abermals ging eine staatsmännische Ak­tion an den Klassengegensätzen in die Scherben.

Mit dem gleichen Erfolg endete auch die staatsmännische Kombination Vollmars in der bayerischen Wahlrechtsfrage. Das bayerische Wahlsystem ist solcher Art, dass, wenn der erste Wahlgang [in ein­zelnen Wahlkreisen] unentschieden bleibt, Wahlbündnisse unerlässlich sind, um ein Resultat zu erzielen. Bisher gingen nun in solchen Fällen stets Zentrum und Nationalliberale zusammen, um die Sozi­aldemokratie zu übervorteilen. Da aber wiederholt bei der Teilung der Beute die Nationalliberalen sich als unredliche Kompagnons erwiesen haben, so wandte sich bei den letzten Wahlen das erboste Zentrum an die Sozialdemokratie. In Folge dessen wurden die Liberalen jäm­merlich zusammengehauen, sie bekamen also die Unzuträglichkeiten des Wahl­systems am eigenen Leibe zu spüren. Aber auch des Zentrums Freude war nicht ungetrübt: denn durch sein Zusammen­gehen mit der Sozialdemokratie hat es selbst in das dichte Gewebe der Lügen und Verleumdungen, mit dem es die Mas­sen von der Sozialdemokratie fernzuhal­ten suchte, ein gewaltiges Loch gerissen, und das musste ihm besonders in den katholischen Arbeitervereinen recht unan­genehm werden. Andererseits wurden ihm seitens der katholischen Bourgeoisie und des katholischen Muckertums bittere Vor­würfe gemacht. Zur Rechtfertigung berief es sich auf das Wahlsystem. So kam es, dass nach dem Wahlen sich alle Parteien in erbitterten Klagen über das bestehende Wahlrecht ergingen. Für uns entstand daraus vor Allem die Aufgabe, die güns­tige Situation agitatorisch auszunützen. Da alle Welt von Wahlrechtsänderung sprach, mussten wir durch Versammlun­gen, Flugblätter etc. eine Massenbewe­gung zu Gunsten eines demokratischen Wahlrechtes ins Werk setzen. Im Landtag mussten wir möglichst weitgehende An­träge stellen, um die Sonderinteressen der einzelnen Parteien zum Durchbruch zu bringen. Wir mussten auf eine schnelle Erledigung der Wahlrechtsfrage drängen, mit allen uns zugänglichen politischen Mitteln, wenn nötig durch Obstruktion, die Regierung und die Parteien dazu zwin­gen. Und würden wir auch unsere Ge­samtforderung kaum durchgesetzt haben, so könnten wir doch unter diesen Verhält­nissen am ehesten darauf rechnen, dass die herrschenden Parteien wenigstens etwas gewähren würde, um unserer Agi­tation die Spitze abzubrechen, und auf je­den Fall hätten wir den Effekt der Agita­tion für uns.

Anders aber dachte Vollmar. In seinem Kopfe bildete sich sofort eine staatsmän­nische Kombination. Er begann also die Kampagne damit, dass er im Landtag eine feierliche Rede hielt im Tone des wohlwollenden Mahners. Er zeigte den Parteien, wie töricht sie bis jetzt gehandelt haben, indem sie sich der sozialdemokra­tischen Forderung der Wahlrechtsände­rung verschlossen haben. Und dass sie überhaupt die Soziademokratie verkannt haben: „So müssen Sie sich denn, meine Herren, einfach bemühen, uns zu verste­hen.” Er selbst gab sich alle Mühe, sich auf den Standpunkt der bürgerlichen Parteien zu stellen. Er bewies ihnen, dass sie aus Rücksicht auf ihre eigenen Inte­ressen und aus Rücksicht auf die sozial­demokratische Agitation das Wahlrecht ändern müssen. Er drohte mit dieser Agi­tation. Aber er drohte nur. Vor allem wollte er vielmehr durch Unterlassen der Agita­tion das Entgegenkommen, den guten Willen der Sozialdemokratie offenbaren. „Nun komme ich auch noch mit einigen Ausführungen zum eigentlichen Gegens­tand, nämlich zur Wahlreform. Ich werde, wie gesagt, nicht viel darüber sprechen und zwar deswegen, weil ja die Sache nun endlich einmal in Marsch gebracht worden ist, durch uns in allererster Linie. Der Antrag soll an einen Ausschuss kommen und wir werden dort über die Sa­che ja sprechen können. Uns Sozialde­mokraten ist es hier, wie bei allen Gele­genheiten, der Auffassung von Ihnen al­lerdings zuwiderlaufend, durchaus nicht lediglich um die Agitation zu tun … Wir wollen deswegen Rekriminationen ver­meiden in Bezug auf die bisherige Stel­lung der Parteien zu unseren Anträgen und wir wollen auch auf die Einzelheiten nicht eingehen, was viel besser im Aus­schuss geschehen wird.” Die Redner aller Parteien haben sich für die Wahlrechts­änderung ausgesprochen, nun konnte es also nicht mehr fehlen. Es sei eine voll­kommene Unmöglichkeit, erklärte Voll­mar, dass die Sache noch einmal auf die lange Bank geschoben werden sollte.

So glaubte denn Vollmar, in der Wahl­rechtsfrage alle Parteien unter eine Kappe gebracht zu haben. Etwas Entgegen­kommen seitens der bürgerlichen Par­teien, Nachsicht von unserer Seite — so wir das Tränklein zusammengebraut. Darum war ihm der Ausschuss so lieb, wo in aller Stille „positive Arbeit” geleistet werden konnte. Kurz, an Stelle der Agita­tion setzte er die Konziliation. Aber das war es gerade, was die Reaktionäre brauchten. Sie fürchteten die Massenagi­tation, sie fürchteten die Diskussion in der Öffentlichkeit und sie waren über alle Ma­ßen froh, als die Sozialdemokratie sich durch einige Redensarten hat pazifieren lassen und im Moment des brennendsten öffentlichen Interessen auf die Agitation verzichtet hat. Im Ausschuss nahm man sich reichlich Zeit. Innerhalb der allgemei­nen Stille, die von der Sozialdemokratie sehr wenig getrübt wurde, verlor sich das akute Interesse der Öffentlichkeit. Die Sa­che geriet in Vergessenheit. Bei der „po­sitiven” Arbeit der Verfassung des Ge­setzentwurfes kamen die Sonderinteres­sen der bürgerlichen Parteien und die sie einigende Feindschaft gegen die Sozial­demokratie immer klarer zum Ausdruck, und bald unterlag es keinem Zweifel mehr, dass die Sache auf die lange, auf die allerlängste Bank geschoben wird! So endete diese staatsmännische Aktion. Vollmar ist um eine Erfahrung reicher. Woraus er vermutlich, wie in den bisheri­gen Fällen, nur die Schussfolgerung zieht, dass er immer noch nicht schlau, nicht staatsmännisch genug war.

Zuguterletzt gab der Fall Millerand Voll­mar eine äußerst günstige Gelegenheit, selbst die Konsequenzen seines Stand­punktes zu ziehen. Gedeckt durch die Annahme, die Sache gehe „praktisch” Deutschland nichts an, durfte er sich den Luxus gestatten, seinen Gedankengang sich frei entwickeln zu lassen. Als in Erfurt Liebknecht den „Regierungssozialismus” als Konsequenz des Vollmarschen Standpunktes hinstellte, wandte sich die­ser entrüstet dagegen. Seitdem hat er, vom Misserfolg zu Misserfolg schreitend, gelernt, bescheiden zu wollen und weise zu wählen. Die immer weiter gehende Reduktion seiner nächsten gesetzgeberi­schen Forderungen setzte ihn vor Allem in den Stand, die Millerandschen Klein- und Scheinreformen hochzuschätzen. Ande­rerseits je geringfügiger die Gesetzge­bung ist, um die es sich handelt, desto mehr Bedeutung gewinnt die Regierung in seinen Augen an Größe.

So kam Vollmar dazu, an einem sozialisti­schen Ministerialismus Geschmack zu gewinnen. Und im Grunde genommen, wer „dem guten Willen„ der Regierung „die offene Hand„ reichen will, wie kann er denn Nein sagen, wen diese Regierung ihn auffordert: „Komm‘ und sein mein gu­ter Genius”? Nun gebrauchen ja Vollmar und die Anderen, die in Deutschland den Millerandismus verteidigen, stets die Kautel, für Deutschland komme der Fall nicht in Betracht, in Deutschland seien die Verhältnisse anders, die politische Form sei weniger freiheitlich, die Regierung we­niger demokratisch etc. Schält man die Umhüllungen weg, so bleibt folgender nackte Grund: weil die deutsche Regie­rung einen Sozialisten zum Minister nicht haben will. Wollte sie es, dann wäre ja ge­rade das der Beweis des Liberalismus, der Demokratie, etc. etc. Also, die Regie­rung braucht nur zu wollen!

Die deutschen Ministerialisten unterschei­den sich von den französischen nur da­durch, dass, währenddem die letzteren einem Regierungsangebot Folge leiste­ten, die ersteren noch lange bevor die Regierung auch nur im Entferntesten daran denkt, an Sozialisten Ministerpor­tefeuilles zu verteilen, sich zur Disposition der Regierung halten. Welche staatsmän­nische Voraussicht!

Ich will durchaus nicht behaupten, dass Vollmar selbst ein Ministerportefeuille an­nehmen würde. Er hat eine zu große poli­tische Vergangenheit hinter sich, um die äußersten Konsequenzen seines jetzigen Standpunktes persönlich in die Praxis umsetzen zu können. Aber der Punkt, an den der eine Politiker durch die Entwick­lung eines Menschenalters gelangt ist, bildet für den Zuletztgekommenen den Ausgangspunkt seines Wirkens, und die­ser geht dann in seinen Konsequenzen viel weiter. Der Opportunismus ist ja die Inkonsequenz. Und dem Opportunisten, der uns damit vertröstet, dass er selbst in diesem oder jenem praktischen Falle nicht so weit geht, erklären wir: „Wir können nicht auf deine Inkonsequenz bauen, sondern wir müssen mit der Konsequenz rechnen welche andere aus deinem Standpunkt ziehen!”

Das Staatsmännertum innerhalb der So­zialdemokratie führt in Konsequenz sei­nes eigenen Standpunktes durch eine Reihe unmerklicher Übergänge dazu, dass der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat die Erschleichung eines Ministerportefeuilles durch einen politischen Kautschukmann untergescho­ben wird dem sozialrevolutionären Ent­wicklungsprozess die parlamentarische und womöglich die Hofintrige!

4. Der Auersche Praktizismus

Dass er mit der Theorie auf gespanntem Fuße steht, hat Auer selbst oft genug er­klärt. Er paradiert förmlich damit bei jeder prinzipiellen Auseinandersetzung inner­halb der Partei. Er hat es aber leider bis jetzt versäumt, die Grundlinien seines spezifischen Praktizismus zu ziehen, der ihn von Anderen in der Partei, die doch auch nicht bloß über Prinzipien diskutie­ren, unterscheidet. Er selbst protestierte [auf dem Parteitag] in Hannover [1899] mit aller Entschiedenheit dagegen, dass man ihn in einen Topf mit Bernstein und ande­ren werfe, und zog, wenn auch flüchtig, doch in kräftigen Linien, die Grenzen zwi­schen sich und dem Bernsteinismus. Merkwürdigerweise hinterließ das aber gar keinen Eindruck in der Öffentlichkeit, und nach wie vor, ja mehr als jemals, gilt Auer als der Führer des Opportunismus. Auch er gehört also zu den Missverstan­denen. Schaffen wir Klarheit.

Der Praktizismus entspringt der Abnei­gung vor politischen Spekulationen. Er will nur mit konkreten Verhältnissen operie­ren, er hasst die unbestimmbaren Grö­ßen. Allein, mag das angenehm sein oder nicht, die Politik kann die Wahrscheinlich­keitsrechnung nicht entbehren. Nur das Gesetz der Entwicklung lässt sich fest­stellen — und das ist für die kapitalisti­sche Gesellschaft schon durch das Kom­munistische Manifest in so mustergültiger Form geschehen, dass es durch das nachfolgende halbe Jahrhundert kapitalis­tischer Geschichte vollauf bestätigt wurde — der Gang der Entwicklung muss ver­folgt und stets aufs Neue vorausgesehen werden. Der praktische Verstand kennt aber nur das ummittelbar Vorhandene, was über diesen Umkreis hinausgeht ist ihm lästig, beschwert das Denken. Er will eine klare, einfache Situation; und ist sie nicht einfach, so macht er sie einfach, das heißt, er erreicht die Lösung des Prob­lems dadurch, dass er seine Schwierig­keiten ignoriert,. Er ist nicht eigentlich Gegner der Theorie, aber er will eine The­orie, die sofort und ohne Rest in die Pra­xis aufgeht. Der praktische Verstand kann es nicht begreifen, wie man sich etwas zur Richtschnur nehmen kann, das in sich selbst veränderlich ist? Also vor Allem die feste Form. Wird nun eine Theorie in die­ses Prokrustesbett des praktischen Vers­tandes hineingezwängt, so erstarrt sie zum Dogma, aus dem sich dann der Praktiker Schablonen schneidet. Wenn aber der Praktiker, der die Theorie als Schablone gebraucht, auf den Widerstreit der sich entwickelnden Verhältnisse stößt, so zweifelt er nicht etwa an einer Me­thode, die Theorie zu gebrauchen, son­dern an der Theorie selbst. Die Starrheit, die er in die Theorie hineingebracht hat erscheint dann als ihr eigenes Wesen, und er wettert gegen jedes Theoretisieren als schädliches Dogmatisieren und Schablonisieren.

Es hat kaum je irgend Einer in der Partei die sozialdemokratischen Grundsätze so doktrinär vertreten wie — Auer auf dem Berliner Parteitag [1892]. Er hatte damals über das Genossenschaftswesen zu refe­rieren. Schon die Einleitung ist interes­sant. Er zitierte wörtlich den Passus des Erfurter Programmes, der sich auf die Än­derung der Eigentumsformen und die dazu unerlässliche Besitzergreifung der politischen Macht durch das Proletariat bezieht, und erklärte, daran anschließend: „In diesen Sätzen sind unsere Ziele und Aufgaben klar hingestellt. Dieser Stand­punkt ist bei beginnender sozialdemokra­tischer Agitation eingenommenen worden, wir haben ihn bis jetzt eingenommen und müssen ihn für alle Zeiten beibehalten, so lange die Partei eine sozialdemokratische ist. Wenn andere Anschauungen auftau­chen, und sie sind aufgetaucht, so be­weist das nur, dass Genossen in dieser Frage über Wesen und Inhalt der Sozial­demokratie sich getäuscht haben.” Also 1892 war ihm das Programm „für alle Zeiten” festgelegt — und etliche Jahre später gibt es für Auer nichts Veränderli­cheres als das Programm, und Alle er­scheinen ihm als Doktrinäre, die die Pro­grammsätze mit ihrem Wissen gegen eine ebenso schnellfertige wie böswillige Kritik verteidigen.

Zum Thema übergehend, meinte Auer: „Wer glaubt, durch Bildung von Genos­senschaften etwas mit zur Lösung der so­zialen Frage beizutragen, wer glaubt, wie es in Breslau der Fall gewesen, dadurch mit dazu beizutragen, dass die Produktion reguliert, die Überproduktion verhindert wird, der hat sich über das Wesen des Sozialismus getäuscht. Gegen solche Versuche, das Wesen unserer Aufgaben und Ziele zu verwischen, ist von der Partei Stellung wiederholt genommen worden. Und dieses heute wieder zu tun, soll un­sere Aufgabe sein.” Hier hat Auer also be­reits Bernstein antizipiert, was freilich gar nicht überraschend kommt, da ja Bern­stein nur die alten sozialreformerischen Redensarten in neuer Auflage bringt. Ge­wiss, auch in Hannover hat Auer erklärt, dass er die Illusionen Bernsteins bezüg­lich des Genossenschaftswesens nicht teile, aber statt, wie in Berlin, gegen diese „Verwischung unserer Aufgaben und Ziele” zu protestieren, wurde er jetzt viel­mehr zu ihrem eifrigsten Förderer. In Ber­lin erklärte er, dass Alle, welche in den Genossenschaften ein Mittel zur Verwirk­lichung unseres sozialrevolutionären Pro­grammes erblicken, „von dem Wesen des Sozialismus und von unseren Aufgaben keine Ahnung haben.” Mehr haben Bern­stein auch seine bösesten Kritiker nicht vorgeworfen. Aber mit flammendem Pa­thos wandte sich Auer in Hannover gegen Alle, welche Bernstein mangelnde wis­senschaftliche Erkenntnis vorwarfen. „Der Mann, der zehn Jahre lang … unser Zent­ralorgan redigiert, der Mann, der mit als die hervorragendste Persönlichkeit in der parteidgenössischen wissenschaftlichen Schriftstellerei bis in die neuste Zeit ge­golten hat, der Mann” usw.! …

Also, weil die Genossenschaften noch kein Sozialismus sind, deshalb sollen sie nutzlos, ja schädlich für die Arbeiterbewe­gung sein, indem sie die Energie des Proletariats auf einem sterilen Gebiet nutzlos verzetteln und seine Aufmerk­samkeit vom politischen Kampfe ablen­ken. Da haben wir die Schablone in ihrer ganzen Starrheit und Beengung! Demge­mäß war auch die gefasste Resolution: Die Parteigenossen sollen der Gründung von Genossenschaften „entgegentreten” und unter Anderem die Illusion bekämp­fen, dass die Genossenschaften geeignet wären, „den politischen und gewerk­schaftlichen Kampf der Arbeiter zu besei­tigen oder auch nur zu mildern”. Falsch war das nicht, aber eng und schief: Ge­wiss ist die Gründung von Genossen­schaften innerhalb des kapitalistischen Staates kein Sozialismus, gewiss ist es albern, von ihnen eine Milderung des proletarischen Klassenkampfes zu er­warten, — aber damit ist die Angelegen­heit noch nicht erledigt, das ist nur die eine, negative Seite der Erscheinung, und die positive ist, dass die Genossenschaf­ten in der Kombination Konsumvereine und Produktivgenossenschaften unter gewissen wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen in hohem Maße den Zusammenhalt des Proletariats fördern und es in seinen gewerkschaftlichen wie politischen Kämpfen stützen. Vom Stand­punkt unserer Grundsätze können wir nur das Sozialrefomertum im Genossen­schaftswesen bekämpfen, die sozialre­formerische Erklärung und Ausnützung der Genossenschaften, nicht aber diese selbst, die eine ökonomische Tatsache sind und als solche nicht bestritten, son­dern begriffen sein wollen. Aber der Prak­tiker gebraucht das Programm als eine Sammlung von Schablonen: entweder die Erscheinung passt unter die fertige For­mel (Absatz soundsoviel), oder er weiß nicht, was er mit ihr anfangen soll, sie ist ihm eine Störung der normalen, gesetz­mäßigen Entwicklung; er versteht es nicht, das Programm als Methode zur Er­kenntnis der sozialen Entwicklung zu ver­wenden.

Auch in seinem Verhältnis zu den Ge­werkschaften lernen wir den Dogmatiker, den Doktrinär Auer kennen. Davon kann selbstverständlich keine Rede sein, dass Auer jemals Gegner der Gewerkschafts­bewegung gewesen wäre, er hat nur eine Zeit lang geglaubt, die Partei vor der Kon­kurrenz der mit ihrem Wachstum nach Selbständigkeit ringenden Gewerkschaf­ten schützen zu müssen. Er sprach es klar aus: „Während früher die Gewerk­schaften als ein zwar selbständiger Teil, aber immer nur als ein Teil der organi­sierten, klassenbewussten Arbeiterbewe­gung betrachtet sein wollten und auch betrachtet wurden — etwa wie die Artille­rie eine Spezialwaffe in der Armee, aber doch nicht diese selbst, sondern nur ein Teil derselben ist —, macht sich seit der Gründung der Generalkommission das Bestreben bemerklich, die Gewerkschaf­ten von der politischen Partei zu trennen und beide Organisationen als rivalisie­rende Mächte zu behandeln. Ich halte diese Bestrebungen, welche speziell in der Generalkommission ihren Ausgangs- und Stützpunkt haben, für sehr verkehrt und, wenn sie größeren Anklang fänden, geradezu für verhängnisvoll für die ganze deutsche Arbeitehrbewegung.” Auch hierin steckt eine gute Dosis Wahrheit, je­doch ist sie wiederum zu eng gefasst und schief zugespitzt. In Deutschland, wo die politische Organisation des Proletariats sich überraschend schnell entwickelte, waren die Gewerkschaften lange Zeit von der Partei in jeder Beziehung abhängig, sie waren der Partei untergeordnet. Aber mit der Erstarkung der gewerkschaftlichen Organisationen musste sich das Verhält­nis ändern. Die Gewerkschaften mussten lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie brauchten ihre eigene Zentralisation. Je mehr sie sich in diesem Sinne entwickel­ten, desto selbständiger mussten sie sich fühlen. Ihr Verhältnis zur politischen Partei konnte nicht mehr das einer Spezialwaffe unter dem gleichen Oberkommando blei­ben, sondern es musste das zweier ver­bündeter Armeen werden. Mit der Ent­wicklung der Gewerkschaften entstand gewiss die Gefahr einer Konkurrenz zwi­schen Gewerkschaften und Sozialdemo­kratie, wer will das leugnen? Aber um die­ser zu begegnen, gab es für die Sozial­demokratie nur ein Mittel: mehr noch als bisher in ihrem parlamentarischen Auf­treten, in ihrer Politik, in ihrer Agitation auf die gewerkschaftlichen Interessen Rück­sicht nehmen, Man musste sich klar ma­chen, dass die Erstarkung der Gewerk­schaften auch der politischen Vertretung des Proletariats mehr Arbeit und zugleich mehr Einfluss erschafft. Auer aber fasste die Sache äußerst engherzig auf: die Konkurrenz der Gewerkschaften müsse niedergekämpft, im Keime erstickt wer­den; der Stützpunkt aller Selbständig­keitsbestrebungen der Gewerkschaften sei die Generalkommission, folglich müsse dieser — „das Fell gestrichen wer­den”. Das gelang ihm denn auch damals, dank der gewaltigen Autorität der politi­schen Organisation und dem Misskredit, in dem die ohnedies noch sehr schwa­chen Gewerkschaften in Folge der un­günstigen Geschäftskonjunktur etc. stan­den, mit Leichtigkeit. Aber es war ein schlimmer Pyrrhussieg. Was Auer für eine heilsame Zurückweisung der Übergriffe einzelner Gewerkschaftsführer hielt, wurde zu einem Riss zwischen Gewerk­schaften und Sozialdemokratie.

Die verfehlte Taktik Auers gegenüber den Gewerkschaften hatte den gleichen Grund, wie sein Missgriff bei den Genos­senschaften: er hat die politische Betäti­gung des Proletariats zu ausschließlich, zu gesondert von allem anderen ins Auge gefasst. Etwa folgender Gedankengang: wir wollen die soziale Revolution; also Er­oberung der politischen Macht; also politi­sche Organisation des Proletariats, Sozi­aldemokratie; alles andere mag Gegen­wartsvorteile bringen — vieles ist Schwin­del — es mag auch nicht ohne Wert sein als Vorschule der Sozialdemokratie, je­denfalls aber tritt es der politischen Betä­tigung der Sozialdemokratie gegenüber in den Hintergrund, darf dieser nicht im Wege stehen. Was bei dieser Argumen­tation übersehen wird, sind die Wechsel­wirkungen. Sieht man von Störungen ab, die im proletarischen Klassenkampf wie in jeder große politischen Bewegung unver­meidlich sind und von mannigfaltigen Ur­sachen abhängen, unter denen die Ein­sichtslosigkeit der Parteiführer die ge­ringste Rolle spielt, so fördert die politi­sche Betätigung des Proletariats die Ge­werkschaften und Genossenschaften, aber auch diese nicht minder die Sozial­demokratie. Der springende Punkt liegt nicht in dem Übergewicht der politischen Aktion des Proletariats, sondern darin, dass das soziale Aufstreben des Proleta­riats in all seiner wachsenden Mannigfal­tigkeit, selbst in seinen mit der Politik am wenigsten zusammenhängenden Er­scheinungsformen stets und immer wie­der auf das gleiche Ergebnis hinausläuft: die Notwendigkeit der Eroberung der poli­tischen Macht durch das Proletariat.

Auer hat niemals eine andere Politik ge­trieben als reine Arbeiterpolitik. Darin liegt seine große Stärke. Er hat niemals mit dem Bauerntum oder Handwerkertum ko­kettiert. Eine Politik staatsmännischer Kombinationen ist ihm vor Allem zu spe­kulativ: sein praktischer Verstand erfordert eine klare, einfache Situation. Man hält Auer für besonders schlau; er ist es aber gar nicht; er tut nur so, als ob er es wäre, und das Schönste ist, man glaubt es ihm. Als er öffentlich mit der ungeheuer schlauen Äußerung paradierte: „Lieber Ede [Bernstein], so was sagt man nicht, so was tut man”, setzte er sich selbst zu diesem machiavellistischen Grundsatz in Widerspruch. Er ist zu sehr Vollblutger­mane3 um so überwältigend schlau zu sein. Ein Polemist von ciceronischer Be­redsamkeit, lässt er sich von seinem Sar­kasmus am ehesten zu Übertreibungen hinreißen. Er hat in den letzten Jahren entschieden viel mehr gesprochen als nö­tig war, und stellte sich schlimmer hin als er ist.

Als Praktiker hatte er von vornherein Misstrauen gegen die Theorie; die Art, wie er dann die Theorie gehandhabt hatte, musste, wie wir gesehen haben, ihn erst recht enttäuschen; so wurde sein Miss­trauen zur Skepsis. Darunter leidet vor Allem die Einheitlichkeit seiner politischen Auffassung. Er hat seine Zweifel nach links und seine Zweifel nach rechts, und nichts befriedigt ihn. Er findet in sich nicht mehr die geistige Zuversicht, um für be­stimmte Grundsätze rücksichtslos einzu­treten; er begreift es deshalb nicht mehr, wenn es Andere tun. Er sieht darin nur noch Unduldsamkeit und Streitlust. Seine Zweifel bringen ihn dem Opportunismus nahe, nicht wegen dessen positiver, son­dern wegen dessen negativer Eigen­schaften, der an den geltenden Grundsät­zen geübten Kritik. Zwar akzeptiert er diese Kritik nicht, aber es interessiert ihn zu erfahren, wie sie sich entwickeln, was daraus werden wird. So ist Auer, einer Derjenigen, welche die Gefahren des Op­portunismus am frühesten erkannt hatten und gegen ihn am schärfsten aufgetreten waren, zwar noch nicht erklärter Opportu­nist, wohl aber der Schutzpatron des Op­portunismus geworden.

Zugleich führte ihn sein Skeptizismus merkwürdigerweise zu einer Art Fatalis­mus. Alles Theoretisieren sei eigentlich nutzlose Zeitvergeudung, jede spekulative Voraussicht — zumal nachdem Bebel sich im Datum der Revolution geirrt hatte — Spielerei, was werden soll, das wird, und wie es wird, davon wissen wir sehr wenig. Also vor Allem recht vorsichtig und lang­sam, überstürzen wir uns nicht! Wir kom­men schon zeitig genug an, wenn nicht viel zu früh. Rechnen wir mit den Verhält­nissen, gehen wir nicht gewaltsam vor. Kein Programm, keine klare Taktik, außer dem Einen: überall zu bremsen. Und auch hier, je mehr das Endziel dem Gesichts­kreis entrückt, erwacht die Sucht nach unmittelbaren, greifbaren Erfolgen. Ge­genwartsarbeit in dem bereits gekenn­zeichneten, beschränkten Sinne. An Stelle der Kritik der Verhältnisse, die vor­wärts treibt, tritt die Anpassung an die Verhältnisse, die jedem Aufstreben die Spitze abbricht und sich wie ein Mehltau über die Bewegung legt, sie ungemein beschwerend und lähmend.

Noch auf dem Parteitag zu Frankfurt 1899 [1894!] rief Auer der bayerischen Fraktion zu, die das in vieler Beziehung tatsächlich unselbständige bayerische Staatsbudget bewilligt hatte: „Seid Ihr denn in den Landtag gewählt, das bayerische Ge­meinwesen in seiner jetzigen Gestalt fort­zuführen? Sollt Ihr es nicht umgestalten, oder — verzeihen Sie den Ausdruck — untergraben? Legt Euch einmal diese Frage vor und Ihr werdet die schiefe Situ­ation begreifen, in die Ihr geraten seid. Das Gemeinwesen wird in sich selbst zerfallen, aber die Mittel zum Unterhalt und zur Fortführung dieses Gemeinwe­sens zu gewähren ist nicht Eure Sache. Überlasst das ruhig den Nationalliberalen und Ultramontanen.” Und 1897 in Ham­burg hat er bereits nicht begreifen kön­nen, wie man der Regierung die Waffen­ausrüstung der Armee verweigern könne, da man durch die Soldaten nicht „mit Stö­cken ausgerüstet ins Feld schicken„ könne! Und 1900 in Paris schütze er die Ministerschaft Millerands und bejammerte das arme Deutschland, das von einer so­zialistischen Ministerkandidatur noch so weit enternt sei. Welche Wendung durch Gottes Fügung!

So verliert auch der Praktizismus in der Arbeiterpolitik, indem er sich vom sozial­revolutionären Mutterboden loslöst, jeden Halt und gravitiert zur Assimilierung an den kapitalistischen Staat.

5. Der Bernsteinsche Revisionismus

Dass die wissenschaftliche Erkenntnis keinen Stillstand kennt, dass mit der Ent­wicklung der ökonomischen Verhältnisse auch eine Revision der ökonomischen Theorien notwendig wird, das sind Bana­litäten. Darüber streitet Niemand. Es ge­hört die Geistesleere des Opportunismus dazu, um ein breites Gerede darum zu machen, dass er sich dem Dogma nicht fügen wolle, dass er das Recht habe, seine eigene Meinung zu haben, dass er sich von Niemand das Recht bestreiten lassen wolle, zu kritisieren, zu revidieren etc. Wer wirklich etwas Neues zu sagen hat, der sagt es, ohne viel zu fragen, und sorgt vor Allem dafür, dass das Ding Hand und Fuß bekomme, dass zwischen ihm und dem Alten eine klare und präzise Scheidung stattfinde. Aber diese Schei­dung, die unerlässlich ist zur Klarheit, wagt der opportunistische Revisionismus nicht, er versteckt sich, wenn angegriffen, hinter derselben Doktrin, die er bekämpft. Er wagt es nicht, mit eigener Stimme zu sprechen, er spitzt die Lippen nach alter Art und behauptet, sein elendes Piepsen sei das alte muntere Pfeifen. Nicht das Recht der eigenen Meinung wird ihm bestritten, sondern das Recht, seine Mei­nung den durch das ganze Denken und Wirken von Marx und Engels festgelegten Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu unterschieben. Der revolutionäre Sozi­alismus mag in seinen Grundlagen falsch sein, man beweise uns das, aber wenn man uns sagt, die Welt habe ein halbes Jahrhundert lang Marx und Engels miss­verstanden, diese haben selbst nicht ge­wusst, was sie gewollt haben, und würden es erst aus dem Munde Bernsteins erfah­ren haben, wenn sie nicht zu früh verstor­ben wären, so weisen wir das auf Grund wissenschaftlicher und politischer Doku­mente mit Hohngelächter zurück. Was wir brauchen, das ist vor Allem Klarheit. Wir müssen entschieden gegen jeden Ver­such einer literarischen Konfusion protes­tieren, welche die Konsequenzen ihres eigenen Denkens verbirgt, gegen alles, was darauf hinausgeht, die Wahrheit zu verdunkeln statt sie klarzulegen.

Die ganze vierjährige Kampagne gegen den Bernsteinschen Revisionismus er­strebt nichts anderes als Klarheit. Nach rechts oder nach links: sollen wir auf dem Boden des revolutionären Sozialismus verbleiben oder sollen wir eine sozialre­formerische Partei werden — nur keine Konfusion, kein politisches Maskenspiel, kein Selbstbetrug! Aber eine klare, si­chere Stellungnahme ist eben für Bern­stein nicht mehr möglich, er hat die Fä­higkeit verloren, auch nur einen Augen­blick die Dinge anzusehen, ohne den Ge­sichtspunkt zu verschieben: in einem tol­len Wirbeltanz dreht er sich um seine ei­gene Achse, dass alles um ihn schwirrt und schillert! Fordert man ihn auf, die Konsequenzen seines eigenen Stand­punktes zu ziehen, so erscheint ihm das höchst ärgerlich, ja beleidigend. Kann man sich eine lächerlichere Situation den­ken, als die dieses Parteireformators, die­ses Bahnbrechers des Sozialismus, der dem internationalen Proletariat neue Wege zeigen will und der sich bitterjäm­merlich darüber beklagt, dass er durch eine Hinterlist dazu gebracht worden sei, seine Ansichten publik zu machen!** Ganz heimtückisch habe an ihm sein Freund Kautsky gehandelt, als er ihm den Rat gegeben habe, seine Ansichten in einem Buche zusammenzufassen. Welche Per­fidie! Musste doch Kautsky wissen, dass Bernstein durch eine zusammenhän­gende Darstellung seines Revisionismus sich unsterblich blamieren werde! Es ist ein sehr interessanter Charakterzug des opportunistischen Revisionismus: einer­seits wird Bernstein, je mehr er „revidiert”, immer geschwätziger, andererseits trägt er das Gefühl mit sich herum, besser wäre es, er hätte überhaupt geschwiegen. Er fühlt sich in der Haut des Ovidschen Raben, dem Zeus wegen seiner Ge­schwätzigkeit das Gefieder geändert hatte, sehnt sich nach seiner makellosen Vergangenheit zurück und kann doch nicht lassen, weiter zu schwatzen.

Vormals weißer wie Schnee mit silberhellem Gefieder

Winkte der Rab‘ und trotze den ganz ungema­kelten Tauben;

Nicht die wachsame Gans, die Roms Kaptole zur Hut war,

Schimmerte heller denn er, noch der rudernde Schwan im Gewässer.

Ihm war die Zunge Verderb; durch Schuld der geschwätzigen Zunge

Ward das lichte Gefieder in dunkles plötzlich verwandelt.

Auch Marx und Engels sind ja als Kritiker, als Revisionisten aufgetreten. Nun sehe man doch, mit welcher Schärfe sie ihren Standpunkt aus dem Wuste hergebrach­ter Ideen herauszuschälen bemüht waren, wie kühn und sicher sie die Grenzen zwi­schen dem Neuen und dem Alten zogen, bis auf Äußerlichkeiten, bis auf den Na­men — sie nannten sich Kommunisten im Unterschied zu dem sozialistischen Mischmasch jener Zeit. Denn sie hatten ein politisches Programm, eine soziale Doktrin zur Geltung zu bringen. Und so hat bis jetzt noch jeder gehandelt, der in der Wissenschaft oder in der Politik einen originellen Gedanken zu verfechten hatte. Aber dieser opportunistische Revisionis­mus ist gerade dadurch charakterisiert, dass er keinen einzigen eigenen Gedan­ken aufweist, keine einzige neue Tatsa­che aufzubringen vermag. Er ist den alten Überzeugungen untreu geworden und hat keine neuen gewonnen. Er bekämpft die sozialrevolutionären Grundsätze mit sozi­alreformerischen Argumenten aber was er an Stelle des Sozialismus setzen soll, weiß er nicht.

In dem ganzen Sammelsurium der Bern­steinschein Aufstellungen: dass die Klas­senscheidung nicht so rasch vor sich gehe, wie der Sozialismus annimmt, von der Mittelklasse, welche die Zuspitzung der Klassengegensätze verhindert, vom Bauerntum, das an seinem Kleinbesitz hängt, von den gewerblichen Kleinbetrie­ben, die noch immer sehr zahlreich sind, von der verlangsamten Betriebskonzent­ration, von der gewichtigen Rolle des Ka­pitalisten als Unternehmer, dass die Han­delskrisen nicht im Wesen der kapitalisti­schen Produktion gründen, sondern dem Schwindel zuzuschreiben seien und je­denfalls der kapitalistischen Organisation des Handels, den Kartellen etc. weichen müssen, von dem kapitalistischen Kultur­fortschritt und der Besserung der Lage der Arbeiter, vom Einfluss philanthropi­scher Anschauungen, der öffentlichen Meinung, der Demokratie, vom langsa­men Fortschritt oder dass die Geschichte keine Sprünge mache, von der Unreife der Arbeiterklasse, von der Verwandlung des Proletariats in einen Kapitalisten durch den Besitz einer kleinen Aktie oder eines Sparkassenbüchleins, von den wirt­schaftlichen Umformungen die von selbst, ohne zielbewusste Einmischung der poli­tischen Gewalt, den Kapitalismus lang­sam, aber sicher in eine andere Gesell­schaftsordnung umwandeln — ja, ist denn in alledem auch nur ein Wort, das nicht schon vor Bernstein tausendfach münd­lich und schriftlich wiederholt worden wäre, ein Gedanke, der nicht bereits min­destens ein Menschenalter hinter sich hätte?! Das alles war uns längst bekannt und längst durch gute Gründe als krasse Übertreibung, direkte Unrichtigkeit oder Verschiebung des Sachverhalts zurück­gewiesen worden.

Das Tatsachenmaterial, mit dem Bern­stein seinen Revisionismus belegt, ist so dürftig, so kritiklos zusammengestellt, dass sicher jeder deutsche bürgerliche Sozialreformer sich schämen würde, da­mit gegen den revolutionären Sozialismus ins Feld zu ziehen. Da es sich diesmal nicht um eine Widerlegung — das ist ja längst geschehen —, sondern um eine Charakteristik des Bernsteinschen Revisi­onismus handelt, will ich hier nur anfüh­ren, dass Bernsteins Bezugnahme auf die deutsche Berufs- und Gewerbestatistik selbst von ihrem amtlichen Bearbeiter Lü­gen gestraft wird.

So hat es Benstein stutzig gemacht, dass neben dem allgemeinen Rückgang der Kleinbetriebe in einzelnen Gewerben sich vielmehr ein Wachstum derselben fest­stellen lässt. Bernstein sieht darin einen Parallelismus der Entwicklung von Groß­betrieb und Kleinbetrieb. Hören wir die amtliche Statistik! „Die Gründe für das Wachstum der Alleinbetriebe in den ge­nannten Gewerben sind verschieden. Während es in einzelnen Gewerben als Zeichen der gesunden Entwicklung des Kleinbetriebs gelten darf, wie in der Gärt­nerei und Tierzucht, bei den Gas- und Wasserinstallateuren, bei Barbieren etc., ist es in anderen Gewerben ein Stadium in dem Konkurrenzkampf zwischen Klein- und Großbetrieb, das im Grunde eine Niederlage des Kleinbetriebs, speziell des Handwerkes, bedeutet. Nämlich ein Zu­rückdrängen der Handwerker in jene pri­mitive Betriebsform, in der sie dann zum Teil reine Hausindustrielle werden, zum Teil in Abhängigkeit von Magazinen und anderen Großbetrieben geraten.” Als Bei­spiel dieses Rückganges führt die Statistik die Schuhmacher, Uhrmacher, Buchdru­cker, Tabakarbeiter an. „Dagegen hat die Vermehrung der Alleinbetriebe bei den verschiedenen Arten des Warenhandels, bei der Schneiderei und bei den Ofenset­zern wesentlich statistisch-formale Gründe.” Es wird nachgewiesen, dass das geänderte Zählungsverfahren 1895 die Zahl größer erscheinen lassen musste. „Im übrigen zeigt sich der Rückgang der Alleinbetriebe nicht etwa nur in Gewerbe, wie eine vorschreitende Technik der wich­tigste Bundesgenosse des Großbetriebs ist, wie in den verschiedenen Arten der Textilindustrie, der Verfertigung grober Holzwaren, der Molkerei, der Waschan­stalten usw., sondern fast noch mehr da, wo der größere Betrieb lediglich organi­satorische Vorteile bietet, wie bei den Gewerbearten der Handelsgewerbe­gruppe, ferner bei dem Frachtfuhrwerk” etc. Bei dem Vergleich der Betriebe nach ihrer Größe verweist die amtliche Statistik mit Nachdruck darauf, dass die statisti­sche Zahl des beschäftigten Personals allein noch keineswegs maßgebend sei. „Das wirtschaftliche Gewicht der Großbe­triebe erscheint in Wirklichkeit noch viel größer, da einerseits neben den mensch­lichen auch die mechanischen Arbeits­kräfte (Motoren, Maschinen) hier beson­ders in die Wagschale fallen, außerdem ein Teil der Großbetriebe durch Zerlegung von Gesamtbetrieben in der Statistik als Klein- und Mittelbetriebe behandelt ist.” Sehr bemerkenswert sind die Ausführun­gen der amtlichen Statistik bezüglich der Entwicklungsfähigkeit zum Großbetrieb der einzelnen Gewerbe. „Hierüber be­kommt man Anhaltspunkte, wenn man sich aus der Statistik für jedes Gewerbe die höchste Größenklasse vergegenwär­tigt, in der Betriebe dieser Art vorkom­men.” Es werden nun zunächst die Be­triebe mit dem niedrigsten Maximum der Betriebsgröße zusammengestellt. Ergeb­nis: „Auffälliger Weise sind die angeführ­ten Gewerbearten größtenteils recht un­bedeutende und befinden sich insbeson­dere nur sehr weniger der alten und gro­ßen Handwerke darunter. Als solche wä­ren eigentlich nur Barbiere, Friseure, Schornsteinfeger und auch Geigenmacher zu bezeichnen; dies sind auch so ziemlich die einzigen Gewerbe, in denen der Großbetrieb technische Fortschritte über­haupt nicht und auch organisatorische in nur sehr beschränktem Umfang bieten kann.” Nun wird noch eine besondere Übersicht gemacht für die Gewerbearten, welche „bis heute noch wirkliche Hand­werke darstellen”. Ergebnis: „Von den Gewebearten obiger Zusammenstellung weisen vier bereits eine Entwicklung zum Kolossalbetrieb auf: Gärtnerei, Stellma­cherei, Seilerei und Gerberei. … es er­scheinen bis zu ganz großen Betrieben (mit 501 bis 1000 Personen) entwickelt: Ziegelei, Hutmacherei und Maurerei. Bis zur großen Fabrik (mit 201 bis 500 Perso­nen) entwickelt sind vor Allem die wich­tigsten Handwerke der Schuhmacherei und Tischlerei. … Außerdem gehören hierher: Töpferei. Müllerei, Konditorei, die als ‚modernes Handwerk‘ gepriesene Ein­richtung von Gas- und Wasseranlagen, ferner Böttcherei, Gürtler, Steinsetzer, Sattler.” Und dann auf Grund eines Ver­gleichs mit 1882: „Man kann sonach von einer vom Großbetrieb sich entfernenden Entwicklung nur bei der Gärtnerei spre­chen. … Im übrigen haben Tierzucht und Fischerei, Beherbergung und Erquickung noch am meisten den kleingewerblichen Charakter bewahrt, alle anderen Gruppen streben mehr oder weniger rasch einer großgewerblichen Entwicklung zu.”

Wie schon erwähnt, verweist der amtliche Bearbeiter selbst darauf, dass durch die Zerlegung der zusammengesetzten Be­triebe in einzelne Spezialitäten in den sta­tistischen Nachweisen eine Verschiebung zu Gunsten der Kleinbetriebe, zu Un­gunsten der Großbetriebe eintritt. Da­durch allein verlieren die Betriebe mit über 100 Beschäftigten mehr als 160.000 Ar­beiter. Jene kapitalistischen Organisatio­nen aber, die sich nicht auf einen Ort be­schränken, sondern durch Filialen, Ne­ben- und Hilfsbetriebe über das Land und selbst über dessen Grenzen hinaus sich ausbreiten, können von der amtlichen Statistik überhaupt nicht erfasst werden. So erscheint die Deutsche Bank in über einem Dutzend selbständigen Unterneh­mungen, in viele selbständige Unterneh­mungen zerfallen auch die Kruppschen Werke etc. Im vollen Bewusstsein dieses wichtigen Mangels sucht die amtliche Statistik das ungeheure Zahlenbild we­nigstens dadurch zu ergänzen, dass sie Einzelbeschreibungen typischer Kolossal­betriebe gibt. Für Bernstein existiert das alles nicht.

Ein großes Gewicht legt Bernstein auf den gegenwärtigen Stand der Klassengliede­rung. Was auch die Entwicklungstendenz sein mag, so beweise doch die große Zahl der Selbständigen, wie wenig reif für die soziale Revolution die Verhältnisse noch sind. Demgegenüber ist die Kritik interessant, welche die amtliche Statistik an diesen „Selbständigen” übt. „Zweifellos weist die große Schicht der Selbständigen in sich kaum weniger und sicher ebenso wichtige soziale Unterschiede auf, wie die große Zahl der Abhängigen; selbständig ist zwar der Parzellenbesitzer, der knapp soviel baut, als er für sich und seine Fa­milie braucht, wie der Großgrundbesitzer, der Alleinmeister wie der Inhaber eines Tausende von Arbeitern beschäftigenden Fabriketablissements, der Krämer wie der Grossist, der Millionen vor Werten jährlich umsetzt. Aber die sozialen (Klassen-***)Unterschiede sind hier keine geringeren wie die zwischen Selbständigen und Ab­hängigen.” Speziell bezüglich der Selb­ständigen in der Industrie heißt es: „Zu der über eine Million Alleinmeister stellen also die Selbständigen im Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe und im Bauge­werbe weit über die Hälfte; sie haben für ihren Betrieb Kapital in der Regel über­haupt nicht, oft nicht einmal eine Be­triebsstätte nötig. Die allein arbeitenden Baugewerbenden, namentlich die zahlrei­chen Maurer und Zimmerer, sind großen­teils tatsächlich Stück- und Zeitlohnarbei­ter, die zur Ausführung untergeordneter Arbeiten bestellt werden und vielfach die Rolle von Selbständigen nur spielen, wenn es ihnen an Gelegenheit fehlt, für einen Meister zu arbeiten. Auch unter den alleinarbeitenden Selbständigen der Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe greift die Arbeit im Hause der Kunden noch in sehr weitem Maße Platz und an­dererseits ist ein großer Teil von ihnen, namentlich Schneider und Schuster, ob­wohl sie sich noch nicht zur Hausindustrie zählen, tatsächlich zu Heimarbeitern (Sitzgesellen) oder ‚verlegten‘ Handwer­ker geworden. In ziemlich der gleichen Lage befinden sich die zur untersten Selbständigenschicht gehörenden 43.000 Selbständigen der Textilindustrie. Auch der Rest der alleinarbeitenden Selbstän­digen — etwa 300.000 — ist nur zum klei­nen Teile eines nennenswerten Anlage- und Betriebskapitals bedürftig.” Die meisten dieser Selbständigen sind es also nur — als „formalstatistischen Gründen„!

Schließlich versucht es die amtliche Sta­tistik, ein zahlenmäßiges Bild der „sozia­len Schichtung” der Bevölkerung aufzu­stellen. Nachdem sie die Verhältnisse in der Landwirtschaft, in der Industrie und im Handel einer gesonderten Prüfung unter­worfen und dabei schon am allerwenigs­ten durch sozialrevolutionäre Grundsätze, durch Voreingenommenheit eines ortho­doxen Marxisten sich hat leiten lassen, gelangt sie zu folgendem Resultat:

Soziale Schichtung der Reichsbevölkerung:****


Über­haupt

In der In­dustrie

Vermögende Klasse der Selbständigen

0,74 %

0,83 %

Mittelklasse der Selbständigen

31,32 %

14,58 %

Unbemittelte Klasse der Selbständigen

14,63 %

16,04 %

Schicht der Abhän­gi­gen (Lohnarbeiter)

53,31 %

68,55 %

Hier haben wir also den amtlichen statisti­schen Nachweis, dass die den Staat be­herrschenden Kapitalistenklasse noch nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung ausmacht, dass die Lohnarbeiterklasse allein die Majorität des Volkes umfasst, zusammen mit der unbemittelten Klasse der Selbständigen aber, die nicht nur durch ihre Armut, sondern vielfach durch ihre ganze wirtschaftliche Stellung mit der Lohnarbeiterklasse zusammenhängt und nur aus formalstatistischen Gründen von ihr getrennt erscheint, mehr als Zweidrit­tel, dass besonders in der Industrie das Proletariat mehr als Zweidrittel der Bevöl­kerung bildet und mit der unbemittelten Klasse der Selbständigen über Vierfünftel, fast 85 Prozent!

Als Bernstein zuerst seine statistischen Aufstellungen in der „Neuen Zeit„ machte, lag eine amtliche zusammenfassende Bearbeitung der Berufs- und Gewerbesta­tistik von 1895 noch nicht vor. Ich habe ihm aber schon damals in der „Sächsi­schen Arbeiter-Zeitung” alle die soeben erwähnten, später von der amtlichen Sta­tistik hervorgehobenen Momente vor­gehalten. Er wagte nicht einmal den Ver­such einer Widerlegung der von mir an seinen Tatsachen geübten Kritik. Er fühle sich von mir persönlich gekränkt, erklärte er, und werde mir deshalb nicht antwor­ten. Offenbar fühlt er sich auch durch die amtliche Statistik persönlich gekränkt, denn er ignoriert sie konsequent in seinen „Voraussetzungen” wie überhaupt in Al­lem, was er seitdem veröffentlicht hat.

Es sind nicht die Tatsachen, welche Bern­stein zur Änderung seiner Ansichten ver­anlasst haben, sondern die Änderung sei­nes Gesichtspunktes lässt ihm die Tatsa­chen anders erscheinen. Darum kann man sich mit ihm gar nicht mehr verstän­digen. Da mögen die Tatsachen noch so drastisch sein, mag die Statistik eine noch so klare Sprache sprechen, er liest es immer anders oder er merkt es überhaupt nicht. Er ließ die amtlichen deutschen Publikationen ebenso verständnislos an seinem Auge vorbeigehen, wie er ver­ständnislos den gewaltigen sozialen Um­änderungen, der raschen Zuspitzung der Klassengegensätze, dem Wachstum der Städte, der Konzentration des Kapitals zusah, die selbst während dieser wenigen Jahre der Bernsteindiskussion vor sich gingen, wie er verständnislos der gegen­wärtigen Handelskrisis gegenübersteht. Er weiß nicht, dass die Zahlen von 1895, auf die er sich stützte, abgesehen von seiner unzulänglichen Art der Ausnutzung, be­reits 1899, als seine „Voraussetzungen” erschienen, durch und durch veraltet wa­ren und jetzt hinter der Wirklichkeit nicht viel weniger zurückstehen als die Gewer­bezählung von 1882 hinter der von 1895. Die statistischen Zahlen und noch mehr der große industrielle Aufschwung der letzten Jahre haben selbst die bürgerliche politische Ökonomie und die bürgerlichen Sozialreformer zum Verstummen oder auf andere Gedankengänge gebracht. Ver­gessen ist der Mittelstand, vergessen selbst der Bauer, Alles liebäugelt mit dem Fabrikproletariat, dieser zahlenreichsten und sich rasch mehrenden Gesellschafts­klasse. Nur für Bernstein ging das alles spurlos vorbei. Er wiederholt sein Sprüchlein von der langsamen Änderung der sozialen Gliederung, von der Unreife des Proletariats etc. etc.

Die Gesinnungsänderung Bernsteins ist ein interessantes Problem der persönli­chen Psychologie. Zu seiner Lösung feh­len jedoch sehr wichtige Unterlagen. Es fehlt die Korrespondenz welche Bernstein während der Jahre seiner Redaktionstä­tigkeit am „Sozialdemokrat” mit Friedrich Engels geführt hat. Auch aus den paar Briefen, die Bernstein selbst — bruch­stückweise und unter vielen Streichungen — veröffentlicht hat, ist klar zu ersehen, dass Bernstein in allen wichtigeren An­gelegenheiten sich gern in London Rat holte und dass Engels ihm, wie anders bei dessen peinlicher wissenschaftlicher Ge­wissenhaftigkeit gar nicht zu erwarten war, zur Antwort ganze geschichtliche, philosophische, parteipolitische Abhand­lungen schrieb. Es war eine äußerst rege Korrespondenz, die Zahl der Briefe muss sehr groß sein. Wir alle wissen, wie meisterhaft es Engels verstanden hat, mit eine paar Strichen eine Situation, eine ganze Entwicklung zu kennzeichnen. Wir alle wissen, welchen fast unerschöpfli­chen Reichtum an Anregungen seine kleinen Schriften enthalten, — da kann man sich schon denken, welches Wissen und welche Gedankenfülle in jenen Brie­fen enthalten sein müssen, durch die der Altmeister des Sozialismus den jungen Redakteur des „Sozialdemokrat” in­struierte. Erst wenn jene Briefe in chro­nologischer Ordnung, ohne Auslassun­gen, ohne Streichungen, veröffentlicht sein werden, wird man beurteilen können, was im „Sozialdemokrat” von Bernstein war und was bloß durch Bernstein in den „Sozialdemokrat” kam, überhaupt inwie­fern er einer originell durchdachten Über­zeugung, einer selbstgewonnenen Er­kenntnis der Verhältnisse oder der ferti­gen Direktive eines geistig und wissen­schaftlich überlegenen Mannes folgte.

Soweit er sich im Rahmen der übernom­menen Doktrin hielt, lieferte Bernstein Ar­beiten, die sich durch eine bedeutende analytische Schärfe, aber auch durch eine gewisse Zerfahrenheit der Beweisführung, eine Vielheit der Gedankengänge, die statt sich zu ordnen, parallel verliefen, auszeichneten. Seine Zweifel und Schwankungen lassen sich von dem An­fang der neunziger Jahre an verfolgen. Seine Artikel ließen immer mehr unbefrie­digt. Man las sie mit Interesse, aber wenn man zu Ende war, wusste man nicht, woran man eigentlich sei. Einige interes­sante Einfälle, einige Übertreibungen, ei­nige Einschränkungen — doch wo da al­les hinaus sollte, blieb unklar. Es gab keine Lösung. Es konnte so sein und so, und auch anders — das war alles. Dann schränkte er die Möglichkeiten ein, und es begannen sich vor ihm überall, in jeder Frage, jedem Problem, Hindernisse auf­zutürmen. Seine parallelen Gedanken­gänge hatten erst, solange sein Gesichts­punkt feststand, einen vereinigenden Brennpunkt; je mehr sein Gesichtspunkt unsicher wurde, desto unabhängiger von einander wurden seine Schlussfolgerun­gen. Er bekam die Fähigkeit, die hetero­gensten Dinge zu vereinigen und die ein­fachsten zu spalten und aufzulösen. Er begann damit, dass er in jeder Sache tau­send Möglichkeiten und keine Lösung sah, und er endigte damit, dass er in jeder Sache tausend Unmöglichkeiten und kei­nen Ausweg sieht.

Bernstein glaubt, durch seine sozialrefor­merischen Argumente über den wissen­schaftlichen Sozialismus hinauszugehen, während er tatsächlich hinter ihm zurück­bleibt. Das ist der springende Punkt. Er tischt uns als neue Argumentation Sachen auf, die von uns längst überwunden sind. Aber so sehr wir bereit sind, unsere Ge­dankengänge zu revidieren, nachzuprü­fen, ob sie den Anforderungen der vorge­schrittenen Entwicklung entsprechen, die im Laufe der Zeit verwitterten Quader­steine, auf denen sich unsre Partei wis­senschaftlich aufbaut, durch neue zu er­setzen, so können wir doch nicht immer und immer wieder uns bei Dingen aufhal­ten, die läst abgetan sind. Eine Revision unserer Parteigrundsätze ist nur noch möglich nach links, nicht nach rechts, auf dem vom wissenschaftlichen Sozialismus gewonnen Boden des sozialrevolutionä­ren proletarischen Klassenkampfes, nicht auf dem von ihm verlassenen Boden der sozialreformerischen Utopisterei, im Sinne der Erweiterung der politischen Betäti­gung des Proletariats, nicht ihrer Einen­gung, der Verschärfung der sozialrevolu­tionären Energie, nicht ihrer Lähmung, ei­nes kühneren Strebens und Wollens, nicht eines ängstlichen Zurückweichens.

Nur gedeckt durch die Autorität, die er als früherer Redakteur des „Sozialdemokrat” genoss und durch seine persönlichen Verbindungen mit der Partei, konnte Bernstein es wagen, seinen Revisionis­mus in der Partei zu propagieren, nur so konnte er sich jahrelang innerhalb der Partei halten. Jeder andere wäre ausge­lacht worden, man würde ihn mit Auer darauf verwiesen haben, dass er „vom Wesen und den Aufgaben des Sozialis­mus keine Ahnung habe”. Wären die „Voraussetzungen” anonym erschienen und an Bernstein zur Rezension gekom­men, so würde er sie möglicherweise aus Versehen selbst zu Grunde kritisiert ha­ben. Tatsächlich hat er sie kritisiert, noch bevor er sie geschrieben hat. Er hat diese Gedanken einzeln mit der Waffe des wis­senschaftlichen Sozialismus bekämpft und sie in ihrer Gesamtheit als seine urei­gene Weiterführung des Sozialismus in die Welt gesetzt. Ihm selbst erschienen auch wirklich, nachdem er den leitenden Gesichtspunkt verloren hatte, die Dinge und die Argumente anders: wie ja auch die äußere Welt anders erscheint bei Ker­zenlicht als bei Sonnenschein. Aber wie konnten sich die Anderen täuschen? Man sagte sich, es sei ganz unmöglich, dass „Ede” nur das wiederhole, was er selbst wiederlegt habe, dass er nun selbst auf den sozialreformerischen Leim gehe, nachdem er jahrelang die Parteigrund­sätze gewahrt habe, da müsse denn doch etwas anderes dahinter stecken, man müsse ihn nur richtig zu lesen verstehen, — und man war sehr ärgerlich wegen der „maßlosen Übertreibungen” jener Re­spektlosen, denen der Name Bernstein nicht die kritische Wagschale beschwerte. Wenn die Freunde Bernsteins ihm einen schlechten Dienst erweisen haben, so ge­schah es durch die viel zu große Nach­sicht, die sie an ihm geübt hatten, durch die rabulistische Auslegungskunst, durch die sie sich selbst und alle Welt zu über­zeugen gesucht hatten, dass Bernstein es ganz anders meinte als er sagte.

Blickt man auf die vierjährige Bernstein­diskussion zurück, so findet man, dass viel weniger die Ansichten Bernsteins als seine Person in Schutz genommen wur­den. Kein Einziger, der nicht in Bezug auf seine eigene Stellungnahme Bernstein gegenüber große Reserven gemacht hätte. Die Verteidigung Bernsteins be­stand eigentlich in der Opposition gegen seine Opponenten. Diese suchte man vor der Öffentlichkeit zu diskreditieren, indem man ihnen Übertreibungen, Gehässigkeit etc. vorwarf. Man gab also de facto zu, dass, wenn die Kritiker in ihrer Auffassung Bernsteins Recht hätten, auch ihre Kritik richtig sei. Man appellierte schließlich an das Recht der freien Meinungsäußerung. Das wirkte bei den Massen um so mehr, als ihnen der ganze Streit, solange er sich im Geist der theoretischen Abstraktionen bewegte, fremd bleiben musste. Die In­konsequenz Bernsteins, der es noch im­mer nicht wagte, die letzten praktischen Schlussfolgerungen aus seinen neuen theoretischen Voraussetzungen zu zie­hen, und jedenfalls seine praktischen Vorschläge fast bis zur Unkenntlichkeit verklausulierte, tat ein Übriges. Die Partei duldete Bernstein, aber sie hat sich nie­mals auf seinen neuen Standpunkt zu stellen vermocht.

Allmählich trat doch eine theoretische Klä­rung ein. Und zu gleicher Zeit begann die Angelegenheit auf eine Art, die zwar sich logisch aus dem Bernsteinschen Revisio­nismus ergibt, aber gerade deshalb von Bernstein und seinen Freunden am we­nigsten vorausgesehen wurde, eine emi­nent praktische Gestalt zu gewinnen. Man konnte wohl sich selbst eine Zeit lang da­durch täuschen, dass man den Bernstein­schen Revisionismus für eine neue Abart des Sozialismus erklärte, nicht aber die bürgerlichen Sozialreformer, die in ihm Bein von ihrem Bein und Fleisch von ih­rem Fleisch erkennen mussten. Man muss anerkennen, dass die Sozialrefor­mer in ihrem Verhältnis zu Bernstein sehr viel Takt bewiesen haben. Sie wurden diesmal von einem richtigen Klassenin­stinkt geleitet. Zunächst drängten sie sich nicht auf. Sie hielten mit ihrem Jubel zu­rück, dass ihnen nachträglich von ihrem Kritiker auf so eklatante Weise Genug­tuung geworden war. Sie begriffen wohl, dass sie dadurch Bernstein in den Augen der Partei kompromittieren und dem gan­zen Rummel ein sehr rasches Ende be­reiten würden. Also sie ließen Bernstein machen und sammelten sich im Hinter­grund. Aber sie bildeten den Chorus sei­ner Heldentaten. Sie schmeichelten ihm in die Augen, priesen ihn als den Mann der Wissenschaft, den kühnen Überwinder des Revolutionismus, den Verkünder neuer Wege. Erst musste der Bernsteini­anismus mit allen Mitteln innerhalb der Sozialdemokratie populär gemacht wer­den. Als die Sozialreformer nun dieses Ziel erreicht zu haben glaubten, da be­gannen sie, ihre Schuldscheine einzufor­dern. Sie erheben Anspruch auf diesen Mann, der ihr geistiges Eigentum politisch verwertet. Erst halfen sie Bernstein, die Bahn frei zu machen, jetzt ziehen sie hinter ihm her. Was Bernstein recht ist, muss es auch ihnen sein, sie sagen das­selbe, nur sagen sie es mit viel mehr Klarheit und Sicherheit, sie wagen es, da sie niemals auf einem anderen als dem sozialreformerischen Standpunkt standen, ihre Gedanken voll auszudenken. Die Konsequenzen, vor denen Bernstein scheu zurückhält, zieht Herr Nossig mit spielender Leichtigkeit. Und so sah plötz­lich die Partei, wie hinter Bernstein ein Schwarm bürgerlicher Projektemacher, selbstherrlicher Weltverbesserer und sonstiger Schwadroneure zu ihr heranzog und die Sozialdemokratie in neue Bahnen zu lenken sich anschickte. Zugleich ist in der bürgerlichen Presse der Bernstein­sche Revisionismus zum stehenden Ka­pitel geworden. Die stark verbreitete An­noncenpresse bringt die Kundschaft von der Pazifizierung der Sozialdemokratie, davon, dass sie mit sich ebenso verhan­deln lasse, wie alle anderen Parteien, dass es ihr um die soziale Revolution nicht mehr ernst sei etc., unter die Arbei­termassen. In der Agitation stößt man je­den Augenblick darauf. Und so drängt sich unerbittlich die Notwendigkeit auf, der Konfusion ein Ende zu machen, eine klare Sachlage zu schaffen.

Aber vergebens wird bald „gefordert”, bald „erwartet”, dass Bernstein zu der bürgerli­chen Ausnützung seines Revisionismus entschiedene Stellung nehme, dass er wenigstens das Gefolge literarischer und politischer Abenteurer, das ihn auf Schritt und Tritt begleitet, ihn öffentlich verherr­licht und in seinem Namen spricht, von sich zurückweist, dass er zwischen sich und den Sozialreformern eine klare Grenze ziehe. Er kann es nicht: einem Sombart gegenüber fühlt er sich geistig verpflichtet, mit einem Nossig verbinden ihn bereits mehr geistige Bande als mit dem „orthodoxen Marxismus”. Anderer­seits hält Bernstein schon deshalb an der Sozialdemokratie fest, weil er außerhalb dieser jede politische Bedeutung verlieren würde. Seine Aufgabe ist die sozialrefor­merische Zersetzung der Sozialdemokra­tie. Tritt er aus dieser Rolle heraus, so wird er vom Bürgertum in die Rumpel­kammer geworfen, denn dieses braucht ihnen nur, solange er sein Ansehen bei den Arbeitern ausnützen kann.

6. Die Leistungen des Opportunismus

Ich übergehe die vierte geistige Spezies des Opportunismus.

Unser Thema ist diesmal die opportunisti­sche Taktik in ihren Beziehungen zu der bisherigen Tätigkeit der Partei.

Die Idee der Diktatur des Proletariats, die den Konzentrationspunkt der bisherigen revolutionären Politik der Sozialdemokra­tie bildet, lässt sich in ihren wesentlichen Zügen so zusammenfassen: Das Proleta­riat, das bereits die numerische Mehrzahl der Nation bildet und mit dessen Interes­sen auch jene der vom Kapital ruinierten Handwerker und Bauern zusammenhän­gen, setzt sich in den Besitz der politi­schen Macht. Neben der politischen und militärischen Reorganisation des Staates im Sinne der weitestgehenden Volksherr­schaft, der Verhinderung jedes Miss­brauchs der Staatsgewalt, so dass diese den Volksmassen nicht mehr den Willen einer ökonomisch herrschenden Minorität aufnötigen kann, wird es dann einen Pro­duktionszweig nach dem anderen in den Besitz des Staates überführen der unter jenen Verhältnissen aus einer Regie­rungsmaschinerie, einem Werkzeug zur Unterdrückung des Volkes, in einen Ver­waltungsorganismus sich verwandelt; es wird die Entwicklung des kommunalen Ei­gentums, der kommunalen Betriebe und der Genossenschaften mit allen politi­schen und ökonomischen Machtmitteln des Staates fördern. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln verschwindet und die kapitalistische Produktionsweise macht dem Sozialismus Platz.

Die Diktatur des Proletariats ist es aber bekanntlich, an der der Opportunismus am meisten seinen Kritizismus übt. Er be­streitet zwar nicht direkt ihre Möglichkeit, aber er bezweifelt sie, er rückt sie in die weiteste Ferne, er will sie vor Allem aus den politischen Betrachtungen der Ge­genwart eliminieren. Die Verhältnisse seien noch so unreif, dass, wenn das Proletariat die Staatsmaschinerie in die Hände bekäme, es sich durch seine Ge­setzgeberei nur blamieren und das Ganze mit einer kolossalen Niederlage des Pro­letariats enden würde. Also müssten wir vorläufig die Herrschaft im Staate Denje­nigen überlassen, die sie haben, den Jun­kern, der Börse, der Industrie, und jedem Wahlsieg beklommen entgegensehen als einem Schritte, der uns näher bringt — unserer Niederlage. Doch mit der Inkon­sequenz, von der er lebt, vermeidet es der Opportunismus selbstverständlich, diese Schlussfolgerung aus seiner Vorausset­zung zu ziehen. Aber was bietet er uns statt der Diktatur des Proletariats, die für ihn als politische Richtschnur nicht mehr in Betracht kommt? Wenn nicht durch Er­oberung der politischen Macht, auf wel­chem Wege soll das Proletariat die kapi­talistische Ausbeutung beseitigen? Was soll geschehen, wie soll sich die Arbeiter­klasse organisieren, um dieses Ziel zu er­reichen? Kurz, was bildet den Inhalt der so viel gepriesenen opportunistischen „Realpolitik„? Versuchen wir, uns die Ant­wort darauf aus der opportunistischen Praxis zu holen.

Es ist sehr natürlich, dass der Opportu­nismus, der die Hoffnung auf die politi­sche Herrschaft des Proletariats aufgibt, zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu vermitteln sucht. Wo der Sozialismus bis jetzt die schärfsten Klassengegensätze aufdeckte, da sucht der Opportunismus nach Einigungspunkten. Er treibt Kom­promisspolitik. Er will die Spitzen abbre­chen, die Gegensätze überbrücken. So entstehen jene Theorien der Anpassung, des Hineinwachsens etc., durch welche der Opportunismus vor sich selbst und vor der Welt die Hoffnungslosigkeit seines Standpunktes zu verdecken sucht. Sehen wir uns an, zu welchen Resultaten der Opportunismus gelangt, wenn er diese Theorien in die Praxis umzusetzen ver­sucht.

Man sollte meinen, der dem Opportunis­mus nächstliegende Gedanke wäre jener der Verstaatlichungen. Das wäre der Weg der Verständigung, auf dem nichts ohne die Zustimmung der Kapitalistenklasse geschieht und dennoch die Produktion dem kapitalistischen Privatbesitz entzo­gen wird. Das ist ja auch die Basis, auf der sich der Kathedersozialismus aufbaut. Aber gerade an den Gedanken der Ver­staatlichungen wagen sich unsere Op­portunisten am allerwenigsten heran. Wa­rum? Der Grund ist klar: sie fürchten den Staat. Zwar wiederholen sie auf Schritt und Tritt, dass der Staat fortgesetzt und von selbst immer demokratischer werde, aber in der Praxis schrecken sie selbst vor den Konsequenzen ihres eigenen theore­tischen Denkens zurück.

Also Verstaatlichungen — nicht. Dann vielleicht Kommunalisierungen? Um diese macht der Opportunismus ein breites Ge­rede, aber man wird sich vergeblich be­mühen herauszufinden, was denn eigent­lich der Opportunismus in dieser Richtung hin in der Praxis Neues zu proponieren hätte. Die Sozialdemokratie hat ihre Kommunalpolitik entwickelt, ohne auch nur im Geringsten ihre sozialrevolutionä­ren Grundsätze zu verletzen. Im Gegen­teil, die Tätigkeit in der Gemeinde bringt ihr nur von Neuem den Beweis der Not­wendigkeit einer Änderung der kapitalisti­schen Staatsorganisation wie der kapita­listischen Eigentumsordnung. Ob es sich um die Wohnungsfrage, um Elektrizitäts­werke oder um Straßenreinigung, darum, dass in einem Arbeiterviertel ein paar La­ternen mehr aufgestellt werden, und der­gleichen mehr handelt, immer stößt man in der Gemeindepolitik auf die Frage der Grundrente. Die Hausherren benuten je­den Fortschritt, jede Verbesserung, um die Mietpreise zu steigern. Besteuert man sie, so wälzen sie die Steuern auf die Mieter ab. Aber währenddem der revoluti­onäre Sozialist zielbewusst gerade jene Momente hervorzuheben sucht, welche die Kommunalpolitik in Widerspruch set­zen zu der kapitalistischen Eigentums­form, sind sie dem Opportunisten nur Ballast, der bleischwer seine Bewegungen hindert, ebenso viele Hindernisse seiner „positiven Tätigkeit„. Er vermag den Wi­derspruch nicht zu lösen, deshalb sucht er ihm aus dem Wege zu gehen, indem er sich möglichst unbedeutende Aufgaben stellt, bei denen die Gegensätze weniger schroff zum Ausdruck kommen. Aber je geringer der praktische Wert seiner Tätig­keit, desto kühner die theoretischen Spe­kulationen, die er daran knüpft. Der Re­volutionär als Kommunalpolitiker kann sich durch nichts befriedigt fühlen, er hat für alle Mängel und Unzulänglichkeiten ein scharfes Auge und wird gerade deshalb zur treibenden Kraft — der Op­portunist als Kommunalpolitiker hat stets alle Hände voll „positiver Arbeit„, bewegt sich geschäftig wie ein Maulwurf und bleibt wie dieser im engsten Kreise, macht aus jedem Quark ein großes Wesen und glaubt, den Grundstein zum Sozialismus gelegt zu haben, wenn er Volksbrausebä­der und öffentliche Bedürfnisanstalten er­richtet.

Der Opportunist glaubt, durch Kommunal­politik den Kapitalismus ungestalten zu können — in Wirklichkeit scheitert die Kommunalpolitik an dem Kapitalismus, bleibt Stück- und Splitterwerk, wird durch die kapitalistischen Verhältnisse nicht nur gehindert, sondern umgestaltet, oft so, dass das Gegenteil von dem heraus­kommt, was beabsichtigt wurde. Man führt zum Beispiel nach einem Vorort Wasser­leitung und Kanalisation, legt eine Stra­ßenbahn an etc., um den dort wohnenden Arbeitern Bequemlichkeiten zu verschaf­fen und erreicht damit, dass die Arbeiter aus ihren Wohnungen vertrieben werden, da nunmehr Beamte, Lehrer, Offiziere, Rentiers etc. nach dem Vorort ziehen und die Mietpreise steigen.

Die proletarische Kommunalpolitik vermag also die Staatspolitik des Proletariats nicht zu ersetzen. Sie bedarf vielmehr selbst, um sich vollständig entwickeln zu können, einer grundsätzlichen Änderung der öko­nomischen Struktur der Gesellschaft, die ohne die Diktatur des Proletariats nicht durchzuführen ist. Indem der Opportunis­mus mit dieser nicht mehr rechet, unter­gräbt er auch hier den Boden jeder prakti­schen Tätigkeit, deren Gesichtskreis über jenen der bekannten sozialpolitischen Bürgermeister etwas hinausreicht.

Ein weiteres Lieblingsthema der Opportu­nisten sind die Genossenschaften, vor­züglich die Konsumvereine. Und wieder gerät man in die größte Verlegenheit, wenn man herausfinden will, welche be­sonderen Vorschläge der Opportunismus in der Praxis zu machen hat. Gewiss war der Standpunkt der Partei in diesen Din­gen eine Zeit lang einseitig und be­schränkt, doch hat sie die Entwicklung der Konsumvereine nicht nur nicht gehindert, sondern gefördert. Sie hat ihre Freude an dieser Entwicklung, braucht aber deshalb noch keineswegs sich Illusionen hinzuge­ben über die ökonomische Tragweite und die sozialpolitische Bedeutung der Kon­sumvereine und der mit ihnen zusam­menhängenden Genossenschaften. Ge­gen die Versuche der Mittelstandspoliti­ker, die Konsumvereine durch eine fiskali­sche Gesetzgebung zu strangulieren, hat die Partei stets energisch Front gemacht — allerdings nicht gerade, weil es sich um sozialistische Bildungen, um so mehr aber, weil es sich um eine Verbrauchs­steuer auf das Volk handelt —, sonst aber lässt sich zu Gunsten der Konsumvereine, außer einer allgemeinen Propaganda, seitens der Partei tatsächlich nicht mehr viel tun. Der Opportunismus selbst ist weit davon entfernt, die Partei zu einer allge­meinen Gründung von Konsumvereinen aufzufordern, denn das würde allerdings schnell zu einer „kolossalen Niederlage„ führen.

Damit verlassen wir nun überhaupt das Gebiet jener Maßnahmen, die mit mehr oder weniger Aussichten auf Erfolg, auf eine Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft bzw. der grundlegenden Verhältnisse, welche die Ausbeutung be­dingen, hinausgehen. Die Ausbeute, die uns dabei der Opportunismus gewährt, ist äußerst armselig: keine Änderung der Ei­gentumsform auf politischem Wege, keine Verstaatlichungen, eine Kommunalpolitik, die verurteilt ist, Stück- und Flickwerk zu verbleiben, schließlich die Konsumver­eine. Nichts, was die Partei nicht auch schon, ohne opportunistisch zu werden, beachtet hätte, nichts, was die Partei auf diesen Gebieten mehr als bisher vorwärts treiben sollte, nur utopische Phantaste­reien und Illusionen. Das nennt sich „Re­alpolitik„! Der Unterschied ist nur der, dass währenddem die Partei das eine tut, ohne das andere zu lassen, und zum Bei­spiel energische Kommunalpolitik betreibt, ohne deshalb die Eroberung der politi­schen Macht, die ihr die Möglichkeit ge­ben würde, die allgemeinen Verhältnisse im Staat zu ändern, und auch in der Kommunalpolitik ganz andere Potenzen ihr in die Hand legen würde, außer Acht zu lassen, der Opportunismus die Kom­munalpolitik vorschiebt, um den Mangel eines sozialrevolutionären Standpunktes zu decken, und in Folge dieses Mangels die Kommunalpolitik selbst in eine farb­lose Reformtätigkeit im seichtesten bür­gerlichen Sinne auflöst.

Mag sich der Opportunismus sozialistisch oder gar sozialrevolutionär nennen, Tat­sache ist, dass für ihn in der Praxis jede grundsätzliche Änderung der ökonomi­schen Struktur der Gesellschaft in den weiten Hintergrund tritt. Da wird der Sozi­alismus bestenfalls zu einem Glaubensar­tikel, den man nur gewohnheitsmäßig hersagt, ohne ernstlich daran zu denken, ihn im Leben zu verwirklichen. Darum wird dem Sozialismus so gern von den Op­portunisten das Gebiet der Propaganda eingeräumt: über den Sozialismus reden, so viel man will, nur für die Praxis sei das nichts, da müsse „Realpolitik„ getrieben werden. Das Prinzip antasten — bewahre! Nur sei das Prinzip eins und die Taktik etwas ganz anderes, dem Prinzip diamet­ral Entgegengesetztes!

Je mehr der Opportunist den Sozialismus in die weiteste Ferne, in das Reich der Phantasie verlegt, desto mehr lernt er, sich den kapitalistischen Verhältnissen unterzuordnen. Das ist etwas ganz ande­res, als sich nach den Verhältnissen rich­ten, um sie für vorgefasste Zwecke um so besser ausnützen zu können. Der Unter­schied zeigt sich besonders in der Arbei­terschutzgesetzgebung.

Bei der Aufstellung ihrer Arbeiterschutz­forderungen richtet sich die Sozialdemo­kratie nach den allgemeinen Verhältnis­sen der kapitalistischen Produktion. So­weit es sich dabei um Einschränkungen der Ausbeutung handelt, steht und fällt ja die Fabrikgesetzgebung mit dem Kapita­lismus. Die Sozialdemokratie geht noch weiter und zieht bei der Abfassung ihrer Gesetzesanträge die allgemeinen indus­triellen Verhältnisse des Landes in Be­tracht. Aber das alles genügt noch der opportunistischen „Realpolitik„ nicht. Da es sich um ein Gesetz handelt, so erkun­digt sich der Opportunist vor Allem nach den parlamentarischen Konstellationen. Was werden die bürgerlichen Parteien sagen? Wie wird sich die Regierung zu der Frage stellen? Und er reduziert seine gesetzgeberische Forderung, obwohl er von der ökonomischen Möglichkeit ihrer Durchführung überzeugt ist, um nur die nötige Stimmenzahl im Parlament und die Einwilligung der Regierung zu erlangen. So entsteht jene Scheingesetzgebung, von der der Millerandsche Normalar­beitstag und seine Streikregulierungsvor­lage die kennzeichnenden Beispiele sind. Statt auf die parlamentarischen Parteien einen Druck von außen auszuüben, statt die Zusammensetzung des Parlaments zu beeinflussen, kurz, statt das Parlament dem eigenen Willen anzupassen, fügt sich der Opportunist von vornherein der bürgerlichen Parlamentsmehrheit.

Wenn nun diese opportunistische Taktik in der Arbeiterschutzgesetzgebung an Stelle einer Politik tritt, welche die politi­schen Gegensätze auf die Spitze treibt, so kann sie zunächst wohl einige kleine Er­folge erzielen. Die bürgerlichen Parteien sind dann froh, dass die Spannung nach­lässt und zeigen dann ihrerseits etwas Entgegenkommen. Der Opportunismus verdankt also jene Erfolge nicht sich selbst, sondern er liquidiert bloß die über­nommene Erbschaft, er wechselt das durch langjährige sozialrevolutionäre Agitation gesammelte Kapital in kleine Münze aus. Es ist sehr begreiflich, dass der Opportunismus, der nichts vor sich hat, keine politischen Perspektiven, kein Endziel, das aus dem Sozialismus ein verschwommenes utopistisches Ideal macht, da dessen sozialrevolutionärer Zu­sammenhang seinem Gesichtskreis ent­schwindet, nach sofortigen „positiven„ Erfolgen trachtet, denen zu Liebe er die Vergangenheit und die Zukunft opfert. Aber diese politische Verschwendung en­det noch rascher und schmählicher, als jede andere Form der Verschwendung. Die Bourgeoisie, die sich erst darüber freut, dass sich die Sozialdemokratie auf Kompromisse einlässt, wird, je mehr Ent­gegenkommen sie von ihrem Widerpart findet, desto zurückhaltender. Da ist der Bourgeois ein zu guter Geschäftsmann, um nicht seinen Vorteil wahrzunehmen. Je weniger energisch die Sozialdemokra­tie auftritt, um so weniger Respekt hat man vor ihr. In gleichem Maße steigt die Liebenswürdigkeit, mit der man sie be­handelt. „Sozialistengesetz? Um Gottes Willen, nein, da macht man nur die Führer zu Märtyrern und reizt die Massen! Aber wozu auch? Es sind ja ganz nette, disku­table Leute, die der Staatsräson wohl zu­gänglich sind. Sozialpolitik? Ja gewiss, freilich, berechtigte Forderung der Arbei­ter! Aber nur nicht alles auf einmal. Der Staat, die Regierung haben auch ohne­dies kolossal viel zu tun. Was die Dinge im fernen Ostasien allein für Sorgen ma­chen! Die Unterstützung unserer stam­mesverwandten Buren in Südafrika und die Abmachungen mit dem Vetter über dem Kanal! Bald passiert in Zentralame­rika was, bald auch in der Türkei! Wir müssen Weltpolitik treiben. Dazu der Mi­litarismus, die Marine, Panzerbauten — Beschäftigung für Arbeiter, auch Sozial­politik! Also nur geduldig warten, mit der Zeit, vielleicht später einmal — warum denn nicht, wir denken modern! Ihr sagt ja auch, die Entwicklung sorgt schon von selbst … Immer langsam voran. Wir ma­chen gelegentlich auch wieder ein biss­chen Sozialpolitik, indessen jetzt müssen wir die Lebensmittelzölle erhöhen!„

Kein Mensch wird sich nach der Zeit zu­rücksehnen, da die Partei unter dem „Schandgesetz„ stand. Aber vergessen wir nicht, dass die deutsche Sozialdemo­kratie das Sozialistengesetz nicht dadurch stürzte, das sie die Hand leckte, welche über sie die Peitsche schwang, sondern durch ehernen Trotz. Nicht weil sich die Sozialdemokratie mit dem kapitalistischen Staate ausgesöhnt hatte, sondern weil sie unter dem Ausnahmegesetz eine Furcht einjagende Macht geworden war, ließ man dieses Gesetz fallen. Und diese heil­same Furcht vor der Sozialdemokratie ist auch die hauptsächliche bewegende Kraft der Arbeiterschutzgesetzgebung. Dafür haben wir ja das klassische Zeugnis Bis­marcks, das uns so große agitatorische Dienste leistet: „Wenn die Furcht vor der Sozialdemokratie nicht wäre, hätten wir auch das bisschen Sozialreformen nicht, das wir besitzen.„ Darum gehen denn auch sozialrevolutionäre Agitation und Sozialreform Hand in Hand. Wenn das Proletariat sich anschickt, die ganze ka­pitalistische Gesellschaftsordnung aus den Angeln zu heben, dann gibt ihm die Bourgeoisie Arbeiterschutzgesetze, um es zu beruhigen — wenn das Proletariat die ökonomischen Grundlagen in Ruhe lässt und in aller Bescheidenheit den zehn­stündigen Arbeitstag verlangt, dann wird er ihm nicht gewährt, um es nicht zu be­gehrlich zu machen, sondern es erhält die Vertröstung auf den elfstündigen Ar­beitstag!

Ganz abgesehen schon vom Ausbeuter­interesse, selbst die feindselige Gleich­gültigkeit der Kapitalistenklasse in allen Dingen, welche den Arbeitern von Nutzen sind, kann nur durch den Druck der Mas­sen gebrochen werden. Der Opportunist mag dem Kapitalisten noch so gelehrt oder beredt nachweisen, dass eine Ver­kürzung der Arbeitszeit die Tagesleistung der Arbeiter nicht verringern würde, so wird der Unternehmer doch bei der alten Arbeitszeit bleiben, wenn er nicht ge­zwungen wird, es anders zu machen. Aber gerade dadurch, dass der Opportu­nist seine Arbeiterschutzanträge der bür­gerlichen Parlamentsmehrheit anpasst, vermindert er ihre Anziehungskraft auf die Arbeiterklasse. Er verlangt zum Beispiel nicht den gesetzlichen Achtstundetag, sondern den zehn- oder elfstündigen, weil er hofft, diesen im Parlament leichter durchzudrücken; dadurch schiebt er die fortgeschrittenen Schichten der Industrie­arbeiter zur Seite, die bereits den neun­stündigen Arbeitstag haben, für die also der zehnstündige kein praktisches Inte­resse mehr hat; das verminderte Inte­resse der Arbeitermassen kommt selbst­verständlich auch in der Öffentlichkeit zum Ausdruck, das Parlament sieht sich von außen weniger bedrängt — in Folge dessen gewährt es auch nicht einmal den elfstündigen Normalarbeitstag. Auch die Argumentation, welche der Opportunist anwendet, um den kurzen Normalar­beitstag, die wichtigste Forderung des Ar­beiterschutzes, die auf der Tagesordnung steht, zu verteidigen, ist sehr bemerkens­wert. Er will vor Allem dem Unternehmer­tum beweisen, dass die Kürzung der Ar­beitszeit ihm keinen Schaden, vielmehr Vorteile bringen würde. Nun ist es gewiss eine wichtige Sache, die kapitalistischen Übertreibungen der störenden Wirkungen der Arbeiterschutzgesetze zurückzuwei­sen, aber auf den Standpunkt stehen wir denn doch nicht, dass wir nur solche Fab­rikgesetze verlangen, unter denen das kapitalistische Interesse keine Einbuße erleidet. Sonst kämen wir niemals zum Verbot der Kinderarbeit, der Nachtarbeit u.a.m. diese Rücksichtnahme auf das ka­pitalistische Interesse vermindert die Agi­tationswirkung auf die Arbeiter, deren Vorteile sich nie konsequent wahrnehmen lassen, ohne das Ausbeuterinteresse zu verletzen.

So führt auch in der Arbeiterschutzge­setzgebung der Versuch des Opportunis­mus, über die Klassengegensätze hinweg eine Verständigung zu erzielen, nur zur Lähmung der politischen Aktion des Pro­letariats. Das Kapital, das die herr­schende Klasse ist und also nur die be­stehenden Staatszustände zu verteidigen hat, zieht nur Vorteile daraus, wenn die Schärfe des Klassenkampfes gemildert wird, mit anderen Worten die Opposition gegen seine herrschende Stellung nach­lässt. Darum seine Sehnsucht nach dem „sozialen Frieden„.

Die Gewerkschaften! Währenddem die bürgerliche Presse, bis tief hinein in die Reihen der hohen Bourgeoisie, in den Gewerkschaften Arbeiterorganisationen erblickt, die sich auf dem Boden der ka­pitalistischen Gesellschaftsordnung häus­lich einrichten, bestimmte Interessen ver­treten, ohne deshalb die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten — behauptet der Opportunismus, die Entwicklung der Ge­werkschaften führe zur Strangulierung der Kapitalistenklasse, zur allmählichen Be­seitigung des kapitalistischen Privatei­gentums. Originell ist dieser Gedanke nicht, es ist die alte Redensart, die der Kapitalist gern bei Streiks in Umlauf setzt, um die öffentliche Meinung gegen die Ar­beiter aufzuhetzen: die Gewerkschaft wolle statt seiner „Herr im Hause„ sein! Beide Anschauungen sind Übertreibun­gen. Die Gewerkschaften sind durchaus nicht harmlos, sie sind proletarische Kampforganisationen, die ihre Spitze ge­gen die kapitalistische Ausbeutung keh­ren. Aber obwohl sie Kampforganisatio­nen sind, sind sie doch, für sich genom­men, durchaus nicht im Stande, die öko­nomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft umzuwälzen, sondern sie führen nur durch ihre Tätigkeit ebenfalls den Beweis der Notwendigkeit jener politi­schen und ökonomischen Änderungen, welche durch die Diktatur des Proletariats eingeleitet werden. Der Zusammenhang zwischen der gewerkschaftliche Tätigkeit und der Arbeiterschutzgesetzgebung wird jetzt von Niemand bestritten, — wie aber die opportunistischen Gesichtspunkte die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzge­bung hemmen, ist soeben nachgewiesen worden. Aber der opportunistische Stand­punkt erweist sich überhaupt der gewerk­schaftlichen Praxis hinderlich. Die Ge­werkschaften müssen in ihren Kämpfen auf die industrielle Lage, auf die Konkur­renz und sonstige kapitalistische Verhält­nisse Rücksicht nehmen, weil diese Mo­mente sehr von Einfluss sind auf den Ausgang des Kampfes; aber wenn die Situation günstig ist, wagen die Gewerk­schaften den Angriff auf das Kapital, sollte selbst darunter die industrielle Entwick­lung beziehungsweise die Konkurrenz lei­den. Je größer und länger andauernd ein Streik ist, desto größer, mit Ausnahme der von den Unternehmern selbst provozier­ten Streiks, der Schaden, den er der In­dustrie zufügt, desto schwieriger ist er wieder gut zu machen. Aber allen derarti­gen Vorhaltungen der Unternehmer ant­worten die Gewerkschaften: „Wir wollen Zustände, unter denen wir ein men­schenwürdiges Dasein führen können (das ist z.B. der Grundsatz des Living Wage)!„ Das heißt mit anderen Worten: wollten wir uns grundsätzlich nach dem kapitalistischen Interesse richten, so kä­men wir nie aus dem Elend heraus; wir setzen also unser menschliches Interesse dem Interesse der Kapitalakkumulation, der Konkurrenz etc. entgegen; kann die kapitalistische Gesellschaft unsere Forde­rungen nicht befriedigen, dann weg mit dieser Gesellschaftsform.„ Aus der Ware Arbeitskraft erhebt sich eine menschliche Stimme, die gegen diese ökonomische Verpuppung der Menschen protestiert und dadurch gegen die gesamte ökonomische Struktur, deren unentbehrlicher Bestand­teil der Mensch — Ware ist. Der Opportu­nismus aber trägt auch hier am meisten Rechnung den kapitalistischen Unzuläng­lichkeiten. Er ist ängstlich besorgt um die Interessen der Industrie und deshalb am ehesten bei der Hand, um im Interesse der industriellen Entwicklung einen Streik zu hindern, eine gewerkschaftliche Aktion zu verurteilen. Ich erinnere nur an die Haltung Bernsteins im großen englischen Maschinenbaustreik. Darum sucht der Opportunist auch hier, zu versöhnen, zu vereinigen, und legt ein so großes Ge­wicht auf die Tarifgemeinschaften, die Ei­nigungsämter etc. Indem er also den ge­werkschaftlichen Kampf mehr als nötig zu­rückhält und abstumpft, bildet er sich ein, dadurch dem Kapitalismus den Garaus zu machen.

In Allem, was der Opportunismus beginnt, immer dasselbe Spiel: Da er mit der Mög­lichkeit der Diktatur des Proletariats bzw. der sozialen Revolution praktisch nicht mehr rechnet, unterstellt er eine unab­sehbare Dauer der kapitalistischen Pro­duktionsweise. In Folge dessen bleibt er ratlos, sucht keinen Ausweg, wenn er bei der Wahrnehmung der Arbeiterinteressen Hindernissen begegnet, die sich aus dem Ausbeutungscharakter der kapitalisti­schen Produktion, also ihrem ureigensten Wesen, ergeben, Darum ist seine „Real­politik„ nichts anderes als ein fortwähren­des Bremsen, Zurückhalten des proletari­schen Klassenkampfs in allen seinen Er­scheinungsformen.

Wer aber sich auf den Boden der kapita­listischen Produktionsweise stellt, der muss auch den kapitalistischen Staat mit in den Kauf nehmen. Wie nun der Op­portunismus seine Kapitulation vor der kapitalistischen Produktionsweise durch eine theoretische Verwischung der Gren­zen zwischen Kapitalismus und Sozialis­mus markiert, so sucht er seine Unter­werfung unter den kapitalistischen Staat durch den Hinweis auf die fortschreitende Demokratisierung des Staats zu decken. Allein die demokratische Form beseitigt noch nicht den Klassencharakter des Staats. Diese Erfahrung muss der Op­portunist auf Schritt und Tritt machen. In gleicher Zeit, wie er seine Arbeiterpolitik immer mehr einschränkt, sieht er sich ge­nötigt, kapitalistische Staatspolitik zu trei­ben.

Wie soll zum Beispiel der Opportunist die Kolonialpolitik grundsätzlich bekämpfen, da er weiß, aus seinen Marxstudien nur zu gut weiß, dass der kapitalistische Staat Kolonialpolitik treiben muss, wenn er nicht unter der Last der Überproduktion zu­sammenbrechen soll? So beschränkt er denn seine Kritik auf Äußerlichkeiten und lebt schließlich nur noch von der Gnade der Kolonialbanditen und persönlichen Schufte, die für die Füllung der Rubrik „Kolonialgräuel„ sorgen und ihm dadurch die oppositionelle Stellung erleichtern. Sonst aber — warum soll nicht Deutsch­land Kiautschou in Besitz nehmen? Wa­rum sollen „wir„ nicht auch unseren Anteil haben? Wer einmal mit diesen Gedan­kengängen nicht fertig werden kann, der wird bald die ganze kolonialpolitische Li­tanei hersage. Und wenn er auch fortfährt gegen einzelne Kolonialgräuel Protest zu erheben, so wird er doch bald lernen, von dieser Blut- und Eisenpolitik in ihrer Ge­samtheit ein Auge zuzudrücken. Denn was ist Kolonialpolitik? Der Versuch, mit Gewalt die kapitalistische Ausbeutung Völkern aufzunötigen, die in naturwüchsi­gen Verhältnissen leben und sich mit Leib und Seele dagegen wenden, ins Joch des Kapitals gebracht zu werden. Und das er­reicht man eben weniger mit Parlaments­reden als mit Flinte und Peitsche.

Aber wenn bei der Kolonialpolitik noch eine gewisse Wahl besteht, ob man mit­tun soll oder nicht, so beim Militarismus schon gar keine. Man entblöße einen mo­dernen kapitalistischen Industriestaat von seiner Armee, und er hört auf zu existie­ren. Die Volksmiliz? Aber die Volksmiliz wird von der Kapitalistenklasse niemals bewilligt werden. Zwar der einzige Grund dafür ist, dass das Kapital die Armee ge­gen den inneren Feind braucht, und die­ser wirft alle demokratischen Redensarten und die ganze opportunistische Harmo­nieduselei über den Haufen —, aber im­merhin, Tatsache ist, dass die Verwand­lung der stehenden Heere in Volksmiliz in den kapitalistischen Industriestaaten die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat zur Vorbedingung haben müsste; da nun der Opportunist mit der Diktatur des Proletariats in der Praxis nicht mehr rechnet, so bleibt ihm als Re­alpolitiker nichts mehr übrig, als sich mit dem stehenden Heere zu versöhnen. Und so sehen wir, wie er sich auf den Weg zur Bewilligung des Armeebudgets begibt. Freilich wagt er es hier am allerwenigsten, die Konsequenzen seines Standpunktes zu ziehen. Er wäre nicht abgeneigt, neue bessere Ausrüstungen zu bewilligen, aber er macht einen Unterschied zwischen Bewaffnungsvorlagen und reinen Militär­vorlagen, die einer Erhöhung der Prä­senzstärke verlangen. Der Unterschied ist nicht stichhaltig. Entscheidend in einem modernen Krieg ist nicht nur die Waffe, sondern auch die Zahl. Begibt man sich einmal auf den Standpunkt der militäri­schen Zweckmäßigkeit, so wird man sich bald überzeugen müssen, dass eine kleine, wenn auch gut ausgerüstete Ar­mee ebenso ihrem Verderben entgegen geht, wie eine große Armee, die schlecht ausgerüstet ist. Also erst die Waffen für die Soldaten, dann die Soldaten für die Waffen — wenn man konsequent sein will.

Wer aber dem Militarismus zustimmt, der muss auch den Steuern zustimmen.

Der Opportunismus hört also nicht etwa mit der Arbeiterpolitik auf, er setzt sich in der Demokratie fort, er führt zu einer voll­ständigen Assimilierung an die kapitalisti­sche Staatspolitik. Das ist auch sehr be­greiflich. Der Bauer und der Handwerker machen dem Kapitalismus Opposition vom Standpunkt bestimmter Produkti­onsformen, die von ihm ruiniert werden. Was aus dem Kapitalismus selbst wird, geht sie nichts an. Anders das Proletariat. Es kämpft nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft. Es kann den Ka­pitalismus nur vom Standpunkt der sozia­len Revolution bekämpfen. Gibt es diesen Standpunkt auf, so bleibt nichts übrig, als sich dem Gefüge der kapitalistischen Ge­sellschaftsordnung anzubequemen — es hat nicht, wie der Handwerker, eine unter­gehende Gesellschaftsordnung zum Le­ben zurückzurufen. Das Proletariat kann nur entweder der Totengräber oder der Untertan des Kapitals sein. Aber nach ei­nem Jahrhundert sozialrevolutionären Kampfes ist es nicht mehr denkbar, dass das Proletariat sich willig in die kapitalisti­sche Hörigkeit fügen sollte. Die Schluss­folgerung für den Opportunismus ergibt sich daraus von selbst.

Der Opportunismus bedeutet ein Nach­lassen der politischen Energie auf allen Gebieten, eine allgemeine Deroute, eine Konfusion und Ratlosigkeit. Er greift selbst darüber hinaus, wozu er durch das Aufgeben des sozialrevolutionären Standpunktes genötigt wird. Das zeigte sich besonders in der Zollfrage. Hier konnten wir in den letzten Jahren beo­bachten, wie nicht nur der kapitalistische Einfluss den sozialrevolutionären Ge­sichtspunkt verdunkelte, sondern selbst das der kapitalistischen Entwicklung Deutschlands zuwiderlaufende Schutz­zollgeschrei in der sozialdemokratischen Literatur Anklang fand.

Der Opportunismus innerhalb der Sozial­demokratie ist nichts anderes als ein Na­tionalliberalismus, der sich den besonde­ren Verhältnissen einer parlamentari­schen Arbeiterpartei anpasst.

* Ich darf wohl daran erinnern, dass ich schon auf dem Stuttgarter Parteitag [1898], wo bei der Begründung der sozial­revolutionären Taktik in unserer Partei die Gewaltpolitik der Regierung meines Er­achtens eine größere Rolle spielte, als nötig war, Folgendes ausführte: „Dieses brutale Verhalten der Regierung tritt aber nicht in jedem kapitalistischen Staate zu Tage. Wir sehen in England eine andere Taktik, und in dem Moment, wo man auch in Deutschland zu der Einsicht kommt, dass man die sozialdemokratische Bewe­gung nicht mit Zuchthausmitteln be­kämpfen kann, dass man es hier mit ei­nem Produkt der ökonomischen Entwick­lung zu tun hat, in dem Moment wird die Heinesche Idee gefährlich. Die Entwick­lung wird dazu führen, dass man ein par­lamentarisches Auskommen mit der Sozi­aldemokratie sucht, und dann werden die Ideen, die Heine jetzt schüchtern aus­spricht, praktisch werden.” Seitdem ist die Regierung auf den Weg zu einem solchen parlamentarischen Auskommen getreten, und obwohl sie sich keineswegs beeilt, in dieser Richtung vorwärts zu kommen, ist doch die Heinesche Kompromisspolitik uns praktisch näher gerückt.

1 Friedrich Engels, England 1845 und 1885, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 21, S. 191-197, hier S. 196

2 Neuer Kurs: Regierungspolitik nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und der Entlassung Bismarcks.

Umsturzvorlagen: Im Reichstag 1895 ein­gebrachtes Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterbewegung, das keine Mehrheit fand, im Weiteren Sinne auch verwandte Gesetzentwürfe wie die „Zuchthausvor­lage„ von 1899 gegen effektive Streik­posten etc.

3 Diese Bezeichnung Auers, die offenbar als Kontrast zum Italiener Machiavelli ge­meint war, gab den Opportunisten Anlass zu antisemitischen Ausfällen gegen Par­vus.

** Übrigens verschiebt hier Bernstein die Tatsachen. Die Diskussion über seine Ansichten war bereits vor dem Erscheinen seiner „Voraussetzungen” in vollem Zuge und durch nichts mehr aufzuhalten. Von verschiedenen Seiten in der Partei wurde sehr energisch nach einer klaren Schei­dung verlangt. Kautsky selbst, der an der Diskussion nicht teilnahm, wurde von mir öffentlich zur Stellungnahme aufgefordert. Es blieb ihm nichts übrig, als entweder gegen Bernstein aufzutreten oder sich mit Bernstein solidarisch zu erklären. Durch den Vorschlag einer zusammenfassenden Veröffentlichung wurde unter diesen Um­ständen Bernstein in Wirklichkeit die letzte Möglichkeit geboten, das Gesche­hene gut zu machen.

*** So auch im ursprünglichen Text.

**** Mit Ausnahme einerseits der bei den Staatseisenbahnen und den sonstigen staatlichen Verkehrsanstalten, sowie in der Forstwirtschaft Beschäftigten, ande­rerseits der Beamten, liberalen Berufsar­ten und Rentner.

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