Parvus: Der Opportunismus in der Praxis (1901) [Neue Zeit, 19. Jahrgang 1900-1901, II. Band, Nr. 46, 47, 48, 50, 51, S. 609-615, 659-663, 673-684, 740-748, 786-794] 1. Der Opportunismus und die sozialrevolutionäre Entwicklung „Das beweist wieder einmal, von welch unheilbarer Unbeständigkeit jener schreckliche Despot der guten Gesellschaft ist: die öffentliche Meinung der Mittelklasse, und rechtfertigt wieder einmal die Verachtung, die wir Sozialisten einer vergangenen Generation stets für diese öffentliche Meinung hegten.” Friedrich Engels Kein Zweifel mehr, wir haben jetzt in Deutschland einen vollkommenen, ausgewachsenen Opportunismus. Es gab eine Zeit — es ist noch nicht lange her, die jüngsten in der Partei können sich ihrer erinnern — da die deutsche Sozialdemokratie als immun gegen den Opportunismus galt. Während jener Zeit genügte es, den opportunistischen Charakter einer politischen Handlung nachzuweisen, um sie innerhalb der Partei unmöglich zu machen. Denn dass die Partei nicht opportunistisch sein darf, nicht opportunistisch sein kann, das galt als Axiom. Wer etwa noch vor zwei oder drei Jahren gegen eine Parteigröße den Vorwurf des Opportunismus zu erheben wagte, wurde als Schwarzseher verschrien und musste sich in Acht nehmen, um nicht als Krakeeler, wegen „persönlicher Verunglimpfung” aus der Partei hinausgeschmissen zu werden. Nunmehr scheut man weder das Wort noch den Inhalt des Opportunismus. Politische Modefexe — es gibt solche auch innerhalb unserer Partei — prahlen mit ihrem Opportunismus und tragen ihn auf allen Märkten zur Schau. Dagegen hat der Revolutionismus in den Augen dieser Politiker vom allerneuesten Schnitte entschieden etwas Altväterliches, Provinzlerisches, wie die langen Röcke und die unförmigen Zylinder von Anno 1848. Kurz, der Opportunist ist da und freut sich seines Daseins. Und seine Existenz dient ihm als Hauptargument seiner Daseinsberechtigung und seines Wertes. Er erklärt: „Bin ich nicht wiederholt verleugnet, widerlegt und sonst vernichtet worden? War nicht schon oft alle Welt überzeugt, dass, nachdem meine Geistesarmut, meine Ignoranz und meine Zitatenfälschungen so schonungslos und mit so viel Recht aufgedeckt wurden, ich nicht mehr werde aufkommen können? Aber ich komme immer wieder und werde nur noch unverschämter. Liegt nicht darin der Beweis, dass ich das naturnotwendige Produkt einer geschichtlichen Entwicklung bin? Wo bleibt da die sozialrevolutionäre Erkenntnis?” Die Entwicklung der Sozialdemokratie kann nicht losgelöst werden von der allgemeinen politischen Entwicklung der kapitalistischen Welt. Die sozialrevolutionäre Aktivität des Proletariats ist nicht gleichwertig mit seiner sozialrevolutionären Erkenntnis. Und die sozialrevolutionäre Erkenntnis ist nicht einfach das Produkt der sozialrevolutionären Propaganda. Der Fleiß und die Zielklarheit unserer Agitation bestimmen allein noch bei Weitem nicht den sozialrevolutionären Effekt. Die großen Zusammenhänge des Weltmarktes, welche das Tempo der industriellen Entwicklung bestimmen, der periodische Wechsel von Aufschwung und Krisis, Stagnation der Bevölkerung auf dem Lande oder ihr Zusammendrängen in den Städten, Auswanderung, Entwicklung kapitalistischer Kolonien, die Entstehung neuer Industrieländer und der Untergang alter Wirtschaftsformen, die Bildung neuer Großstaaten und die Schwächung oder Zersplitterung alter, Krieg und Frieden, der Nationalitätenkampf, der Kampf zwischen Kirche und Staat, das alles sind Momente, die einen gewaltigen Einfluss auf die sozialrevolutionäre Aktivität des Proletariats ausüben. Wie in der ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitals, so gibt es auch im Emanzipationskampf des Proletariats Perioden einer potenzierten und einer verlangsamten Entwicklung, Zeiten eines begeisterten Stürmens und Drängens, da die Arbeiterklasse durch die mutige Entschlossenheit ihres Auftretens und die Kühnheit ihrer Pläne die Welt in Staunen setzt, Zeiten der Depression, da sie unschlüssig, zaghaft wird und ihre weltbewegende Kraft in Kleinigkeiten zu verausgaben scheint. Nach dem großen geschichtlichen Stürmen der achtundvierziger Revolution, das die Regierungen stürzte und die kapitalistische Welt beinahe aus den Angeln hob, trat eine starke Depression ein, in den sechziger Jahren ein neuer Aufschwung, der in der Internationale, der Kommune und den großangelegten politischen Organisationen der deutschen Arbeiter seinen Ausdruck fand, nach den Ereignissen von 1870/71 abermals in Rückschlag, der begreiflicher Weise in Frankreich am längsten dauerte, und dann ein neuer Aufschwung. Diese letzte Periode ist gekennzeichnet durch die Sammlung des Proletariats zu großen parlamentarischen Parteien. Vor allem in Deutschland, wo unter der raschen Entwicklung zum kapitalistischen Großstaat Massen von Fabrikarbeitern sich sammelten, ganze Gewerbezweige revolutioniert wurden, wie die Schneiderei durch die Konfektion, die Schuhmacherei durch die Schuhfabriken, da mit dem Wachstum der Großstädte eine moderne Bauarbeiterschaft entstand, die ganz anders war als die Maurer und Tischler der Kleinstädte, überall sich ein neues politisches und kulturelles Leben regte, in welches die Sozialdemokratie fertige Organisationen und ein zielklares Programm hineinbrachte; während die Bourgeoisie, die nichts hinter sich hatte als die politische Tradition der Halbheit, der Schwäche, der Feigheit, des Verrats, Bismarck zu Füßen kroch, weil dieser Hausknecht des Hauses Hohenzollern ihr die deutsche Einheit, die sie nicht zu erringen wusste, als Gnadengeschenk des Königs von Preußen zuwarf, und der Eiserne selbst sich in einen ebenso törichten wie, bei aller Brutalität, unentschlossenen Streit mit dem katholischen Klerus verwickelte, der mächtig wachsenden jungen Sozialdemokratie aber durch das Sozialistengesetz Klassenbewusstsein und Zusammenhalt einpaukte! Aber auch in Frankreich, Österreich, Italien, Belgien, Holland, der Schweiz, Dänemark, Schweden-Norwegen, Spanien. Ihren höchsten Glanzpunkt hat diese neue Aufschwungsperiode des sozialrevolutionären Kampfes vorläufig 1889 in Paris erreicht. Zwar sind seitdem die Organisationen gewaltig erstarkt, doch ist eine solche Energie der revolutionären Initiative, wie auf dem ersten internationalen sozialistischen Arbeiterkongress, dessen Zusammenberufung schon selbst eine gewaltige Leistung war, nicht mehr erreicht worden. Etliche Jahre hielt sich die Bewegung auf der gleichen Höhe, dann trat die Verflauung ein, innerhalb der wir uns jetzt befinden. Das Wachstum der Organisationen dauert fort, aber die Oberfläche der großen geschichtlichen Strömung ist nicht mehr so einheitlich, wir sehen Neben- und Querströmungen, die sich in dünnen Fäden hinschlängelnd, auch finden wir Öl auf den Wogen. Die Erscheinung lässt sich durch mannigfaltige, positive und negative Gründe erklären. Die parlamentarische Sammlung war zunächst agitatorischer Selbstzweck. Aber auf die Dauer konnte der Parlamentarismus nicht reines agitationsmittel bleiben. Mit dem Wachstum des parlamentarischen Wertes der Partei stellte sich das Bestreben ein, unmittelbare parlamentarische Erfolge zu erzielen. Als kleine und schwache parlamentarische Partei setzte die Sozialdemokratie manches auf das Konto des Klassencharakter des Staates, was nur das Ergebnis ihrer Schwäche war. Wenn dann die erstarkte Partei doch mancherlei im Parlament zu erreichen vermag, so spiegelt es sich im Kopfe das Parlamentariers leicht als Widerspruch zu der grundsätzlichen Bekämpfung des kapitalistischen Staates wider. Zugleich wird die politische Tätigkeit der Sozialdemokratie immer mannigfaltiger, reichhaltiger, geht massenhaft in die Details. Die politische Kleinarbeit des Tages ist nicht nur unvermeidlich, sie ist in ihrer Gesamtheit eminent revolutionär, aber Mancher, der sich auf eine Detailarbeit konzentriert, verliert die großen Zusammenhänge aus den Augen. Überhaupt kann man von einer geschichtlichen Bewegung wie jene des Proletariats, deren zahlreiche politische Erscheinungsformen das gesamte öffentliche Leben zu erfassen sich anschicken, nicht erwarten, dass sie in jeder Einzelheit ihren Grundcharakter offen zur Schau tragen wird. Je gewaltiger die sozialrevolutionäre Bewegung wird, desto leichter kann es in den Details Abweichungen und Störungen geben, desto schwieriger ist es überhaupt, aus den Details den Grundcharakter der Bewegung zu erkennen, desto mehr muss man auf den Massenzusammenhang die Aufmerksamkeit richten. Also, der Parlamentarismus stellt der Sozialdemokratie viele kleine praktische Aufgaben, die leicht von dem Wege der grundsätzlichen Bekämpfung des kapitalistischen Staates ablenken, noch leichter den Beobachter irreführen. Andererseits kann der ungemein schmerzhafte Prozess der Revolutionierung des Handwerkes, der zahlreich verzweifelte Existenzen in die Reihen der Sozialdemokratie brachte, nunmehr auch für das westeuropäische Festland im Wesentlichen als beendet gelten. Der ruinierte Handwerker findet schon in einer allgemeinen Kritik der kapitalistischen Zustände eine Genugtuung, einen moralischen Halt. Dem Industriearbeiter genügt das nicht. Er will vor allem aus seinem Elend heraus. Er will Änderungen, große, umwälzende, wenn möglich, kleine Änderungen, wenn es nicht anders geht. Ich kann mich hier nicht dabei aufhalten, wie das zu lösen ist, ich konstatiere bloß, dass daraus ebenfalls das Verlangen nach „positiver” Tätigkeit entspringt. Schließlich ist in der Staatspolitik gegenüber der Sozialdemokratie eine wesentliche Änderung eingetreten. Man darf annehmen, dass im Allgemeinen die Epoche der politischen Entrechtung und Bevormundung des Proletariats vorbei ist. Ich will durchaus nicht behaupten, dass der kapitalistische Staat auf Anwendung von Gewalt gegen die Sozialdemokratie verzichtet hat, ganz und gar nicht, aber von der Nutzlosigkeit kleinlicher Polizeiarbeit hat er sich überzeugt. In diesem Augenblick ist er, nach den vielen Niederlagen im Kampf gegen die Sozialdemokratie, besorgt, mit dieser ein parlamentarisches Auskommen zu schaffen. Das ist nicht nur in Frankreich der Fall, wo ein förmliches Ministerium des „sozialen Friedens” geschaffen wurde, sondern auch in Deutschland, in Österreich, seit jüngster Zeit in Italien. Diese Taktik wird noch durch den Umstand begünstigt, dass die Kolonialpolitik und die äußere Politik in den letzten Jahren für die kapitalistischen Staaten eine Bedeutung erlangt haben, wie schon lange nicht mehr; dadurch wird die Aufmerksamkeit der Regierungen von der inneren Politik abgelenkt und das Verlangen wird wach nach dem Frieden im Inneren, um freie Hand zu haben zum Unfrieden im Äußeren. Auch dieses Nachlassen der politischen Reaktion wirkt beschwichtigend und erzeugt in den Köpfen desto üppigere Illusionen, je fetter vorher der Boden durch sozialreformerischen Mist gedüngt wurde.* Zur Förderung dieser Illusionen hat auch der industrielle Aufschwung der letzten Jahre seinen Teil beigetragen. Alle diese Momente sind selbstverständlich nicht im Stande, den sozialrevolutionären Charakter des proletarischen Klassenkampfes zu ändern, allein sie reichen vollkommen aus, um in den Köpfen etlicher Parlamentarier, Advokaten und Journalisten jenen Ideenmischmasch zu erzeugen, welchen den Opportunismus charakterisiert. Das Ganze findet in den Hohlköpfen bürgerlicher Zeitungsmenschen den nötigen Resonanzboden in der Öffentlichkeit. Es lassen sich aber auch bereits deutlich genug die Anzeichen einer Entwicklung wahrnehmen, die zu einer neuen sozialrevolutionären Konzentration des Proletariats führen muss. Auf dem kapitalistischen Weltmarkt bereitete sich eine Verschiebung des kommerziellen Schwergewichtes vor. Alle Welt sieht, wie die Handelsmacht Englands bedroht ist. Das kann nicht ohne Einfluss auf die Politik der englischen Arbeiterklasse bleiben. Der englische industrielle Liberalismus hat seit dem Falle der Korngesetze eine glänzende Entwicklung durchgemacht, und es gelang ihm sogar, die Arbeiter vor seinen Triumphwagen zu spannen. Aber die goldene Zeit der englischen Handelssuprematie ist vorbei, das englische Kapital wird auf dem Warenmarkt und auf dem Kolonialmarkt gewaltig bedrängt, die Entwicklung seines Exports und seiner Industrie hält langsam nicht mehr Schritt mit der kapitalistischen Entwicklung anderer Länder, was nun? „Was wird die Folge sein, wenn kontinentale und besonders amerikanische Waren in stets wachsender Masse hervorströmen, wenn der jetzt noch den englischen Fabriken zufallende Löwenanteil an der Versorgung der Welt von Jahr zu Jahr zusammenschrumpft? Antworte, Freihandel, du Universalmittel!”1 Auf diese Frage, die Friedrich Engels 1885 stellte, wird jetzt die Antwort in Strömen von Blut gegeben: Imperialismus. Der englische Imperialismus ist der letzte Verzweiflungsschritt des englischen Kapitals, um sich noch auf eine Zeit lang die Handelsherrschaft auf den Meeren zu sichern. Es kann keinem Zweifel mehr unterliegen, der Versuch scheiterte. Wie auch der südafrikanische Krieg formell enden mag so wird er nicht die erwartete Grundlage bieten zur Schaffung eines britischen Welt-Imperiums, sondern er bildet die Ära einer beginnenden rückläufigen Entwicklung der englischen Weltmacht. Dem Kriege — einerlei ob sofort oder nach einem vorherigen Gründertaumel — wird eine furchtbare ökonomische und politische Liquidation nachfolgen. Indessen zieht das Zarentum vor Aller Augen einen eisernen Halbring um die asiatische Machtsphäre Englands, der bereits von Peking bis an den Persischen Golf reicht und zahlreiche Stützpunkte besitzt. Indessen bedrängt der deutsche und amerikanische Export die englische Industrie auf dem Weltmarkt. Seitdem Engels seine Worte schrieb, hat der englische Liberalismus, die politische Vertretung des industriellen Kapitals, fortwährend an Schwäche zugenommen. Er hat sich gespalten und spaltet sich immerfort. Er wagt es nicht, die volle Verantwortung für die Politik der Regierung auf sich zu nehmen, und wagt es nicht, ihr grundsätzliche Opposition zu machen. So ereilt auch den englischen Liberalismus das Schicksal des bürgerlichen Liberalismus überhaupt: die politische Zerfahrenheit. Das macht die englischen Arbeiter frei und muss sie dazu bringen, eine eigene politische Partei zu bilden. Und je mehr der britische Staat sich gezwungen sehen wird, auf dem Wege des Militarismus fortzuschreiten, je kritischer die Situation auf dem Weltmarkt wird, desto mehr steigen die Aussichten der englischen Sozialdemokratie. „Jedes Jahr bringt England dichter vor die Frage: Entweder die Nation geht in die stücke oder die kapitalistische Produktion” (Fr. Engels) Die Industriellen des Festlandes freuen sich über den sich vorbereitenden Niedergang Englands, denn sie hoffen, sich in die englische Erbschaft teilen zu können. Besonders das deutsche Kapital dünkt sich als den prädestinierten Nachfolger Englands in der Handelssuprematie. Verfehlte Spekulation! Der Streit ist viel allgemeiner, als zwischen zwei Industriestaaten. Es handelt sich um die Konkurrenz ganzer Weltteile. Die industrielle Zukunft gehört Amerika und Russland. Diese Länder haben gegenüber dem alten Europa den Vorzug der geographischen Lage, der gewaltigen Ausdehnung, des Riesenmaßstabs, in dem sich dort die Industrie von vornherein entwickelt, der politischen Einheit. Diese Konkurrenz bedroht, ebenso gut wie England auch Deutschland und Frankreich. Nur die Staaten des Mittelländischen Meeres werden wegen ihrer Nähe zu den sich bildenden neuen Weltmachtzentren im Stillen Ozean und ihres Reichtums an Wasserkräften, deren Ausnützung zu elektrischer Krafterzeugung eine große Rolle in der Entwicklung der modernen Industrie spielt, der amerikanischen und russischen Konkurrenz Paroli bieten können. Vergebens wirft Deutschland seine Kriegsmacht in die Waagschale; es macht dadurch die Entfernungen des Weltmarktes nicht kleiner und die industriellen Potenzen Europas nicht größer. Der deutsche Imperialismus hat bis jetzt vorzüglich die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgt. Und so wird es auch weiter sein, sofern nicht der Opportunismus die Politik der Partei zu bestimmen haben wird. Neben industriellen Konflikten stehen dem mit dem Fluche der geschichtlichen Tradition beladenen, politisch zerklüfteten Europa politische Konflikte bevor. Es gibt politische Zeitpunkte, da die Entwicklung auf den verschiedenen Gebieten zu einer entscheidenden Wendung herangereift ist und so alles zusammen auf eine große Umwälzung hinwirkt. So hatten wir während der Revolutionskämpfe von 1848 die Verquickung des Freiheitsgedankens mit der Idee der deutschen Einheit, der Einigung Italiens, der Selbständigmachung Ungarns. Auch jetzt befinden wir uns in einer Periode allgemeiner Unruhe. Die Orientfrage drängt zur Entscheidung, der österreichische Nationalitätenhader hat die Staatsmaschinerie lahmgelegt. Wer nicht von vornherein auf den Glauben verpflichtet ist, dass der österreichische Staat ewig dauern wird, der wird die bösen Zeichen der Zersetzung, deren Zeuge wir in den letzten Jahren waren, nicht kurzerhand von sich weisen. Das politische System Europas, das die Nationalitäten hier zerreißt, dort bündelweise zusammenpackt, ist wieder in Widerstreit geraten zu der geschichtlichen Tendenz der Bildung großer nationaler Verbände. Die ganze westeuropäische Kleinstaaterei wird angesichts der Bildung der gewaltigen wirtschaftlichen Komplexe von Amerika und Russland immer mehr ein Hindernis der ökonomischen bzw. der kapitalistischen Entwicklung. Die Bildung eines vereinigten Europas wird zu einem immer dringenderen Erfordernis des kapitalistischen Weltmarktes. Ein vereinigtes Europa ist aber nur denkbar als republikanisches Europa. Und während dieses in Westeuropa vor sich geht, zeigt sich das zarische Russland immer weniger im Stande, die durch die kapitalistische Entwicklung ausgelösten Kräfte zu bannen, erhebt das junge Proletariat kühn sein Haupt, — schließt trotz Knute und Verbannung — immer enger die Reihen und umlagert in immer dichteren Scharen den Zarenthron. Wie man sieht, braucht man nicht erst an die soziale Revolution zu denken, um der Meinung zu sein, dass die politische Entwicklung Europas nicht gerade glatt und friedlich verlaufen wird. Ich glaube auch, dass Mancher, der — auf dem Papier — so ganz leise, ganz unmerklich den Kapitalismus in den Sozialismus verwandelt, vor der geschichtlich gewiss minderwertigen Aufgabe, wie man das Haus Habsburg und das Haus Savoyen und noch ein Schock politischer Formen von Gottes Gnaden schmerzlos ineinander verschmilzt und zur Bürgervertretung macht, stutzig werden wird. Mag nun aber die politische Entwicklung Europas mehr oder weniger stürmisch vor sich gehen, ihr Einfluss auf die sozialrevolutionäre Konzentration des Proletariats kann nach den gesamten Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts keinem Zweifel unterliegen. Diese Konzentration wird um so leichter vor sich gehen, als die parlamentarische Sammlung des Proletariats, die ununterbrochen fortschreitet, Organisationen geschaffen hat, deren grandiose Dimensionen nicht nur alle früheren Organisationsversuche des Proletariats tief in den Schatten stellen, sondern überhaupt einzig sind in der parlamentarischen Geschichte Europas. Zugleich findet seit einiger Zeit in der Industrie ein beschleunigter kapitalistischer Expropriationsprozess statt, der das kapitalistische Mittelgut bei Seite wirft und gewaltige Konglomeratikonen schafft, Riesenkartelle, die in dem gleichen Maße, in welchem sie die Produktion konzentrieren, auch den Klassenkampf der Arbeiter konzentrieren und die Eigentumsfrage auf das einfache Problem reduzieren: Monopol einer kapitalistischen Vereinigung oder Kollektivismus! Und zu gleicher Zeit wiederum vollzieht sich unter der Entwicklung der Elektrotechnik eine grundlegende Umwälzung der gesamten industriellen Produktionstätigkeit. Die kapitalistische Entwicklung geht viel rascher vor sich als die Entwicklung der sogenannten „öffentlichen Meinung”; sie ist den Ideen, welche in der Presse und in den Parlamenten den Ton angeben, immer um ein Bedeutendes voraus. Kaum haben sich die bürgerlichen Ideologen mit ihren Doktrinchen und ihrem Wunschzettelein auf eine ruhige, langsame, gelinde kapitalistische Entwicklung eingerichtet, da sprudelt sie stürmisch hervor, überstürzt sich und tut überhaupt so, als ob sie es extra darauf abgesehen hat, ihre wohlmeinenden Freunde zu prellen. Der Einfluss dieser stets mit Sack und Pack nachhinkenden bürgerlichen öffentlichen Meinung reicht bis in die Reihen der Sozialdemokratie. Wollte man über den politischen Charakter des proletarischen Klassenkampfs nach den Tagesansichten urteilen, die innerhalb der Arbeiterparteien sich breit machen, so könnte man allerdings mitunter sehr missgestimmt werden. Allein der sozialrevolutionäre Charakter der Arbeiterbewegung gründet in den Tatsachen, nicht in den Ansichten, welche Dieser oder Jener unter Denen, die jeweilig innerhalb der Sozialdemokratie das große Wort führen, sich über den Charakter des proletarischen Klassenkampfes machen. Es wird immer gewisse Pechvögel innerhalb der Partei geben, an welche die sozialrevolutionäre Erkenntnis meistens von außen herantritt, in Gestalt der literarischen oder politischen Prügel, die sie erhalten. Sieht man sich von diesem Gesichtspunkt die Entwicklung an, so wird man zugeben, dass die deutsche Sozialdemokratie auch in den letzten Jahren eine sehr bedeutende Quantität sozialrevolutionäre Erkenntnis zu Tage förderte. Denn stets und überall, wo sich opportunistische Anwandlungen zeigten, da kam auch gleich die sozialrevolutionäre Erkenntnis hinterher. Auf Schritt und Tritt verfolgte die sozialrevolutionäre Erkenntnis den Opportunismus und oft zog sie ihn erst aus dem dunklen Versteck heraus. Die uns von Marx und Engels überlieferte geschichtliche Methode gibt uns die Möglichkeit, Irrtümer und Fehltritte in der Politik des Proletariats in ihrem Ursprung und ihren Konsequenzen zu erkennen. So beugen wir Enttäuschungen vor, helfen Störungen zu beseitigen, und suchen die angesammelte sozialrevolutionäre Energie so lange vor Verzettelungen zu bewahren, bis unter dem Drucke der Verhältnisse eine neue sozialrevolutionäre Konzentration des Proletariats stattfindet. Der Opportunismus selbst kann es aber gar nicht einmal erwarten, bis er von der fortschreitenden Entwicklung weggeschwemmt wird, sondern er bemüht sich aus Leibeskräften, sich früher schon durch die Praxis ad absurdum zu führen. Ihm dabei ein bisschen theoretisch behilflich zu sein, ist der eigentliche Zweck dieser Arbeit. Sehen wir zu, wie der Opportunismus sich in der Praxis geäußert hat, was er geleistet hat, zu welchen Erwartungen und Hoffnungen er berechtigt. Und ziehen wir die Konsequenzen! 2. Der Opportunismus und die Doktrin Seitdem innerhalb der deutschen Sozialdemokratie sich ein Opportunismus regt, hat er nicht aufgehört, sich darüber zu beklagen, dass er missverstanden werde. Vollmars Eldoradoreden 1891 wurden missverstanden, seine Äußerungen zum Staatssozialismus 1892 wurden missverstanden, die Zustimmung der bayerischen Landtagsfraktion zum Budget wurde missverstanden, die Idee der bäuerlichen „Selbstwirtschafter” des süddeutschen Agrarprogrammentwurfs wurde missverstanden, Schippels Stellung zum Militarismus auf dem Hamburger Parteitag wurde missverstanden, Heines Kompromisspolitik wurde missverstanden, schließlich Bernsteins Revisionismus wurde erst von meiner Wenigkeit missverstanden, dann folgerichtig von Jedem, der sich gegen ihn wandte, bis auf K. Kautsky, den nächsten Freund Bernsteins, der durch einen zwanzigjährigen Ideenverkehr mit ihm verbunden war! Die Fähigkeit, missverstanden werden zu können, ist die stärkste geistige Waffe des Opportunismus. Es gibt Politiker, die beim besten Willen es niemals zu einem Missverständnis bringen können, eher werden sie viel zu deutlich, ziehen im Einzelfall zu schroff die Konsequenzen und büßen durch einen eklatanten Widerspruch, in den sie unbesehen geraten. Ein Widerspruch, der einem kühnen und geraden Streben nach Wahrheit und Klarheit entspringt, ist doch wohl ehrender, als jene geistige Anpassungsfähigkeit, die stets zwei halbe Wahrheiten im Munde führt, die nicht zusammenpassen, weil sie verschiedenen Ganzen angehören; aber der Widerspruch sticht in die Augen, die Halbheit ist allgemeingefällig. Das Missverstandenwerden liegt im Wesen des Opportunismus. Wird er doch zunächst von sich selbst am meisten missverstanden. Er bedarf der fremden Nachhilfe, um die Konsequenzen seines eigenen Tuns zu ziehen, einer längeren Entwicklung, um sich selbst zu erkennen. Bei seinem ersten Auftreten ist er nur eine Abstufung, eine Schattierung, ein Fettfleck; und so sehr er sich auswächst, wird er nie zu einem System, einer Doktrin oder auch nur einem Grundsatz, er bleibt formlos, gallertenartig. Darum ist ihm nichts so im Innersten der Seele zuwider als eine ausgeprägte Form — eine „Doktrin”, ein „Dogma”. Zugleich aber bereitet es ihm auch gar keine Schwierigkeiten, wenn er angegriffen wird, sich zum Dogma zu bekennen. Darum war es auch noch stets unmöglich, den Opportunismus durch eine Resolution zu fassen. Als Bebel in Erfurt [1891] seine Resolution beantragte, war der Parteitag überzeugt, dass Vollmar nach seiner ganzen Stellungnahme gewisse Änderungen und Zusätze beantragen müsste — fiel ihm aber gar nicht ein, er stellte sich vielmehr ohne Weiteres auf den Boden der Resolution. Ja, er erklärte in seiner Schlussrede, er wolle überhaupt keine Änderung der Parteitaktik, er wolle die Taktik wie sie ist. So unterschreibt jetzt auch Bernstein alle Resolutionen. Und indem er einen erbosten Kampf gegen die gesamte wissenschaftliche und politische Tätigkeit von Marx und Engels führt, erklärt er, auf dem Boden der Ideen und der Tätigkeit dieser Männer zu stehen. Und obwohl zwischen ihm und der gesamten Politik wie geschichtlichen Tradition der Partei sich längst ein Abgrund gebildet hat, wiederholt er hartnäckig, die Partei stehe auf dem gleichen Boden mit ihm, freilich meistens ohne es zu merken, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es muss darauf verzichtet werden, den Opportunismus in eine Formel zu fassen. Er eignet sich dazu ebenso wenig wie der Flugsand zum Meißeln. Dem Kritiker bleibt nichts übrig, als ihn in seinem Ursprung, seiner Entwicklung und seiner Zerfahrenheit dazustellen. Im Ursprung aller opportunistischen Verirrungen innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung finde ich einen gemeinsamen Zug: die Unfähigkeit, die Gegenwartsarbeit der Partei mit ihrem sozialrevolutionären Ziel zu einem organischen Gebilde zu verbinden. In ihren Augen spaltet sich das: hie „Endziel” — hie „Gegenwartsarbeit”. Sie kennen höchstens einen Parallelismus: die Agitation für die soziale Revolution und die Tätigkeit innerhalb des kapitalistischen Staats. Dass unsere Gegenwartsarbeit bei all ihrer Mannigfaltigkeit, all ihrem „positiven”, praktischen Charakter durch und durch sozialrevolutionär sein kann, und zwar in dem alten, wahren Sinne des Wortes, wonach die soziale Revolution erst mit der Diktatur des Proletariats beginnt, das können sie nicht fassen. Dagegen ist ihnen der reine Revolutionismus, der auf die Gegenwartsarbeit verzichtet, durchaus klar, ihn begreifen sie. So stellte Vollmar 1891 die sogenannten „Jungen” als Muster der Konsequenz hin. Er charakterisierte ihren Standpunkt wie folgte: „Die heutigen gesellschaftlichen und politischen Zustände sind keinerlei Verbesserung fähig … Wir haben uns deshalb von jeder Anteilnahme an der praktischen Politik fernzuhalten, nur um zu protestieren und im Übrigen den Zeitpunkt abzuwarten, wo die Gewalt auf der Straße liegt, und wir dann das Ganze auf einen Schlag bekommen. Und dieser Zeitpunkt ist nahe; ja, es hängt nur von uns ab, ihn zu beschleunigen.” Und er fügte hinzu: „Dieser Standpunkt ist ohne Zweifel ein klarer, ganzer.” Dagegen erscheint ihm der Standpunkt von Bebel, Liebknecht und den anderen als die reinste Inkonsequenz. Er schreibt in den gleichen Artikeln der „Münchener Post” („Über Optimismus”, reproduziert in der Broschüre „Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie”, Verlag M. Ernst): „Unserer ganzen Auffassung von dem allmählichen Hineinwachsen in die neue Gesellschaft widerspricht es stracks, wenn ab und zu plötzlich wieder Erklärungen gegeben werden, welche die Arbeit für die unmittelbaren Ziele als so gut wie wertlos erscheinen lassen. … Kürzlich ist in Berlin von einem hervorragenden Parteigenossen in einer wohlüberlegten Programmrede gesagt worden: ‚Der Staat der herrschenden Klassen wird sich niemals zu mehr als zu unbedeutenden Konzessionen herbeilassen.‘ Das könnte reicht wohl einer der ‚Jungen‘ zur Begründung seiner Forderung von der praktischen Politik und rein ‚prinzipieller‘ Agitation gesagt haben. In der Tat, wozu denn neun Zehntel unserer Tätigkeit auf eine Arbeit wenden, von der ‚niemals‘ mehr als ‚unbedeutende‘ Ergebnisse zu erwarten sind?” Man sieht, was Vollmar nicht begreift, ist der sozialrevolutionäre Agitationswert der parlamentarischen Gegenwartsarbeit, der praktischen Politik, der dann erst recht verbleibt, wenn das Klasseninteresse oder auch nur der Klassenegoismus der Machthaber die gesetzgeberische Verwirklichung der aufgestellten Forderungen verhindert. Das war es gerade, worauf später die Erfurter Resolution das Hautgewicht legte, was freilich Vollmar nicht verhinderte, ihr zuzustimmen. Wer den Kampf um die soziale Revolution mit der politischen respektive parlamentarischen Tagesarbeit nicht zu verbinden versteht, dem wird in der Praxis bald die Gegenwartsarbeit der sozialrevolutionären Agitation im Wege stehen, bald diese der Gegenwartsarbeit. Er wird als vor ein Entweder-Oder geführt. Reiner Revolutionarismus oder reiner Reformismus! Nun begreift man, warum in den opportunistischen Betrachtungen der Zeitpunkt der sozialen Revolution eine so gewichtige Rolle spielt. Ist die soziale Revolution nahe bevorstehend, dann sind sie ja vom heiklen Dilemma befreit, dann glauben sie, über sozialreformerische Möglichkeiten sich nicht erst den Kopf zerbrechen zu müssen, und ergeben sich einem Ultra-Revolutionarismus. So meinte Vollmar gegenüber Bebel, der in der nächsten Zeit große soziale Umwälzungen erwartete: „Vermöchte ich jenen Glauben zu teilen, so würde mich keine agitatorische Rücksicht dazu bewegen können, die politische Tagwerksarbeit weiter zu verrichten.” Das wäre nun freilich gerade der rechte Weg, die nahe Revolution um einiges hinauszuschieben, doch das nebenbei. Ob das Proletariat in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren die Macht erlangt, der kapitalistischen Ausbeutung ein Ende zu setzen, ist eine Frage von großer kultureller Bedeutung, aber die sozialrevolutionäre Politik ist nicht vom Datum der sozialen Revolution abhängig, sie ergibt sich aus der kapitalistischen Entwicklung, die, ob sie nun rascher oder langsamer fortschreitet, die Arbeiterklasse in einen unversöhnlichen sozialen Gegensatz zum Kapital bringt. Man hat sich gewundert, dass Vollmar, der erst viel eher bereit war, in seinem extremen Revolutionarismus über die Schnur zu hauen, so gemäßigt wurde. Wir wissen jetzt, dass gerade darin eine eigene Konsequenz liegt, die sich auch später an den „Jungen” von 1891 bewährte, die sämtlich, sofern sie überhaupt der Politik verblieben sind, sich vollmarisch gehäutet haben. Es ist klar, wer nur deshalb revolutionär ist, weil er die Revolution für morgen erwartet, wird übermorgen Reformist, wenn die Revolution durch den Gang der Ereignisse bis Ende der Woche hinausgeschoben wird. Der Revolutionismus der „Jungen” war eben mehr Wunsch als Überzeugung, es fehlte ihm die sichere Einsicht in die sozialrevolutionäre Entwicklung, er war innerlich ebenso hohl wie ihr jetziger Opportunismus. Marx und Engels aber haben ein halbes Jahrhundert für die soziale Revolution gekämpft, ohne auch nur einen Augenblick wankelmütig zu werden, im Gegenteil, mit steigender Zuversicht, denn sie hatten die geschichtliche Einsicht, die den Anderen fehlte; und auch August Bebel ist deshalb um nichts anders geworden, weil bis zum Jahre 1898 noch keine großen politischen Veränderungen stattfanden. Nicht um einen großen geschichtlichen Tag, sondern um große geschichtliche Ereignisse handelt es sich, deren Zeitpunkt in erster Linie nicht von unserer Voraussicht, sondern von der kapitalistischen Entwicklung abhängig ist. Vollmar, der Bebel der Inkonsequenz zieh, weil dieser seinen Revolutionismus nicht bis zur totalen Aufgabe jeder „Tagwerksarbeit” trieb, versäumte es jedoch, selbst die Konsequenz seines Standpunktes zu ziehen. Denn, wenn zwischen der sozialen Revolution und der „Tagwerksarbeit” ein derartiger Gegensatz klafft, dann müsste man, um sich der Tagwerksarbeit ungestört widmen zu können, die Idee der sozialen Revolution aufgeben. Das tat aber Vollmar nicht, sondern er erklärte, er wolle bei der Tagwerksarbeit das Endziel „im Auge behalten”. Schon einen Schritt weiter ging Ed. Bernstein in seinem bekannten Ausspruch: „Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung alles”. Aber das kennzeichnet gerade den Opportunismus, dass er den Widerspruch, in den er gerät, nicht zu lösen wagt. Wenn der Opportunist seine sozialreformerischen Konsequenzen zieht, hört er auf, zu existieren, dann wird er eben zum Sozialreformer, dann ist die Situation klar: mit dem reinen Reformismus würden wir ebenso schnell fertig, wie wir mit dem reinen Revolutionismus fertig geworden sind. Wie wir später sehen werden, läuft denn auch die Entwicklung des Opportunismus darauf hinaus, dass er vom Reformismus aufgesogen wird. Aber solange das Schlussergebnis nicht eingetreten, maskiert der Opportunismus seine eigene Entwicklung. So entstehen die Theorien vom allmählichen Hineinwachsen in den Sozialismus, vom unmerklichen Abwürgen des Kapitalismus etc., die alle darauf hinauslaufen, dass der sozialen Revolution die soziale Reform unterschoben wird. Sie glauben die Dinge zu ändern, wenn sie die Namen ändern. Da dies aber unmöglich, so geraten sie im Verlauf ihrer Entwicklung in einen immer schrofferen Gegensatz zu ihrem Ausgangspunkt, bespötteln den Revolutionismus, erklären erst den Sozialismus zu einer freien Wissenschaft, appellieren dann von der Wissenschaft zu der Relativität der menschlichen Erkenntnis, machen schließlich den Sozialismus zur Glaubenssache, zur Temperamentsfrage — und so, noch lange bevor der Kapitalismus sich in Sozialismus verwandelt hat, verwandeln sich unsere Sozialisten, denen einst nicht revolutionär genug sein konnte, in bürgerliche Sozialreformer. Nicht den Kapitalismus, sondern ihre eigene politische Vergangenheit würgen sie unmerklich ab. Statt den Widerspruch zu lösen, in den er selbst steckt, überträgt ihn der Opportunist auf die gesamte Partei. Er glaubt, wenn wir ihn bekämpfen, so setzen wir das Zukunftsideal der sozialen Revolution der Gegenwartsarbeit entgegen. In solcher Fassung aber existiert für uns das Problem gar nicht einmal, denn uns stört die sozialrevolutionäre Agitation in der Gegenwartsarbeit nicht, sie fördert sie vielmehr. Um die Gegenwartsarbeit selbst, aus der die Reformisten die sozialrevolutionäre Agitation eliminieren, handelt es sich. Es handelt sich darum, ob unsere „Tagwerksarbeit” ausschließlich auf unmittelbare parlamentarische und gewerkschaftliche Erfolge gerichtet werden soll, oder diese selbst uns als Mittel zu einer höheren Einheit, der sozialrevolutionären Organisation des Proletariats, dienen sollen. Nicht darum handelt es sich, ob wir wählen sollen, ob wir parlamentarische Erfolge erstreben sollen, ob wir bei alledem die Staatsmacht der Bourgeoisie überlassen, oder durch all das, geistig zusammengefasst in der sozialrevolutionären Agitation, das Proletariat zur Eroberung der politischen Macht führen sollen, um den Staat, die Eigentumsform und die Produktionsweise in ihren Grundlagen zu ändern. Indem die Opportunisten uns den Verzicht auf die Gegenwartsarbeit oder ihre Missachtung vorwerfen, kämpfen sie nicht gegen uns, sondern gegen einen konstruierten Gegner. So hat Vollmar dem sozialrevolutionären Standpunkt von Bebel, Liebknecht, Singer etc. die Revolutionsmacherei der „Jungen” unterschoben. So richtet Ed. Bernstein seine Angriffe gegen einen Blanquismus, der der reinste Putschismus ist, wie er weder in Deutschland noch sonst wo existiert, und den er sich speziell zu polemischen Zwecken konstruiert hat. So bekämpft Jean Jaurès einen Intransigeantismus, wie er auch in Frankreich längst aus der Mode gekommen ist, und statt der praktischen Tätigkeit der Parteien Rechnung zu tragen, welche dem französischen Proletariat die sozialrevolutionäre Tagwerksarbeit gelehrt haben, zeiht er sie des Widerspruchs, weil sie Gegenwartsarbeit leisten, ohne ihre sozialrevolutionären Grundsätze aufzugeben, desselben Widerspruchs, den Vollmar 1891 bei Bebel und Liebknecht aufgedeckt zu haben glaubte. Wer sich die Welt durch ein Prisma anschaut, braucht sich nicht zu wundern, wen sie ihm in Regenbogenfarben schimmert und schillert. Das ist das Schicksal des Opportunismus. Er trägt den Widersprich in sich und kämpft nur gegen sein eigenes, umgekehrtes Spiegelbild. Er bespiegelt sich im intransigenten Revolutionismus, wie dieser in ihm. 3. Die Taktik Vollmar Der immerfort an schalem Zeuge klebt, Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt, Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet. Goethe,
Faust. Die geistige Zerfahrenheit des Opportunismus bedingt eine große Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsformen. Soweit er bis jetzt innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zum Ausdruck kam, kann man immerhin vier Hauptlinien unterscheiden, um die sich die mehr oder weniger verwandten Geister gruppieren. In erster Linie nenne ich das Vollmarsche Staatsmännertum. Ich verstehe darunter die gewiss nicht gering anzuschlagende Kunst der politischen bzw. parlamentarischen Kombinationen. Es gehört dazu vor allem ein Scharfblick für die augenblickliche Wechselwirkung der parlamentarischen Parteien und die Politik der Regierung. Ein derartiger staatsmännischer Blick ist gewiss jedem Politiker von Nutzen, auch dem sozialdemokratischen. Allein die Sozialdemokratie braucht mehr. Für sie als sozialrevolutionäre Partei ist die Entwicklung wichtiger als der augenblickliche Gleichgewichtszustand der politischen Parteien. Die Grundlage unseres ganzen Wirkens ist ja die ökonomische Entwicklung, welche die soziale Schichtung revolutioniert, das Kräfteverhältnis der politischen Parteien ändert, die Politik der Regierungen umgestaltet und uns zur Herrschaft bringen muss. Die Sozialdemokratie rechnet mit Faktoren, die der bürgerliche Staatsmann gar nicht kennt. Andererseits, wenn es auch gewiss töricht wäre, die Sonderinteressen der verschiedenen Schichten der Bourgeoisie, ihren Kampf untereinander und mit der Regierung zu ignorieren und alles in die unterschiedslose „reaktionäre Masse” zu werfen, so haben wir es doch nichtsdestoweniger noch jedes Mal, wenn das Proletariat einen großen politischen Vorstoß wagte, wahrnehmen müssen, dass die Bourgeoisie und die Regierung sich im Kampfe gegen die Arbeiterklasse zusammenfanden. Der universelle Charakter des proletarischen Klassenkampfes, der sich gegen die ganze Gesellschaftsordnung samt ihrer Staatsform wendet, bedingt es selbst, dass auch auf der Gegenseite, trotz aller Reibereien, schließlich das gemeinsame Klasseninteresse der Besitzenden zu Durchbruch kommt. Der Verrat der bürgerlichen Demokratie am Proletariat ist kein Zufall, er ist Gesetz. Erst gibt sich dieses demokratische Bürgertum, unter Verkennung der Klassengegensätze, der Illusion hin, die Arbeiterinteressen ebenso gut vertreten zu können wie jene „aller anderen Volksschichten”, und als dann der Klassengegensatz — für die bürgerlichen Ideologen immer spontan, plötzlich, unerwartet — zum Durchbruch kommt, bleibt ihnen nichts übrig, als entweder ihrer eigenen Klasse untreu zu werden, oder die Interessen des Proletariats preiszugeben. Der Staatsmann innerhalb der Sozialdemokratie neigt nun vor Allem leicht zu einer Überschätzung der Bedeutung der augenblicklichen parlamentarischen Konstellation und einer Außerachtlassung der großen Entwicklungsgesetze. Er legt viel zu viel Gewicht auf die Intentionen der Regierung die Ansichten und Versprechungen der Parteien. Er überschätzt überhaupt die Bedeutung der Regierung (nicht zu verwechseln mit der Regierungsgewalt) und der parlamentarischen Mehrheit und übersieht gern, dass die Staatsgewalt, also Regierung, Parlament und die gesamte politische, inklusive militärische Organisation des Landes, sich im Besitz der herrschenden Kapitalistenklasse befindet. Er legt viel zu viel Gewicht auf die öffentliche Meinung, welche auf das Parlament und die Regierung einen Einfluss übt, — viel zu wenig auf jene aus der sozialen Gliederung sich ergebenden Interessen, welche die öffentliche Meinung schnell und gründlich umstimmen, wenn das seichte Gewässer der Tagespolitik plötzlich durch die großen sozialen Unterströmungen in wilden Aufruhr versetzt wird. Und so muss denn unser Staatsmann immer wieder die Erfahrung machen, dass seine noch so fein gesponnenen politischen Kombinationen durch ein von oben unerwartetes Aufeinanderplatzen der Klassengegensätze über den Haufen geworfen werden. Betrübt, dann erbittert, sucht er den Grund seiner Misserfolge in der wenig überlegten Taktik Anderer, in dem Ungestüm, mit dem die Massen vordringen. Er versucht also, die sozialrevolutionäre Bewegung einzudämmen, sie in ein ruhigeres Fahrwasser zu geleiten. Er predigt Besonnenheit, Mäßigung. Er glaubt, dadurch die Entwicklung zu sichern, das Proletariat in kleinen Etappen, von Erfolg zu Erfolg zum Ziele zu führen. Wenn man nur sich nicht überstürzt, nur den gegebenen Verhältnissen Rechnung trägt, sich „erreichbare Ziel” stellt. Er ermahnt zur Selbstbeschränkung, fordert Entsagung. Und er übt vor Allem selbst Entsagung. In seiner Sehnsucht nach „positiven” Leistungen, geängstigt durch Misserfolge, reduziert er immer mehr seine Forderungen, um sich der augenblicklichen politischen Konstellation, der momentanen parlamentarischen Mehrheit anzupassen Immer mehr „Selbstbeschränkung” legt er dem Proletariat auf, immer mehr Entgegenkommen zeigt er den bürgerlichen Parteien, und damit zugleich arbeitet er sich in eine immer größere Wut hinein gegenüber den revolutionären Stürmern, die ihn in seinem löblichen Tun stören. Wird er durch theoretische Gründe bedrängt, so wendet er sich gegen die Theorie überhaupt. Er will nicht Sklave des Prinzips, der wissenschaftlichen Erkenntnis sein. Ändert sich nicht die Wissenschaft auch? Also gebrauchen wir die Wissenschaft, die uns behagt, und finden wir augenblicklich keine passende auf dem Markte, so warten wir ab, bis eine kommt. Nach seiner Auffassung räumt man wissenschaftliche Argumente nicht bloß dadurch aus dem Wege, dass man sie widerlegt, sondern man kann sie auch umgehen, überspringen, kurz, sie ignorieren, sich durch sie nicht imponieren lassen. Was hat’s für unseren Staatsmann zu bedeuten, wenn er einer falschen Begründung, einer Unkenntnis der Tatsachen, eines Widerspruchs, einer Inkonsequenz überführt wird? Nichts unter Menschen dauert ewig, alles gerät in Vergessenheit, und die Öffentlichkeit hat ein kurzes Gedächtnis. Noch mehr, die Öffentlichkeit hat stets Respekt vor Jemand, der sich nicht imponieren lässt. Zum Beispiel alle Welt mag einsehen dass in einem bestimmten Falle unser weiser Staatsmann von einem bösen Kritiker, der vielleicht gar ein Gott weiß woher gelaufener Jemand ist, der nicht einmal Sporen und Epauletten trägt, sehr übel zugerichtet worden ist, aber wenn er dabei ein klares Auge und eine ruhige Stirn behält, dann glaubt alle Welt, der Staatsmann müsse mehr wissen als die Übrigen alle, was ihm ein Überlegenheitsgefühl verschafft, da er in einem Falle, wo jeder andere sich geschunden fühlen müsste, keine Miene verzieht. Wenn das sich öfters wiederholt, dann braucht der weise Staatsmann nur gelegentlich einige weise Aussprüche in die Menge zu lancieren, wie zum Beispiel, dass jedes Ding seine Zeit habe, dass die hohlen Schwätzer doch nichts ausrichten, dass er keinen Geschmack finde an bodenlosen Diskussionen, dass die Entwicklung der Tatsachen schon die Ideen beeinflussen werde u.a.m. und bald wird es auf allen Marktplätzen heißen: „der weise Staatsmann weiß etwas, was alle Welt nicht weiß, aber er schweigt, weil er weise die Gelegenheit zum Sprechen abwarten will, aber wenn diese erst gekommen sein wird, dann — ja dann!” … Viele wiederum staunen den Kaltmut des Staatsmannes an, ohne sich über das Wieso Gedanken zu machen. Ihnen ist es einfach ein blaues Wunder, wie so Manches in der Welt: Ali, der unverwundbare Araber, dem man eine Stricknadel durch die blutlosen Wangen ziehen kann, der Mann mit dem Steinkopf, an dessen Schädel man den härtesten Granit in Splitter schlagen kann u.a.m. Die Charakteristik einer Taktik kann niemals identisch sein mit der Charakteristik einer Persönlichkeit. Die Dinge haben mehr Konsequenz als die Menschen. Ich bitte die Leser, dieses Korrektiv im Auge zu behalten. Andererseits nehme ich das Recht in Anspruch, aus jeder politischen Handlung, aus jeder in den Meinungsstreitigkeiten innerhalb der Partei öffentlich kundgegebenen Stellungnahme ungeschminkt die äußersten Konsequenzen zu ziehen. Der politische Grundfehler, den Vollmar schon in seinen Eldorado-Reden 1891 begangen hatte, war, dass er auf die veränderte Taktik der Regierung gegenüber der Sozialdemokratie ein viel zu großes Gewicht legte. Dass er der Regierung viel mehr guten Willen zutraute, als sie hatte, dass er den kaleidoskopartigen Farbenwechsel des neuen Kurses, die großen und kleinen Umsturzvorlagen nicht voraussah2, das war sogar noch das Geringste; die Hauptsache war, dass er eine Änderung im Verhalten der Regierung für wichtig genug hielt, um daraufhin die gesamte Parteitaktik einer Revision zu unterwerfen. Das läuft darauf hinaus: ist die Regierung reaktionär, dann sind wir revolutionär, ist sie passabel, sind wir traktabel. Aber das Proletariat ist nicht deshalb revolutionär, weil es politisch verfolgt wird, sondern umgekehrt. Vollmar vergaß, dass die Regierung des kapitalistischen Staates, was das Proletariat anbetrifft, selbst beim besten Willen nie etwas Anderes als ein Werkzeug in den Händen der Kapitalistenklasse sein kann. Dass die Sozialdemokratie revolutionär ist, hängt weder von der Regierung noch von uns ab, es ist das Ergebnis des Klassenkampfes innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Die deutsche Sozialdemokratie war mit Recht stolz darauf, dass sie sich durch das Sozialistengesetz weder nach links noch nach rechts habe drängen lassen — weshalb sollte nun der Fall des Sozialistengesetzes eine Änderung der Parteitaktik bewirken? Wiederum springt ein eigentümlicher Zusammenhang in die Augen: Gerade Diejenigen, welche bei der Einführung des Sozialistengesetzes die Partei zu Extremen nach links haben treiben wollen, trieben sie nach dem Sturze des Sozialistengesetzes zu Extremen nach rechts. Der Fehler lag in beiden Fällen in einer Überschätzung des Einflusses der Regierungspolitik auf den proletarischen Klassenkampf. Die sozialrevolutionäre Bewegung bahnt sich selbst einen Weg, ungeachtet des Hasses oder des Wohlwollens der Regierung. Vollmar glaubte also, dass mit dem Falle des Sozialistengesetzes eine Ära politischer und sozialreformerischer Zugeständnisse seitens der Regierung begonnen habe. Er beeilte sich deshalb, unsere nächsten Forderungen auf gesetzgeberischem Gebiet zu präzisieren, und riet der Partei, der Regierung ein politisches Entgegenkommen zu zeigen, um ihr die Arbeit zu erleichtern, Man kann nun den Wert der deutschen sozialpolitischen Gesetzgebung der letzten zehn Jahre verschieden hoch einschätzen, darüber aber gibt es keinen Zweifel, dass die neunziger Jahre in dieser Beziehung gar keinen Vergleich mit den achtziger Jahren aushalten können. Solche kardinalen Maßregeln wie die Durchführung der Fabrikgesetzgebung und der Arbeiterversicherung sind nicht mehr vorgenommen worden. Der sozialpolitische Eifer der Regierung ist also, gerade umgekehrt zu den Vollmarschen Erwartungen, nicht gestiegen, sondern gesunken, bis schließlich offen und öffentlich der Grundsatz proklamiert worden ist, in der Sozialpolitik eine Ruhepause eintreten zu lassen. Wie das mit der Frage, ob sozialrevolutionäre oder opportunistische Taktik, zusammenhängt, wird an anderer Stelle erörtert werden, vorläufig konstatiere ich, dass die intensivste sozialpolitische Tätigkeit des Staats zur Zeit der intensivsten sozialrevolutionären Agitation stattfand. Sein staatsmännischer Blick hat also Vollmar gründlich getäuscht. Sehen wir zu, wie das auf die weitere Entwicklung seiner Taktik wirkte. Unter den fünf Forderungen die Vollmar 1891 aufgestellt hatte, waren besonders zwei bemerkenswert: die Erringung eines gesetzlichen Normalarbeitstages und die „Beseitigung der Lebensmittelzölle”. Das waren für ihn damals Sachen, die sofort zu verwirklichen waren und deshalb die volle Aufmerksamkeit des praktischen Politikers erfordern. Gewiss musste überhaupt auf einen weiteren Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung hingearbeitet werden, jedoch: „vor Allem ist die ganze Kraft auf die Erlangung eines gesetzlichen Arbeitstags — dieses Kern- und Angelpunktes aller Arbeiterschutzvorrichtungen — zu richten.” In Bezug auf die Beseitigung der Lebensmittelzölle äußerte er: „Ich will nur sagen, dass unser Kampf gegen das System der künstlichen Lebensmittelverteuerung niemals erlahmen darf.” Man wird aber in der Tätigkeit Vollmars seit 1891 vergebens nach den Spuren einer Konzentration der „ganzen Kraft” auf die Erlangung des Normalarbeitstages suchen. Im Gegenteil, je mehr sein staatsmännischer Blick ihm zeigte, dass die Regierung und die Parteien vorläufig noch eine derartige Maßregel für inopportun halten, desto mehr trat für ihn die Agitation für den Normalarbeitstag aus dem Vordergrund in den Hintergrund gegenüber jenen kleinen und kleinsten sozialpolitischen Gesetzen, denen er 1891 eine untergeordnete Bedeutung beimaß. Und auch in seinem Kampfe für die Beseitigung der Lebensmittelzölle, der „niemals erlahmen” sollte, ließ Vollmar eine lange Pause eintreten. Erst die jüngsten Ereignisse haben ihn wieder aufgerüttelt, und da forderte er zum Kampfe auf — gegen die „neuen Zollsätze”, also nicht mehr für die Beseitigung der Lebensmittelzölle, sondern gegen ihre Erhöhung. Bis dahin aber ignorierte er persönlich die Gelegenheiten zur Agitation gegen die Lebensmittelzölle, die ihm der Bauernbund sehr hartnäckig darbot. Er schwieg, als der Bauernbund Erhöhung der Getreidezölle beantragte, er schwieg, denn er fasste bereits den staatsmännischen Plan, die Bauernbündler ebenso durch Entgegenkommen zur Sozialdemokratie zu bekehren, wie er durch Entgegenkommen die Regierung sozialreformerisch machen wollte. Das war nur der Teil eines Ganzen, der Bauernagitation, deren Herrlichkeiten ich ebenfalls an anderer Stelle einer eingehenden liebevollen Darstellung unterziehen werde. Ihr leitender Gesichtspunkt war: Da das deutsche Bauerntum, wie es augenblicklich ist für das sozialistische Programm des Proletariats nicht zu haben wäre, so wollen wir ein sozialistisches Programm im Sinne dieses Bauerntums zusammenschustern. Hier führt bereits das Staatsmännertum, das mit einem zunächst durchaus unverbindlichen Entgegenkommen gegenüber der Regierung — „ohne das Endziel aus den Augen zu verlieren” — begonnen hatte, zu prinzipiellen Konzessionen. Da nun Vollmar den Bauernbund nach rechts, gegenüber dem Zentrum, deckte, von links schaute, so konnte er gar nicht besser die Geschäfte dieser politischen Zwitterbildung fördern. Die Quittung für diese Tätigkeit stellten die Reichstagswahlen 1898 aus, die in den ländlichen Wahlkreisen Bayerns einen erheblichen Zuwachs der bündlerischen und eine absolute Verminderung der sozialdemokratischen Stimmen zum Ausdruck brachte. Abermals ging eine staatsmännische Aktion an den Klassengegensätzen in die Scherben. Mit dem gleichen Erfolg endete auch die staatsmännische Kombination Vollmars in der bayerischen Wahlrechtsfrage. Das bayerische Wahlsystem ist solcher Art, dass, wenn der erste Wahlgang [in einzelnen Wahlkreisen] unentschieden bleibt, Wahlbündnisse unerlässlich sind, um ein Resultat zu erzielen. Bisher gingen nun in solchen Fällen stets Zentrum und Nationalliberale zusammen, um die Sozialdemokratie zu übervorteilen. Da aber wiederholt bei der Teilung der Beute die Nationalliberalen sich als unredliche Kompagnons erwiesen haben, so wandte sich bei den letzten Wahlen das erboste Zentrum an die Sozialdemokratie. In Folge dessen wurden die Liberalen jämmerlich zusammengehauen, sie bekamen also die Unzuträglichkeiten des Wahlsystems am eigenen Leibe zu spüren. Aber auch des Zentrums Freude war nicht ungetrübt: denn durch sein Zusammengehen mit der Sozialdemokratie hat es selbst in das dichte Gewebe der Lügen und Verleumdungen, mit dem es die Massen von der Sozialdemokratie fernzuhalten suchte, ein gewaltiges Loch gerissen, und das musste ihm besonders in den katholischen Arbeitervereinen recht unangenehm werden. Andererseits wurden ihm seitens der katholischen Bourgeoisie und des katholischen Muckertums bittere Vorwürfe gemacht. Zur Rechtfertigung berief es sich auf das Wahlsystem. So kam es, dass nach dem Wahlen sich alle Parteien in erbitterten Klagen über das bestehende Wahlrecht ergingen. Für uns entstand daraus vor Allem die Aufgabe, die günstige Situation agitatorisch auszunützen. Da alle Welt von Wahlrechtsänderung sprach, mussten wir durch Versammlungen, Flugblätter etc. eine Massenbewegung zu Gunsten eines demokratischen Wahlrechtes ins Werk setzen. Im Landtag mussten wir möglichst weitgehende Anträge stellen, um die Sonderinteressen der einzelnen Parteien zum Durchbruch zu bringen. Wir mussten auf eine schnelle Erledigung der Wahlrechtsfrage drängen, mit allen uns zugänglichen politischen Mitteln, wenn nötig durch Obstruktion, die Regierung und die Parteien dazu zwingen. Und würden wir auch unsere Gesamtforderung kaum durchgesetzt haben, so könnten wir doch unter diesen Verhältnissen am ehesten darauf rechnen, dass die herrschenden Parteien wenigstens etwas gewähren würde, um unserer Agitation die Spitze abzubrechen, und auf jeden Fall hätten wir den Effekt der Agitation für uns. Anders aber dachte Vollmar. In seinem Kopfe bildete sich sofort eine staatsmännische Kombination. Er begann also die Kampagne damit, dass er im Landtag eine feierliche Rede hielt im Tone des wohlwollenden Mahners. Er zeigte den Parteien, wie töricht sie bis jetzt gehandelt haben, indem sie sich der sozialdemokratischen Forderung der Wahlrechtsänderung verschlossen haben. Und dass sie überhaupt die Soziademokratie verkannt haben: „So müssen Sie sich denn, meine Herren, einfach bemühen, uns zu verstehen.” Er selbst gab sich alle Mühe, sich auf den Standpunkt der bürgerlichen Parteien zu stellen. Er bewies ihnen, dass sie aus Rücksicht auf ihre eigenen Interessen und aus Rücksicht auf die sozialdemokratische Agitation das Wahlrecht ändern müssen. Er drohte mit dieser Agitation. Aber er drohte nur. Vor allem wollte er vielmehr durch Unterlassen der Agitation das Entgegenkommen, den guten Willen der Sozialdemokratie offenbaren. „Nun komme ich auch noch mit einigen Ausführungen zum eigentlichen Gegenstand, nämlich zur Wahlreform. Ich werde, wie gesagt, nicht viel darüber sprechen und zwar deswegen, weil ja die Sache nun endlich einmal in Marsch gebracht worden ist, durch uns in allererster Linie. Der Antrag soll an einen Ausschuss kommen und wir werden dort über die Sache ja sprechen können. Uns Sozialdemokraten ist es hier, wie bei allen Gelegenheiten, der Auffassung von Ihnen allerdings zuwiderlaufend, durchaus nicht lediglich um die Agitation zu tun … Wir wollen deswegen Rekriminationen vermeiden in Bezug auf die bisherige Stellung der Parteien zu unseren Anträgen und wir wollen auch auf die Einzelheiten nicht eingehen, was viel besser im Ausschuss geschehen wird.” Die Redner aller Parteien haben sich für die Wahlrechtsänderung ausgesprochen, nun konnte es also nicht mehr fehlen. Es sei eine vollkommene Unmöglichkeit, erklärte Vollmar, dass die Sache noch einmal auf die lange Bank geschoben werden sollte. So glaubte denn Vollmar, in der Wahlrechtsfrage alle Parteien unter eine Kappe gebracht zu haben. Etwas Entgegenkommen seitens der bürgerlichen Parteien, Nachsicht von unserer Seite — so wir das Tränklein zusammengebraut. Darum war ihm der Ausschuss so lieb, wo in aller Stille „positive Arbeit” geleistet werden konnte. Kurz, an Stelle der Agitation setzte er die Konziliation. Aber das war es gerade, was die Reaktionäre brauchten. Sie fürchteten die Massenagitation, sie fürchteten die Diskussion in der Öffentlichkeit und sie waren über alle Maßen froh, als die Sozialdemokratie sich durch einige Redensarten hat pazifieren lassen und im Moment des brennendsten öffentlichen Interessen auf die Agitation verzichtet hat. Im Ausschuss nahm man sich reichlich Zeit. Innerhalb der allgemeinen Stille, die von der Sozialdemokratie sehr wenig getrübt wurde, verlor sich das akute Interesse der Öffentlichkeit. Die Sache geriet in Vergessenheit. Bei der „positiven” Arbeit der Verfassung des Gesetzentwurfes kamen die Sonderinteressen der bürgerlichen Parteien und die sie einigende Feindschaft gegen die Sozialdemokratie immer klarer zum Ausdruck, und bald unterlag es keinem Zweifel mehr, dass die Sache auf die lange, auf die allerlängste Bank geschoben wird! So endete diese staatsmännische Aktion. Vollmar ist um eine Erfahrung reicher. Woraus er vermutlich, wie in den bisherigen Fällen, nur die Schussfolgerung zieht, dass er immer noch nicht schlau, nicht staatsmännisch genug war. Zuguterletzt gab der Fall Millerand Vollmar eine äußerst günstige Gelegenheit, selbst die Konsequenzen seines Standpunktes zu ziehen. Gedeckt durch die Annahme, die Sache gehe „praktisch” Deutschland nichts an, durfte er sich den Luxus gestatten, seinen Gedankengang sich frei entwickeln zu lassen. Als in Erfurt Liebknecht den „Regierungssozialismus” als Konsequenz des Vollmarschen Standpunktes hinstellte, wandte sich dieser entrüstet dagegen. Seitdem hat er, vom Misserfolg zu Misserfolg schreitend, gelernt, bescheiden zu wollen und weise zu wählen. Die immer weiter gehende Reduktion seiner nächsten gesetzgeberischen Forderungen setzte ihn vor Allem in den Stand, die Millerandschen Klein- und Scheinreformen hochzuschätzen. Andererseits je geringfügiger die Gesetzgebung ist, um die es sich handelt, desto mehr Bedeutung gewinnt die Regierung in seinen Augen an Größe. So kam Vollmar dazu, an einem sozialistischen Ministerialismus Geschmack zu gewinnen. Und im Grunde genommen, wer „dem guten Willen„ der Regierung „die offene Hand„ reichen will, wie kann er denn Nein sagen, wen diese Regierung ihn auffordert: „Komm‘ und sein mein guter Genius”? Nun gebrauchen ja Vollmar und die Anderen, die in Deutschland den Millerandismus verteidigen, stets die Kautel, für Deutschland komme der Fall nicht in Betracht, in Deutschland seien die Verhältnisse anders, die politische Form sei weniger freiheitlich, die Regierung weniger demokratisch etc. Schält man die Umhüllungen weg, so bleibt folgender nackte Grund: weil die deutsche Regierung einen Sozialisten zum Minister nicht haben will. Wollte sie es, dann wäre ja gerade das der Beweis des Liberalismus, der Demokratie, etc. etc. Also, die Regierung braucht nur zu wollen! Die deutschen Ministerialisten unterscheiden sich von den französischen nur dadurch, dass, währenddem die letzteren einem Regierungsangebot Folge leisteten, die ersteren noch lange bevor die Regierung auch nur im Entferntesten daran denkt, an Sozialisten Ministerportefeuilles zu verteilen, sich zur Disposition der Regierung halten. Welche staatsmännische Voraussicht! Ich will durchaus nicht behaupten, dass Vollmar selbst ein Ministerportefeuille annehmen würde. Er hat eine zu große politische Vergangenheit hinter sich, um die äußersten Konsequenzen seines jetzigen Standpunktes persönlich in die Praxis umsetzen zu können. Aber der Punkt, an den der eine Politiker durch die Entwicklung eines Menschenalters gelangt ist, bildet für den Zuletztgekommenen den Ausgangspunkt seines Wirkens, und dieser geht dann in seinen Konsequenzen viel weiter. Der Opportunismus ist ja die Inkonsequenz. Und dem Opportunisten, der uns damit vertröstet, dass er selbst in diesem oder jenem praktischen Falle nicht so weit geht, erklären wir: „Wir können nicht auf deine Inkonsequenz bauen, sondern wir müssen mit der Konsequenz rechnen welche andere aus deinem Standpunkt ziehen!” Das Staatsmännertum innerhalb der Sozialdemokratie führt in Konsequenz seines eigenen Standpunktes durch eine Reihe unmerklicher Übergänge dazu, dass der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat die Erschleichung eines Ministerportefeuilles durch einen politischen Kautschukmann untergeschoben wird dem sozialrevolutionären Entwicklungsprozess die parlamentarische und womöglich die Hofintrige! 4. Der Auersche Praktizismus Dass er mit der Theorie auf gespanntem Fuße steht, hat Auer selbst oft genug erklärt. Er paradiert förmlich damit bei jeder prinzipiellen Auseinandersetzung innerhalb der Partei. Er hat es aber leider bis jetzt versäumt, die Grundlinien seines spezifischen Praktizismus zu ziehen, der ihn von Anderen in der Partei, die doch auch nicht bloß über Prinzipien diskutieren, unterscheidet. Er selbst protestierte [auf dem Parteitag] in Hannover [1899] mit aller Entschiedenheit dagegen, dass man ihn in einen Topf mit Bernstein und anderen werfe, und zog, wenn auch flüchtig, doch in kräftigen Linien, die Grenzen zwischen sich und dem Bernsteinismus. Merkwürdigerweise hinterließ das aber gar keinen Eindruck in der Öffentlichkeit, und nach wie vor, ja mehr als jemals, gilt Auer als der Führer des Opportunismus. Auch er gehört also zu den Missverstandenen. Schaffen wir Klarheit. Der Praktizismus entspringt der Abneigung vor politischen Spekulationen. Er will nur mit konkreten Verhältnissen operieren, er hasst die unbestimmbaren Größen. Allein, mag das angenehm sein oder nicht, die Politik kann die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht entbehren. Nur das Gesetz der Entwicklung lässt sich feststellen — und das ist für die kapitalistische Gesellschaft schon durch das Kommunistische Manifest in so mustergültiger Form geschehen, dass es durch das nachfolgende halbe Jahrhundert kapitalistischer Geschichte vollauf bestätigt wurde — der Gang der Entwicklung muss verfolgt und stets aufs Neue vorausgesehen werden. Der praktische Verstand kennt aber nur das ummittelbar Vorhandene, was über diesen Umkreis hinausgeht ist ihm lästig, beschwert das Denken. Er will eine klare, einfache Situation; und ist sie nicht einfach, so macht er sie einfach, das heißt, er erreicht die Lösung des Problems dadurch, dass er seine Schwierigkeiten ignoriert,. Er ist nicht eigentlich Gegner der Theorie, aber er will eine Theorie, die sofort und ohne Rest in die Praxis aufgeht. Der praktische Verstand kann es nicht begreifen, wie man sich etwas zur Richtschnur nehmen kann, das in sich selbst veränderlich ist? Also vor Allem die feste Form. Wird nun eine Theorie in dieses Prokrustesbett des praktischen Verstandes hineingezwängt, so erstarrt sie zum Dogma, aus dem sich dann der Praktiker Schablonen schneidet. Wenn aber der Praktiker, der die Theorie als Schablone gebraucht, auf den Widerstreit der sich entwickelnden Verhältnisse stößt, so zweifelt er nicht etwa an einer Methode, die Theorie zu gebrauchen, sondern an der Theorie selbst. Die Starrheit, die er in die Theorie hineingebracht hat erscheint dann als ihr eigenes Wesen, und er wettert gegen jedes Theoretisieren als schädliches Dogmatisieren und Schablonisieren. Es hat kaum je irgend Einer in der Partei die sozialdemokratischen Grundsätze so doktrinär vertreten wie — Auer auf dem Berliner Parteitag [1892]. Er hatte damals über das Genossenschaftswesen zu referieren. Schon die Einleitung ist interessant. Er zitierte wörtlich den Passus des Erfurter Programmes, der sich auf die Änderung der Eigentumsformen und die dazu unerlässliche Besitzergreifung der politischen Macht durch das Proletariat bezieht, und erklärte, daran anschließend: „In diesen Sätzen sind unsere Ziele und Aufgaben klar hingestellt. Dieser Standpunkt ist bei beginnender sozialdemokratischer Agitation eingenommenen worden, wir haben ihn bis jetzt eingenommen und müssen ihn für alle Zeiten beibehalten, so lange die Partei eine sozialdemokratische ist. Wenn andere Anschauungen auftauchen, und sie sind aufgetaucht, so beweist das nur, dass Genossen in dieser Frage über Wesen und Inhalt der Sozialdemokratie sich getäuscht haben.” Also 1892 war ihm das Programm „für alle Zeiten” festgelegt — und etliche Jahre später gibt es für Auer nichts Veränderlicheres als das Programm, und Alle erscheinen ihm als Doktrinäre, die die Programmsätze mit ihrem Wissen gegen eine ebenso schnellfertige wie böswillige Kritik verteidigen. Zum Thema übergehend, meinte Auer: „Wer glaubt, durch Bildung von Genossenschaften etwas mit zur Lösung der sozialen Frage beizutragen, wer glaubt, wie es in Breslau der Fall gewesen, dadurch mit dazu beizutragen, dass die Produktion reguliert, die Überproduktion verhindert wird, der hat sich über das Wesen des Sozialismus getäuscht. Gegen solche Versuche, das Wesen unserer Aufgaben und Ziele zu verwischen, ist von der Partei Stellung wiederholt genommen worden. Und dieses heute wieder zu tun, soll unsere Aufgabe sein.” Hier hat Auer also bereits Bernstein antizipiert, was freilich gar nicht überraschend kommt, da ja Bernstein nur die alten sozialreformerischen Redensarten in neuer Auflage bringt. Gewiss, auch in Hannover hat Auer erklärt, dass er die Illusionen Bernsteins bezüglich des Genossenschaftswesens nicht teile, aber statt, wie in Berlin, gegen diese „Verwischung unserer Aufgaben und Ziele” zu protestieren, wurde er jetzt vielmehr zu ihrem eifrigsten Förderer. In Berlin erklärte er, dass Alle, welche in den Genossenschaften ein Mittel zur Verwirklichung unseres sozialrevolutionären Programmes erblicken, „von dem Wesen des Sozialismus und von unseren Aufgaben keine Ahnung haben.” Mehr haben Bernstein auch seine bösesten Kritiker nicht vorgeworfen. Aber mit flammendem Pathos wandte sich Auer in Hannover gegen Alle, welche Bernstein mangelnde wissenschaftliche Erkenntnis vorwarfen. „Der Mann, der zehn Jahre lang … unser Zentralorgan redigiert, der Mann, der mit als die hervorragendste Persönlichkeit in der parteidgenössischen wissenschaftlichen Schriftstellerei bis in die neuste Zeit gegolten hat, der Mann” usw.! … Also, weil die Genossenschaften noch kein Sozialismus sind, deshalb sollen sie nutzlos, ja schädlich für die Arbeiterbewegung sein, indem sie die Energie des Proletariats auf einem sterilen Gebiet nutzlos verzetteln und seine Aufmerksamkeit vom politischen Kampfe ablenken. Da haben wir die Schablone in ihrer ganzen Starrheit und Beengung! Demgemäß war auch die gefasste Resolution: Die Parteigenossen sollen der Gründung von Genossenschaften „entgegentreten” und unter Anderem die Illusion bekämpfen, dass die Genossenschaften geeignet wären, „den politischen und gewerkschaftlichen Kampf der Arbeiter zu beseitigen oder auch nur zu mildern”. Falsch war das nicht, aber eng und schief: Gewiss ist die Gründung von Genossenschaften innerhalb des kapitalistischen Staates kein Sozialismus, gewiss ist es albern, von ihnen eine Milderung des proletarischen Klassenkampfes zu erwarten, — aber damit ist die Angelegenheit noch nicht erledigt, das ist nur die eine, negative Seite der Erscheinung, und die positive ist, dass die Genossenschaften in der Kombination Konsumvereine und Produktivgenossenschaften unter gewissen wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen in hohem Maße den Zusammenhalt des Proletariats fördern und es in seinen gewerkschaftlichen wie politischen Kämpfen stützen. Vom Standpunkt unserer Grundsätze können wir nur das Sozialrefomertum im Genossenschaftswesen bekämpfen, die sozialreformerische Erklärung und Ausnützung der Genossenschaften, nicht aber diese selbst, die eine ökonomische Tatsache sind und als solche nicht bestritten, sondern begriffen sein wollen. Aber der Praktiker gebraucht das Programm als eine Sammlung von Schablonen: entweder die Erscheinung passt unter die fertige Formel (Absatz soundsoviel), oder er weiß nicht, was er mit ihr anfangen soll, sie ist ihm eine Störung der normalen, gesetzmäßigen Entwicklung; er versteht es nicht, das Programm als Methode zur Erkenntnis der sozialen Entwicklung zu verwenden. Auch in seinem Verhältnis zu den Gewerkschaften lernen wir den Dogmatiker, den Doktrinär Auer kennen. Davon kann selbstverständlich keine Rede sein, dass Auer jemals Gegner der Gewerkschaftsbewegung gewesen wäre, er hat nur eine Zeit lang geglaubt, die Partei vor der Konkurrenz der mit ihrem Wachstum nach Selbständigkeit ringenden Gewerkschaften schützen zu müssen. Er sprach es klar aus: „Während früher die Gewerkschaften als ein zwar selbständiger Teil, aber immer nur als ein Teil der organisierten, klassenbewussten Arbeiterbewegung betrachtet sein wollten und auch betrachtet wurden — etwa wie die Artillerie eine Spezialwaffe in der Armee, aber doch nicht diese selbst, sondern nur ein Teil derselben ist —, macht sich seit der Gründung der Generalkommission das Bestreben bemerklich, die Gewerkschaften von der politischen Partei zu trennen und beide Organisationen als rivalisierende Mächte zu behandeln. Ich halte diese Bestrebungen, welche speziell in der Generalkommission ihren Ausgangs- und Stützpunkt haben, für sehr verkehrt und, wenn sie größeren Anklang fänden, geradezu für verhängnisvoll für die ganze deutsche Arbeitehrbewegung.” Auch hierin steckt eine gute Dosis Wahrheit, jedoch ist sie wiederum zu eng gefasst und schief zugespitzt. In Deutschland, wo die politische Organisation des Proletariats sich überraschend schnell entwickelte, waren die Gewerkschaften lange Zeit von der Partei in jeder Beziehung abhängig, sie waren der Partei untergeordnet. Aber mit der Erstarkung der gewerkschaftlichen Organisationen musste sich das Verhältnis ändern. Die Gewerkschaften mussten lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie brauchten ihre eigene Zentralisation. Je mehr sie sich in diesem Sinne entwickelten, desto selbständiger mussten sie sich fühlen. Ihr Verhältnis zur politischen Partei konnte nicht mehr das einer Spezialwaffe unter dem gleichen Oberkommando bleiben, sondern es musste das zweier verbündeter Armeen werden. Mit der Entwicklung der Gewerkschaften entstand gewiss die Gefahr einer Konkurrenz zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie, wer will das leugnen? Aber um dieser zu begegnen, gab es für die Sozialdemokratie nur ein Mittel: mehr noch als bisher in ihrem parlamentarischen Auftreten, in ihrer Politik, in ihrer Agitation auf die gewerkschaftlichen Interessen Rücksicht nehmen, Man musste sich klar machen, dass die Erstarkung der Gewerkschaften auch der politischen Vertretung des Proletariats mehr Arbeit und zugleich mehr Einfluss erschafft. Auer aber fasste die Sache äußerst engherzig auf: die Konkurrenz der Gewerkschaften müsse niedergekämpft, im Keime erstickt werden; der Stützpunkt aller Selbständigkeitsbestrebungen der Gewerkschaften sei die Generalkommission, folglich müsse dieser — „das Fell gestrichen werden”. Das gelang ihm denn auch damals, dank der gewaltigen Autorität der politischen Organisation und dem Misskredit, in dem die ohnedies noch sehr schwachen Gewerkschaften in Folge der ungünstigen Geschäftskonjunktur etc. standen, mit Leichtigkeit. Aber es war ein schlimmer Pyrrhussieg. Was Auer für eine heilsame Zurückweisung der Übergriffe einzelner Gewerkschaftsführer hielt, wurde zu einem Riss zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Die verfehlte Taktik Auers gegenüber den Gewerkschaften hatte den gleichen Grund, wie sein Missgriff bei den Genossenschaften: er hat die politische Betätigung des Proletariats zu ausschließlich, zu gesondert von allem anderen ins Auge gefasst. Etwa folgender Gedankengang: wir wollen die soziale Revolution; also Eroberung der politischen Macht; also politische Organisation des Proletariats, Sozialdemokratie; alles andere mag Gegenwartsvorteile bringen — vieles ist Schwindel — es mag auch nicht ohne Wert sein als Vorschule der Sozialdemokratie, jedenfalls aber tritt es der politischen Betätigung der Sozialdemokratie gegenüber in den Hintergrund, darf dieser nicht im Wege stehen. Was bei dieser Argumentation übersehen wird, sind die Wechselwirkungen. Sieht man von Störungen ab, die im proletarischen Klassenkampf wie in jeder große politischen Bewegung unvermeidlich sind und von mannigfaltigen Ursachen abhängen, unter denen die Einsichtslosigkeit der Parteiführer die geringste Rolle spielt, so fördert die politische Betätigung des Proletariats die Gewerkschaften und Genossenschaften, aber auch diese nicht minder die Sozialdemokratie. Der springende Punkt liegt nicht in dem Übergewicht der politischen Aktion des Proletariats, sondern darin, dass das soziale Aufstreben des Proletariats in all seiner wachsenden Mannigfaltigkeit, selbst in seinen mit der Politik am wenigsten zusammenhängenden Erscheinungsformen stets und immer wieder auf das gleiche Ergebnis hinausläuft: die Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Auer hat niemals eine andere Politik getrieben als reine Arbeiterpolitik. Darin liegt seine große Stärke. Er hat niemals mit dem Bauerntum oder Handwerkertum kokettiert. Eine Politik staatsmännischer Kombinationen ist ihm vor Allem zu spekulativ: sein praktischer Verstand erfordert eine klare, einfache Situation. Man hält Auer für besonders schlau; er ist es aber gar nicht; er tut nur so, als ob er es wäre, und das Schönste ist, man glaubt es ihm. Als er öffentlich mit der ungeheuer schlauen Äußerung paradierte: „Lieber Ede [Bernstein], so was sagt man nicht, so was tut man”, setzte er sich selbst zu diesem machiavellistischen Grundsatz in Widerspruch. Er ist zu sehr Vollblutgermane3 um so überwältigend schlau zu sein. Ein Polemist von ciceronischer Beredsamkeit, lässt er sich von seinem Sarkasmus am ehesten zu Übertreibungen hinreißen. Er hat in den letzten Jahren entschieden viel mehr gesprochen als nötig war, und stellte sich schlimmer hin als er ist. Als Praktiker hatte er von vornherein Misstrauen gegen die Theorie; die Art, wie er dann die Theorie gehandhabt hatte, musste, wie wir gesehen haben, ihn erst recht enttäuschen; so wurde sein Misstrauen zur Skepsis. Darunter leidet vor Allem die Einheitlichkeit seiner politischen Auffassung. Er hat seine Zweifel nach links und seine Zweifel nach rechts, und nichts befriedigt ihn. Er findet in sich nicht mehr die geistige Zuversicht, um für bestimmte Grundsätze rücksichtslos einzutreten; er begreift es deshalb nicht mehr, wenn es Andere tun. Er sieht darin nur noch Unduldsamkeit und Streitlust. Seine Zweifel bringen ihn dem Opportunismus nahe, nicht wegen dessen positiver, sondern wegen dessen negativer Eigenschaften, der an den geltenden Grundsätzen geübten Kritik. Zwar akzeptiert er diese Kritik nicht, aber es interessiert ihn zu erfahren, wie sie sich entwickeln, was daraus werden wird. So ist Auer, einer Derjenigen, welche die Gefahren des Opportunismus am frühesten erkannt hatten und gegen ihn am schärfsten aufgetreten waren, zwar noch nicht erklärter Opportunist, wohl aber der Schutzpatron des Opportunismus geworden. Zugleich führte ihn sein Skeptizismus merkwürdigerweise zu einer Art Fatalismus. Alles Theoretisieren sei eigentlich nutzlose Zeitvergeudung, jede spekulative Voraussicht — zumal nachdem Bebel sich im Datum der Revolution geirrt hatte — Spielerei, was werden soll, das wird, und wie es wird, davon wissen wir sehr wenig. Also vor Allem recht vorsichtig und langsam, überstürzen wir uns nicht! Wir kommen schon zeitig genug an, wenn nicht viel zu früh. Rechnen wir mit den Verhältnissen, gehen wir nicht gewaltsam vor. Kein Programm, keine klare Taktik, außer dem Einen: überall zu bremsen. Und auch hier, je mehr das Endziel dem Gesichtskreis entrückt, erwacht die Sucht nach unmittelbaren, greifbaren Erfolgen. Gegenwartsarbeit in dem bereits gekennzeichneten, beschränkten Sinne. An Stelle der Kritik der Verhältnisse, die vorwärts treibt, tritt die Anpassung an die Verhältnisse, die jedem Aufstreben die Spitze abbricht und sich wie ein Mehltau über die Bewegung legt, sie ungemein beschwerend und lähmend. Noch auf dem Parteitag zu Frankfurt 1899 [1894!] rief Auer der bayerischen Fraktion zu, die das in vieler Beziehung tatsächlich unselbständige bayerische Staatsbudget bewilligt hatte: „Seid Ihr denn in den Landtag gewählt, das bayerische Gemeinwesen in seiner jetzigen Gestalt fortzuführen? Sollt Ihr es nicht umgestalten, oder — verzeihen Sie den Ausdruck — untergraben? Legt Euch einmal diese Frage vor und Ihr werdet die schiefe Situation begreifen, in die Ihr geraten seid. Das Gemeinwesen wird in sich selbst zerfallen, aber die Mittel zum Unterhalt und zur Fortführung dieses Gemeinwesens zu gewähren ist nicht Eure Sache. Überlasst das ruhig den Nationalliberalen und Ultramontanen.” Und 1897 in Hamburg hat er bereits nicht begreifen können, wie man der Regierung die Waffenausrüstung der Armee verweigern könne, da man durch die Soldaten nicht „mit Stöcken ausgerüstet ins Feld schicken„ könne! Und 1900 in Paris schütze er die Ministerschaft Millerands und bejammerte das arme Deutschland, das von einer sozialistischen Ministerkandidatur noch so weit enternt sei. Welche Wendung durch Gottes Fügung! So verliert auch der Praktizismus in der Arbeiterpolitik, indem er sich vom sozialrevolutionären Mutterboden loslöst, jeden Halt und gravitiert zur Assimilierung an den kapitalistischen Staat. 5. Der Bernsteinsche Revisionismus Dass die wissenschaftliche Erkenntnis keinen Stillstand kennt, dass mit der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse auch eine Revision der ökonomischen Theorien notwendig wird, das sind Banalitäten. Darüber streitet Niemand. Es gehört die Geistesleere des Opportunismus dazu, um ein breites Gerede darum zu machen, dass er sich dem Dogma nicht fügen wolle, dass er das Recht habe, seine eigene Meinung zu haben, dass er sich von Niemand das Recht bestreiten lassen wolle, zu kritisieren, zu revidieren etc. Wer wirklich etwas Neues zu sagen hat, der sagt es, ohne viel zu fragen, und sorgt vor Allem dafür, dass das Ding Hand und Fuß bekomme, dass zwischen ihm und dem Alten eine klare und präzise Scheidung stattfinde. Aber diese Scheidung, die unerlässlich ist zur Klarheit, wagt der opportunistische Revisionismus nicht, er versteckt sich, wenn angegriffen, hinter derselben Doktrin, die er bekämpft. Er wagt es nicht, mit eigener Stimme zu sprechen, er spitzt die Lippen nach alter Art und behauptet, sein elendes Piepsen sei das alte muntere Pfeifen. Nicht das Recht der eigenen Meinung wird ihm bestritten, sondern das Recht, seine Meinung den durch das ganze Denken und Wirken von Marx und Engels festgelegten Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu unterschieben. Der revolutionäre Sozialismus mag in seinen Grundlagen falsch sein, man beweise uns das, aber wenn man uns sagt, die Welt habe ein halbes Jahrhundert lang Marx und Engels missverstanden, diese haben selbst nicht gewusst, was sie gewollt haben, und würden es erst aus dem Munde Bernsteins erfahren haben, wenn sie nicht zu früh verstorben wären, so weisen wir das auf Grund wissenschaftlicher und politischer Dokumente mit Hohngelächter zurück. Was wir brauchen, das ist vor Allem Klarheit. Wir müssen entschieden gegen jeden Versuch einer literarischen Konfusion protestieren, welche die Konsequenzen ihres eigenen Denkens verbirgt, gegen alles, was darauf hinausgeht, die Wahrheit zu verdunkeln statt sie klarzulegen. Die ganze vierjährige Kampagne gegen den Bernsteinschen Revisionismus erstrebt nichts anderes als Klarheit. Nach rechts oder nach links: sollen wir auf dem Boden des revolutionären Sozialismus verbleiben oder sollen wir eine sozialreformerische Partei werden — nur keine Konfusion, kein politisches Maskenspiel, kein Selbstbetrug! Aber eine klare, sichere Stellungnahme ist eben für Bernstein nicht mehr möglich, er hat die Fähigkeit verloren, auch nur einen Augenblick die Dinge anzusehen, ohne den Gesichtspunkt zu verschieben: in einem tollen Wirbeltanz dreht er sich um seine eigene Achse, dass alles um ihn schwirrt und schillert! Fordert man ihn auf, die Konsequenzen seines eigenen Standpunktes zu ziehen, so erscheint ihm das höchst ärgerlich, ja beleidigend. Kann man sich eine lächerlichere Situation denken, als die dieses Parteireformators, dieses Bahnbrechers des Sozialismus, der dem internationalen Proletariat neue Wege zeigen will und der sich bitterjämmerlich darüber beklagt, dass er durch eine Hinterlist dazu gebracht worden sei, seine Ansichten publik zu machen!** Ganz heimtückisch habe an ihm sein Freund Kautsky gehandelt, als er ihm den Rat gegeben habe, seine Ansichten in einem Buche zusammenzufassen. Welche Perfidie! Musste doch Kautsky wissen, dass Bernstein durch eine zusammenhängende Darstellung seines Revisionismus sich unsterblich blamieren werde! Es ist ein sehr interessanter Charakterzug des opportunistischen Revisionismus: einerseits wird Bernstein, je mehr er „revidiert”, immer geschwätziger, andererseits trägt er das Gefühl mit sich herum, besser wäre es, er hätte überhaupt geschwiegen. Er fühlt sich in der Haut des Ovidschen Raben, dem Zeus wegen seiner Geschwätzigkeit das Gefieder geändert hatte, sehnt sich nach seiner makellosen Vergangenheit zurück und kann doch nicht lassen, weiter zu schwatzen. Vormals weißer wie Schnee mit silberhellem Gefieder Winkte der Rab‘ und trotze den ganz ungemakelten Tauben; Nicht die wachsame Gans, die Roms Kaptole zur Hut war, Schimmerte heller denn er, noch der rudernde Schwan im Gewässer. Ihm war die Zunge Verderb; durch Schuld der geschwätzigen Zunge Ward das lichte Gefieder in dunkles plötzlich verwandelt. Auch Marx und Engels sind ja als Kritiker, als Revisionisten aufgetreten. Nun sehe man doch, mit welcher Schärfe sie ihren Standpunkt aus dem Wuste hergebrachter Ideen herauszuschälen bemüht waren, wie kühn und sicher sie die Grenzen zwischen dem Neuen und dem Alten zogen, bis auf Äußerlichkeiten, bis auf den Namen — sie nannten sich Kommunisten im Unterschied zu dem sozialistischen Mischmasch jener Zeit. Denn sie hatten ein politisches Programm, eine soziale Doktrin zur Geltung zu bringen. Und so hat bis jetzt noch jeder gehandelt, der in der Wissenschaft oder in der Politik einen originellen Gedanken zu verfechten hatte. Aber dieser opportunistische Revisionismus ist gerade dadurch charakterisiert, dass er keinen einzigen eigenen Gedanken aufweist, keine einzige neue Tatsache aufzubringen vermag. Er ist den alten Überzeugungen untreu geworden und hat keine neuen gewonnen. Er bekämpft die sozialrevolutionären Grundsätze mit sozialreformerischen Argumenten aber was er an Stelle des Sozialismus setzen soll, weiß er nicht. In dem ganzen Sammelsurium der Bernsteinschein Aufstellungen: dass die Klassenscheidung nicht so rasch vor sich gehe, wie der Sozialismus annimmt, von der Mittelklasse, welche die Zuspitzung der Klassengegensätze verhindert, vom Bauerntum, das an seinem Kleinbesitz hängt, von den gewerblichen Kleinbetrieben, die noch immer sehr zahlreich sind, von der verlangsamten Betriebskonzentration, von der gewichtigen Rolle des Kapitalisten als Unternehmer, dass die Handelskrisen nicht im Wesen der kapitalistischen Produktion gründen, sondern dem Schwindel zuzuschreiben seien und jedenfalls der kapitalistischen Organisation des Handels, den Kartellen etc. weichen müssen, von dem kapitalistischen Kulturfortschritt und der Besserung der Lage der Arbeiter, vom Einfluss philanthropischer Anschauungen, der öffentlichen Meinung, der Demokratie, vom langsamen Fortschritt oder dass die Geschichte keine Sprünge mache, von der Unreife der Arbeiterklasse, von der Verwandlung des Proletariats in einen Kapitalisten durch den Besitz einer kleinen Aktie oder eines Sparkassenbüchleins, von den wirtschaftlichen Umformungen die von selbst, ohne zielbewusste Einmischung der politischen Gewalt, den Kapitalismus langsam, aber sicher in eine andere Gesellschaftsordnung umwandeln — ja, ist denn in alledem auch nur ein Wort, das nicht schon vor Bernstein tausendfach mündlich und schriftlich wiederholt worden wäre, ein Gedanke, der nicht bereits mindestens ein Menschenalter hinter sich hätte?! Das alles war uns längst bekannt und längst durch gute Gründe als krasse Übertreibung, direkte Unrichtigkeit oder Verschiebung des Sachverhalts zurückgewiesen worden. Das Tatsachenmaterial, mit dem Bernstein seinen Revisionismus belegt, ist so dürftig, so kritiklos zusammengestellt, dass sicher jeder deutsche bürgerliche Sozialreformer sich schämen würde, damit gegen den revolutionären Sozialismus ins Feld zu ziehen. Da es sich diesmal nicht um eine Widerlegung — das ist ja längst geschehen —, sondern um eine Charakteristik des Bernsteinschen Revisionismus handelt, will ich hier nur anführen, dass Bernsteins Bezugnahme auf die deutsche Berufs- und Gewerbestatistik selbst von ihrem amtlichen Bearbeiter Lügen gestraft wird. So hat es Benstein stutzig gemacht, dass neben dem allgemeinen Rückgang der Kleinbetriebe in einzelnen Gewerben sich vielmehr ein Wachstum derselben feststellen lässt. Bernstein sieht darin einen Parallelismus der Entwicklung von Großbetrieb und Kleinbetrieb. Hören wir die amtliche Statistik! „Die Gründe für das Wachstum der Alleinbetriebe in den genannten Gewerben sind verschieden. Während es in einzelnen Gewerben als Zeichen der gesunden Entwicklung des Kleinbetriebs gelten darf, wie in der Gärtnerei und Tierzucht, bei den Gas- und Wasserinstallateuren, bei Barbieren etc., ist es in anderen Gewerben ein Stadium in dem Konkurrenzkampf zwischen Klein- und Großbetrieb, das im Grunde eine Niederlage des Kleinbetriebs, speziell des Handwerkes, bedeutet. Nämlich ein Zurückdrängen der Handwerker in jene primitive Betriebsform, in der sie dann zum Teil reine Hausindustrielle werden, zum Teil in Abhängigkeit von Magazinen und anderen Großbetrieben geraten.” Als Beispiel dieses Rückganges führt die Statistik die Schuhmacher, Uhrmacher, Buchdrucker, Tabakarbeiter an. „Dagegen hat die Vermehrung der Alleinbetriebe bei den verschiedenen Arten des Warenhandels, bei der Schneiderei und bei den Ofensetzern wesentlich statistisch-formale Gründe.” Es wird nachgewiesen, dass das geänderte Zählungsverfahren 1895 die Zahl größer erscheinen lassen musste. „Im übrigen zeigt sich der Rückgang der Alleinbetriebe nicht etwa nur in Gewerbe, wie eine vorschreitende Technik der wichtigste Bundesgenosse des Großbetriebs ist, wie in den verschiedenen Arten der Textilindustrie, der Verfertigung grober Holzwaren, der Molkerei, der Waschanstalten usw., sondern fast noch mehr da, wo der größere Betrieb lediglich organisatorische Vorteile bietet, wie bei den Gewerbearten der Handelsgewerbegruppe, ferner bei dem Frachtfuhrwerk” etc. Bei dem Vergleich der Betriebe nach ihrer Größe verweist die amtliche Statistik mit Nachdruck darauf, dass die statistische Zahl des beschäftigten Personals allein noch keineswegs maßgebend sei. „Das wirtschaftliche Gewicht der Großbetriebe erscheint in Wirklichkeit noch viel größer, da einerseits neben den menschlichen auch die mechanischen Arbeitskräfte (Motoren, Maschinen) hier besonders in die Wagschale fallen, außerdem ein Teil der Großbetriebe durch Zerlegung von Gesamtbetrieben in der Statistik als Klein- und Mittelbetriebe behandelt ist.” Sehr bemerkenswert sind die Ausführungen der amtlichen Statistik bezüglich der Entwicklungsfähigkeit zum Großbetrieb der einzelnen Gewerbe. „Hierüber bekommt man Anhaltspunkte, wenn man sich aus der Statistik für jedes Gewerbe die höchste Größenklasse vergegenwärtigt, in der Betriebe dieser Art vorkommen.” Es werden nun zunächst die Betriebe mit dem niedrigsten Maximum der Betriebsgröße zusammengestellt. Ergebnis: „Auffälliger Weise sind die angeführten Gewerbearten größtenteils recht unbedeutende und befinden sich insbesondere nur sehr weniger der alten und großen Handwerke darunter. Als solche wären eigentlich nur Barbiere, Friseure, Schornsteinfeger und auch Geigenmacher zu bezeichnen; dies sind auch so ziemlich die einzigen Gewerbe, in denen der Großbetrieb technische Fortschritte überhaupt nicht und auch organisatorische in nur sehr beschränktem Umfang bieten kann.” Nun wird noch eine besondere Übersicht gemacht für die Gewerbearten, welche „bis heute noch wirkliche Handwerke darstellen”. Ergebnis: „Von den Gewebearten obiger Zusammenstellung weisen vier bereits eine Entwicklung zum Kolossalbetrieb auf: Gärtnerei, Stellmacherei, Seilerei und Gerberei. … es erscheinen bis zu ganz großen Betrieben (mit 501 bis 1000 Personen) entwickelt: Ziegelei, Hutmacherei und Maurerei. Bis zur großen Fabrik (mit 201 bis 500 Personen) entwickelt sind vor Allem die wichtigsten Handwerke der Schuhmacherei und Tischlerei. … Außerdem gehören hierher: Töpferei. Müllerei, Konditorei, die als ‚modernes Handwerk‘ gepriesene Einrichtung von Gas- und Wasseranlagen, ferner Böttcherei, Gürtler, Steinsetzer, Sattler.” Und dann auf Grund eines Vergleichs mit 1882: „Man kann sonach von einer vom Großbetrieb sich entfernenden Entwicklung nur bei der Gärtnerei sprechen. … Im übrigen haben Tierzucht und Fischerei, Beherbergung und Erquickung noch am meisten den kleingewerblichen Charakter bewahrt, alle anderen Gruppen streben mehr oder weniger rasch einer großgewerblichen Entwicklung zu.” Wie schon erwähnt, verweist der amtliche Bearbeiter selbst darauf, dass durch die Zerlegung der zusammengesetzten Betriebe in einzelne Spezialitäten in den statistischen Nachweisen eine Verschiebung zu Gunsten der Kleinbetriebe, zu Ungunsten der Großbetriebe eintritt. Dadurch allein verlieren die Betriebe mit über 100 Beschäftigten mehr als 160.000 Arbeiter. Jene kapitalistischen Organisationen aber, die sich nicht auf einen Ort beschränken, sondern durch Filialen, Neben- und Hilfsbetriebe über das Land und selbst über dessen Grenzen hinaus sich ausbreiten, können von der amtlichen Statistik überhaupt nicht erfasst werden. So erscheint die Deutsche Bank in über einem Dutzend selbständigen Unternehmungen, in viele selbständige Unternehmungen zerfallen auch die Kruppschen Werke etc. Im vollen Bewusstsein dieses wichtigen Mangels sucht die amtliche Statistik das ungeheure Zahlenbild wenigstens dadurch zu ergänzen, dass sie Einzelbeschreibungen typischer Kolossalbetriebe gibt. Für Bernstein existiert das alles nicht. Ein großes Gewicht legt Bernstein auf den gegenwärtigen Stand der Klassengliederung. Was auch die Entwicklungstendenz sein mag, so beweise doch die große Zahl der Selbständigen, wie wenig reif für die soziale Revolution die Verhältnisse noch sind. Demgegenüber ist die Kritik interessant, welche die amtliche Statistik an diesen „Selbständigen” übt. „Zweifellos weist die große Schicht der Selbständigen in sich kaum weniger und sicher ebenso wichtige soziale Unterschiede auf, wie die große Zahl der Abhängigen; selbständig ist zwar der Parzellenbesitzer, der knapp soviel baut, als er für sich und seine Familie braucht, wie der Großgrundbesitzer, der Alleinmeister wie der Inhaber eines Tausende von Arbeitern beschäftigenden Fabriketablissements, der Krämer wie der Grossist, der Millionen vor Werten jährlich umsetzt. Aber die sozialen (Klassen-***)Unterschiede sind hier keine geringeren wie die zwischen Selbständigen und Abhängigen.” Speziell bezüglich der Selbständigen in der Industrie heißt es: „Zu der über eine Million Alleinmeister stellen also die Selbständigen im Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe und im Baugewerbe weit über die Hälfte; sie haben für ihren Betrieb Kapital in der Regel überhaupt nicht, oft nicht einmal eine Betriebsstätte nötig. Die allein arbeitenden Baugewerbenden, namentlich die zahlreichen Maurer und Zimmerer, sind großenteils tatsächlich Stück- und Zeitlohnarbeiter, die zur Ausführung untergeordneter Arbeiten bestellt werden und vielfach die Rolle von Selbständigen nur spielen, wenn es ihnen an Gelegenheit fehlt, für einen Meister zu arbeiten. Auch unter den alleinarbeitenden Selbständigen der Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe greift die Arbeit im Hause der Kunden noch in sehr weitem Maße Platz und andererseits ist ein großer Teil von ihnen, namentlich Schneider und Schuster, obwohl sie sich noch nicht zur Hausindustrie zählen, tatsächlich zu Heimarbeitern (Sitzgesellen) oder ‚verlegten‘ Handwerker geworden. In ziemlich der gleichen Lage befinden sich die zur untersten Selbständigenschicht gehörenden 43.000 Selbständigen der Textilindustrie. Auch der Rest der alleinarbeitenden Selbständigen — etwa 300.000 — ist nur zum kleinen Teile eines nennenswerten Anlage- und Betriebskapitals bedürftig.” Die meisten dieser Selbständigen sind es also nur — als „formalstatistischen Gründen„! Schließlich versucht es die amtliche Statistik, ein zahlenmäßiges Bild der „sozialen Schichtung” der Bevölkerung aufzustellen. Nachdem sie die Verhältnisse in der Landwirtschaft, in der Industrie und im Handel einer gesonderten Prüfung unterworfen und dabei schon am allerwenigsten durch sozialrevolutionäre Grundsätze, durch Voreingenommenheit eines orthodoxen Marxisten sich hat leiten lassen, gelangt sie zu folgendem Resultat: Soziale Schichtung der Reichsbevölkerung:****
Hier haben wir also den amtlichen statistischen Nachweis, dass die den Staat beherrschenden Kapitalistenklasse noch nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung ausmacht, dass die Lohnarbeiterklasse allein die Majorität des Volkes umfasst, zusammen mit der unbemittelten Klasse der Selbständigen aber, die nicht nur durch ihre Armut, sondern vielfach durch ihre ganze wirtschaftliche Stellung mit der Lohnarbeiterklasse zusammenhängt und nur aus formalstatistischen Gründen von ihr getrennt erscheint, mehr als Zweidrittel, dass besonders in der Industrie das Proletariat mehr als Zweidrittel der Bevölkerung bildet und mit der unbemittelten Klasse der Selbständigen über Vierfünftel, fast 85 Prozent! Als Bernstein zuerst seine statistischen Aufstellungen in der „Neuen Zeit„ machte, lag eine amtliche zusammenfassende Bearbeitung der Berufs- und Gewerbestatistik von 1895 noch nicht vor. Ich habe ihm aber schon damals in der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung” alle die soeben erwähnten, später von der amtlichen Statistik hervorgehobenen Momente vorgehalten. Er wagte nicht einmal den Versuch einer Widerlegung der von mir an seinen Tatsachen geübten Kritik. Er fühle sich von mir persönlich gekränkt, erklärte er, und werde mir deshalb nicht antworten. Offenbar fühlt er sich auch durch die amtliche Statistik persönlich gekränkt, denn er ignoriert sie konsequent in seinen „Voraussetzungen” wie überhaupt in Allem, was er seitdem veröffentlicht hat. Es sind nicht die Tatsachen, welche Bernstein zur Änderung seiner Ansichten veranlasst haben, sondern die Änderung seines Gesichtspunktes lässt ihm die Tatsachen anders erscheinen. Darum kann man sich mit ihm gar nicht mehr verständigen. Da mögen die Tatsachen noch so drastisch sein, mag die Statistik eine noch so klare Sprache sprechen, er liest es immer anders oder er merkt es überhaupt nicht. Er ließ die amtlichen deutschen Publikationen ebenso verständnislos an seinem Auge vorbeigehen, wie er verständnislos den gewaltigen sozialen Umänderungen, der raschen Zuspitzung der Klassengegensätze, dem Wachstum der Städte, der Konzentration des Kapitals zusah, die selbst während dieser wenigen Jahre der Bernsteindiskussion vor sich gingen, wie er verständnislos der gegenwärtigen Handelskrisis gegenübersteht. Er weiß nicht, dass die Zahlen von 1895, auf die er sich stützte, abgesehen von seiner unzulänglichen Art der Ausnutzung, bereits 1899, als seine „Voraussetzungen” erschienen, durch und durch veraltet waren und jetzt hinter der Wirklichkeit nicht viel weniger zurückstehen als die Gewerbezählung von 1882 hinter der von 1895. Die statistischen Zahlen und noch mehr der große industrielle Aufschwung der letzten Jahre haben selbst die bürgerliche politische Ökonomie und die bürgerlichen Sozialreformer zum Verstummen oder auf andere Gedankengänge gebracht. Vergessen ist der Mittelstand, vergessen selbst der Bauer, Alles liebäugelt mit dem Fabrikproletariat, dieser zahlenreichsten und sich rasch mehrenden Gesellschaftsklasse. Nur für Bernstein ging das alles spurlos vorbei. Er wiederholt sein Sprüchlein von der langsamen Änderung der sozialen Gliederung, von der Unreife des Proletariats etc. etc. Die Gesinnungsänderung Bernsteins ist ein interessantes Problem der persönlichen Psychologie. Zu seiner Lösung fehlen jedoch sehr wichtige Unterlagen. Es fehlt die Korrespondenz welche Bernstein während der Jahre seiner Redaktionstätigkeit am „Sozialdemokrat” mit Friedrich Engels geführt hat. Auch aus den paar Briefen, die Bernstein selbst — bruchstückweise und unter vielen Streichungen — veröffentlicht hat, ist klar zu ersehen, dass Bernstein in allen wichtigeren Angelegenheiten sich gern in London Rat holte und dass Engels ihm, wie anders bei dessen peinlicher wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit gar nicht zu erwarten war, zur Antwort ganze geschichtliche, philosophische, parteipolitische Abhandlungen schrieb. Es war eine äußerst rege Korrespondenz, die Zahl der Briefe muss sehr groß sein. Wir alle wissen, wie meisterhaft es Engels verstanden hat, mit eine paar Strichen eine Situation, eine ganze Entwicklung zu kennzeichnen. Wir alle wissen, welchen fast unerschöpflichen Reichtum an Anregungen seine kleinen Schriften enthalten, — da kann man sich schon denken, welches Wissen und welche Gedankenfülle in jenen Briefen enthalten sein müssen, durch die der Altmeister des Sozialismus den jungen Redakteur des „Sozialdemokrat” instruierte. Erst wenn jene Briefe in chronologischer Ordnung, ohne Auslassungen, ohne Streichungen, veröffentlicht sein werden, wird man beurteilen können, was im „Sozialdemokrat” von Bernstein war und was bloß durch Bernstein in den „Sozialdemokrat” kam, überhaupt inwiefern er einer originell durchdachten Überzeugung, einer selbstgewonnenen Erkenntnis der Verhältnisse oder der fertigen Direktive eines geistig und wissenschaftlich überlegenen Mannes folgte. Soweit er sich im Rahmen der übernommenen Doktrin hielt, lieferte Bernstein Arbeiten, die sich durch eine bedeutende analytische Schärfe, aber auch durch eine gewisse Zerfahrenheit der Beweisführung, eine Vielheit der Gedankengänge, die statt sich zu ordnen, parallel verliefen, auszeichneten. Seine Zweifel und Schwankungen lassen sich von dem Anfang der neunziger Jahre an verfolgen. Seine Artikel ließen immer mehr unbefriedigt. Man las sie mit Interesse, aber wenn man zu Ende war, wusste man nicht, woran man eigentlich sei. Einige interessante Einfälle, einige Übertreibungen, einige Einschränkungen — doch wo da alles hinaus sollte, blieb unklar. Es gab keine Lösung. Es konnte so sein und so, und auch anders — das war alles. Dann schränkte er die Möglichkeiten ein, und es begannen sich vor ihm überall, in jeder Frage, jedem Problem, Hindernisse aufzutürmen. Seine parallelen Gedankengänge hatten erst, solange sein Gesichtspunkt feststand, einen vereinigenden Brennpunkt; je mehr sein Gesichtspunkt unsicher wurde, desto unabhängiger von einander wurden seine Schlussfolgerungen. Er bekam die Fähigkeit, die heterogensten Dinge zu vereinigen und die einfachsten zu spalten und aufzulösen. Er begann damit, dass er in jeder Sache tausend Möglichkeiten und keine Lösung sah, und er endigte damit, dass er in jeder Sache tausend Unmöglichkeiten und keinen Ausweg sieht. Bernstein glaubt, durch seine sozialreformerischen Argumente über den wissenschaftlichen Sozialismus hinauszugehen, während er tatsächlich hinter ihm zurückbleibt. Das ist der springende Punkt. Er tischt uns als neue Argumentation Sachen auf, die von uns längst überwunden sind. Aber so sehr wir bereit sind, unsere Gedankengänge zu revidieren, nachzuprüfen, ob sie den Anforderungen der vorgeschrittenen Entwicklung entsprechen, die im Laufe der Zeit verwitterten Quadersteine, auf denen sich unsre Partei wissenschaftlich aufbaut, durch neue zu ersetzen, so können wir doch nicht immer und immer wieder uns bei Dingen aufhalten, die läst abgetan sind. Eine Revision unserer Parteigrundsätze ist nur noch möglich nach links, nicht nach rechts, auf dem vom wissenschaftlichen Sozialismus gewonnen Boden des sozialrevolutionären proletarischen Klassenkampfes, nicht auf dem von ihm verlassenen Boden der sozialreformerischen Utopisterei, im Sinne der Erweiterung der politischen Betätigung des Proletariats, nicht ihrer Einengung, der Verschärfung der sozialrevolutionären Energie, nicht ihrer Lähmung, eines kühneren Strebens und Wollens, nicht eines ängstlichen Zurückweichens. Nur gedeckt durch die Autorität, die er als früherer Redakteur des „Sozialdemokrat” genoss und durch seine persönlichen Verbindungen mit der Partei, konnte Bernstein es wagen, seinen Revisionismus in der Partei zu propagieren, nur so konnte er sich jahrelang innerhalb der Partei halten. Jeder andere wäre ausgelacht worden, man würde ihn mit Auer darauf verwiesen haben, dass er „vom Wesen und den Aufgaben des Sozialismus keine Ahnung habe”. Wären die „Voraussetzungen” anonym erschienen und an Bernstein zur Rezension gekommen, so würde er sie möglicherweise aus Versehen selbst zu Grunde kritisiert haben. Tatsächlich hat er sie kritisiert, noch bevor er sie geschrieben hat. Er hat diese Gedanken einzeln mit der Waffe des wissenschaftlichen Sozialismus bekämpft und sie in ihrer Gesamtheit als seine ureigene Weiterführung des Sozialismus in die Welt gesetzt. Ihm selbst erschienen auch wirklich, nachdem er den leitenden Gesichtspunkt verloren hatte, die Dinge und die Argumente anders: wie ja auch die äußere Welt anders erscheint bei Kerzenlicht als bei Sonnenschein. Aber wie konnten sich die Anderen täuschen? Man sagte sich, es sei ganz unmöglich, dass „Ede” nur das wiederhole, was er selbst wiederlegt habe, dass er nun selbst auf den sozialreformerischen Leim gehe, nachdem er jahrelang die Parteigrundsätze gewahrt habe, da müsse denn doch etwas anderes dahinter stecken, man müsse ihn nur richtig zu lesen verstehen, — und man war sehr ärgerlich wegen der „maßlosen Übertreibungen” jener Respektlosen, denen der Name Bernstein nicht die kritische Wagschale beschwerte. Wenn die Freunde Bernsteins ihm einen schlechten Dienst erweisen haben, so geschah es durch die viel zu große Nachsicht, die sie an ihm geübt hatten, durch die rabulistische Auslegungskunst, durch die sie sich selbst und alle Welt zu überzeugen gesucht hatten, dass Bernstein es ganz anders meinte als er sagte. Blickt man auf die vierjährige Bernsteindiskussion zurück, so findet man, dass viel weniger die Ansichten Bernsteins als seine Person in Schutz genommen wurden. Kein Einziger, der nicht in Bezug auf seine eigene Stellungnahme Bernstein gegenüber große Reserven gemacht hätte. Die Verteidigung Bernsteins bestand eigentlich in der Opposition gegen seine Opponenten. Diese suchte man vor der Öffentlichkeit zu diskreditieren, indem man ihnen Übertreibungen, Gehässigkeit etc. vorwarf. Man gab also de facto zu, dass, wenn die Kritiker in ihrer Auffassung Bernsteins Recht hätten, auch ihre Kritik richtig sei. Man appellierte schließlich an das Recht der freien Meinungsäußerung. Das wirkte bei den Massen um so mehr, als ihnen der ganze Streit, solange er sich im Geist der theoretischen Abstraktionen bewegte, fremd bleiben musste. Die Inkonsequenz Bernsteins, der es noch immer nicht wagte, die letzten praktischen Schlussfolgerungen aus seinen neuen theoretischen Voraussetzungen zu ziehen, und jedenfalls seine praktischen Vorschläge fast bis zur Unkenntlichkeit verklausulierte, tat ein Übriges. Die Partei duldete Bernstein, aber sie hat sich niemals auf seinen neuen Standpunkt zu stellen vermocht. Allmählich trat doch eine theoretische Klärung ein. Und zu gleicher Zeit begann die Angelegenheit auf eine Art, die zwar sich logisch aus dem Bernsteinschen Revisionismus ergibt, aber gerade deshalb von Bernstein und seinen Freunden am wenigsten vorausgesehen wurde, eine eminent praktische Gestalt zu gewinnen. Man konnte wohl sich selbst eine Zeit lang dadurch täuschen, dass man den Bernsteinschen Revisionismus für eine neue Abart des Sozialismus erklärte, nicht aber die bürgerlichen Sozialreformer, die in ihm Bein von ihrem Bein und Fleisch von ihrem Fleisch erkennen mussten. Man muss anerkennen, dass die Sozialreformer in ihrem Verhältnis zu Bernstein sehr viel Takt bewiesen haben. Sie wurden diesmal von einem richtigen Klasseninstinkt geleitet. Zunächst drängten sie sich nicht auf. Sie hielten mit ihrem Jubel zurück, dass ihnen nachträglich von ihrem Kritiker auf so eklatante Weise Genugtuung geworden war. Sie begriffen wohl, dass sie dadurch Bernstein in den Augen der Partei kompromittieren und dem ganzen Rummel ein sehr rasches Ende bereiten würden. Also sie ließen Bernstein machen und sammelten sich im Hintergrund. Aber sie bildeten den Chorus seiner Heldentaten. Sie schmeichelten ihm in die Augen, priesen ihn als den Mann der Wissenschaft, den kühnen Überwinder des Revolutionismus, den Verkünder neuer Wege. Erst musste der Bernsteinianismus mit allen Mitteln innerhalb der Sozialdemokratie populär gemacht werden. Als die Sozialreformer nun dieses Ziel erreicht zu haben glaubten, da begannen sie, ihre Schuldscheine einzufordern. Sie erheben Anspruch auf diesen Mann, der ihr geistiges Eigentum politisch verwertet. Erst halfen sie Bernstein, die Bahn frei zu machen, jetzt ziehen sie hinter ihm her. Was Bernstein recht ist, muss es auch ihnen sein, sie sagen dasselbe, nur sagen sie es mit viel mehr Klarheit und Sicherheit, sie wagen es, da sie niemals auf einem anderen als dem sozialreformerischen Standpunkt standen, ihre Gedanken voll auszudenken. Die Konsequenzen, vor denen Bernstein scheu zurückhält, zieht Herr Nossig mit spielender Leichtigkeit. Und so sah plötzlich die Partei, wie hinter Bernstein ein Schwarm bürgerlicher Projektemacher, selbstherrlicher Weltverbesserer und sonstiger Schwadroneure zu ihr heranzog und die Sozialdemokratie in neue Bahnen zu lenken sich anschickte. Zugleich ist in der bürgerlichen Presse der Bernsteinsche Revisionismus zum stehenden Kapitel geworden. Die stark verbreitete Annoncenpresse bringt die Kundschaft von der Pazifizierung der Sozialdemokratie, davon, dass sie mit sich ebenso verhandeln lasse, wie alle anderen Parteien, dass es ihr um die soziale Revolution nicht mehr ernst sei etc., unter die Arbeitermassen. In der Agitation stößt man jeden Augenblick darauf. Und so drängt sich unerbittlich die Notwendigkeit auf, der Konfusion ein Ende zu machen, eine klare Sachlage zu schaffen. Aber vergebens wird bald „gefordert”, bald „erwartet”, dass Bernstein zu der bürgerlichen Ausnützung seines Revisionismus entschiedene Stellung nehme, dass er wenigstens das Gefolge literarischer und politischer Abenteurer, das ihn auf Schritt und Tritt begleitet, ihn öffentlich verherrlicht und in seinem Namen spricht, von sich zurückweist, dass er zwischen sich und den Sozialreformern eine klare Grenze ziehe. Er kann es nicht: einem Sombart gegenüber fühlt er sich geistig verpflichtet, mit einem Nossig verbinden ihn bereits mehr geistige Bande als mit dem „orthodoxen Marxismus”. Andererseits hält Bernstein schon deshalb an der Sozialdemokratie fest, weil er außerhalb dieser jede politische Bedeutung verlieren würde. Seine Aufgabe ist die sozialreformerische Zersetzung der Sozialdemokratie. Tritt er aus dieser Rolle heraus, so wird er vom Bürgertum in die Rumpelkammer geworfen, denn dieses braucht ihnen nur, solange er sein Ansehen bei den Arbeitern ausnützen kann. 6. Die Leistungen des Opportunismus Ich übergehe die vierte geistige Spezies des Opportunismus. Unser Thema ist diesmal die opportunistische Taktik in ihren Beziehungen zu der bisherigen Tätigkeit der Partei. Die Idee der Diktatur des Proletariats, die den Konzentrationspunkt der bisherigen revolutionären Politik der Sozialdemokratie bildet, lässt sich in ihren wesentlichen Zügen so zusammenfassen: Das Proletariat, das bereits die numerische Mehrzahl der Nation bildet und mit dessen Interessen auch jene der vom Kapital ruinierten Handwerker und Bauern zusammenhängen, setzt sich in den Besitz der politischen Macht. Neben der politischen und militärischen Reorganisation des Staates im Sinne der weitestgehenden Volksherrschaft, der Verhinderung jedes Missbrauchs der Staatsgewalt, so dass diese den Volksmassen nicht mehr den Willen einer ökonomisch herrschenden Minorität aufnötigen kann, wird es dann einen Produktionszweig nach dem anderen in den Besitz des Staates überführen der unter jenen Verhältnissen aus einer Regierungsmaschinerie, einem Werkzeug zur Unterdrückung des Volkes, in einen Verwaltungsorganismus sich verwandelt; es wird die Entwicklung des kommunalen Eigentums, der kommunalen Betriebe und der Genossenschaften mit allen politischen und ökonomischen Machtmitteln des Staates fördern. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln verschwindet und die kapitalistische Produktionsweise macht dem Sozialismus Platz. Die Diktatur des Proletariats ist es aber bekanntlich, an der der Opportunismus am meisten seinen Kritizismus übt. Er bestreitet zwar nicht direkt ihre Möglichkeit, aber er bezweifelt sie, er rückt sie in die weiteste Ferne, er will sie vor Allem aus den politischen Betrachtungen der Gegenwart eliminieren. Die Verhältnisse seien noch so unreif, dass, wenn das Proletariat die Staatsmaschinerie in die Hände bekäme, es sich durch seine Gesetzgeberei nur blamieren und das Ganze mit einer kolossalen Niederlage des Proletariats enden würde. Also müssten wir vorläufig die Herrschaft im Staate Denjenigen überlassen, die sie haben, den Junkern, der Börse, der Industrie, und jedem Wahlsieg beklommen entgegensehen als einem Schritte, der uns näher bringt — unserer Niederlage. Doch mit der Inkonsequenz, von der er lebt, vermeidet es der Opportunismus selbstverständlich, diese Schlussfolgerung aus seiner Voraussetzung zu ziehen. Aber was bietet er uns statt der Diktatur des Proletariats, die für ihn als politische Richtschnur nicht mehr in Betracht kommt? Wenn nicht durch Eroberung der politischen Macht, auf welchem Wege soll das Proletariat die kapitalistische Ausbeutung beseitigen? Was soll geschehen, wie soll sich die Arbeiterklasse organisieren, um dieses Ziel zu erreichen? Kurz, was bildet den Inhalt der so viel gepriesenen opportunistischen „Realpolitik„? Versuchen wir, uns die Antwort darauf aus der opportunistischen Praxis zu holen. Es ist sehr natürlich, dass der Opportunismus, der die Hoffnung auf die politische Herrschaft des Proletariats aufgibt, zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu vermitteln sucht. Wo der Sozialismus bis jetzt die schärfsten Klassengegensätze aufdeckte, da sucht der Opportunismus nach Einigungspunkten. Er treibt Kompromisspolitik. Er will die Spitzen abbrechen, die Gegensätze überbrücken. So entstehen jene Theorien der Anpassung, des Hineinwachsens etc., durch welche der Opportunismus vor sich selbst und vor der Welt die Hoffnungslosigkeit seines Standpunktes zu verdecken sucht. Sehen wir uns an, zu welchen Resultaten der Opportunismus gelangt, wenn er diese Theorien in die Praxis umzusetzen versucht. Man sollte meinen, der dem Opportunismus nächstliegende Gedanke wäre jener der Verstaatlichungen. Das wäre der Weg der Verständigung, auf dem nichts ohne die Zustimmung der Kapitalistenklasse geschieht und dennoch die Produktion dem kapitalistischen Privatbesitz entzogen wird. Das ist ja auch die Basis, auf der sich der Kathedersozialismus aufbaut. Aber gerade an den Gedanken der Verstaatlichungen wagen sich unsere Opportunisten am allerwenigsten heran. Warum? Der Grund ist klar: sie fürchten den Staat. Zwar wiederholen sie auf Schritt und Tritt, dass der Staat fortgesetzt und von selbst immer demokratischer werde, aber in der Praxis schrecken sie selbst vor den Konsequenzen ihres eigenen theoretischen Denkens zurück. Also Verstaatlichungen — nicht. Dann vielleicht Kommunalisierungen? Um diese macht der Opportunismus ein breites Gerede, aber man wird sich vergeblich bemühen herauszufinden, was denn eigentlich der Opportunismus in dieser Richtung hin in der Praxis Neues zu proponieren hätte. Die Sozialdemokratie hat ihre Kommunalpolitik entwickelt, ohne auch nur im Geringsten ihre sozialrevolutionären Grundsätze zu verletzen. Im Gegenteil, die Tätigkeit in der Gemeinde bringt ihr nur von Neuem den Beweis der Notwendigkeit einer Änderung der kapitalistischen Staatsorganisation wie der kapitalistischen Eigentumsordnung. Ob es sich um die Wohnungsfrage, um Elektrizitätswerke oder um Straßenreinigung, darum, dass in einem Arbeiterviertel ein paar Laternen mehr aufgestellt werden, und dergleichen mehr handelt, immer stößt man in der Gemeindepolitik auf die Frage der Grundrente. Die Hausherren benuten jeden Fortschritt, jede Verbesserung, um die Mietpreise zu steigern. Besteuert man sie, so wälzen sie die Steuern auf die Mieter ab. Aber währenddem der revolutionäre Sozialist zielbewusst gerade jene Momente hervorzuheben sucht, welche die Kommunalpolitik in Widerspruch setzen zu der kapitalistischen Eigentumsform, sind sie dem Opportunisten nur Ballast, der bleischwer seine Bewegungen hindert, ebenso viele Hindernisse seiner „positiven Tätigkeit„. Er vermag den Widerspruch nicht zu lösen, deshalb sucht er ihm aus dem Wege zu gehen, indem er sich möglichst unbedeutende Aufgaben stellt, bei denen die Gegensätze weniger schroff zum Ausdruck kommen. Aber je geringer der praktische Wert seiner Tätigkeit, desto kühner die theoretischen Spekulationen, die er daran knüpft. Der Revolutionär als Kommunalpolitiker kann sich durch nichts befriedigt fühlen, er hat für alle Mängel und Unzulänglichkeiten ein scharfes Auge und wird gerade deshalb zur treibenden Kraft — der Opportunist als Kommunalpolitiker hat stets alle Hände voll „positiver Arbeit„, bewegt sich geschäftig wie ein Maulwurf und bleibt wie dieser im engsten Kreise, macht aus jedem Quark ein großes Wesen und glaubt, den Grundstein zum Sozialismus gelegt zu haben, wenn er Volksbrausebäder und öffentliche Bedürfnisanstalten errichtet. Der Opportunist glaubt, durch Kommunalpolitik den Kapitalismus ungestalten zu können — in Wirklichkeit scheitert die Kommunalpolitik an dem Kapitalismus, bleibt Stück- und Splitterwerk, wird durch die kapitalistischen Verhältnisse nicht nur gehindert, sondern umgestaltet, oft so, dass das Gegenteil von dem herauskommt, was beabsichtigt wurde. Man führt zum Beispiel nach einem Vorort Wasserleitung und Kanalisation, legt eine Straßenbahn an etc., um den dort wohnenden Arbeitern Bequemlichkeiten zu verschaffen und erreicht damit, dass die Arbeiter aus ihren Wohnungen vertrieben werden, da nunmehr Beamte, Lehrer, Offiziere, Rentiers etc. nach dem Vorort ziehen und die Mietpreise steigen. Die proletarische Kommunalpolitik vermag also die Staatspolitik des Proletariats nicht zu ersetzen. Sie bedarf vielmehr selbst, um sich vollständig entwickeln zu können, einer grundsätzlichen Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, die ohne die Diktatur des Proletariats nicht durchzuführen ist. Indem der Opportunismus mit dieser nicht mehr rechet, untergräbt er auch hier den Boden jeder praktischen Tätigkeit, deren Gesichtskreis über jenen der bekannten sozialpolitischen Bürgermeister etwas hinausreicht. Ein weiteres Lieblingsthema der Opportunisten sind die Genossenschaften, vorzüglich die Konsumvereine. Und wieder gerät man in die größte Verlegenheit, wenn man herausfinden will, welche besonderen Vorschläge der Opportunismus in der Praxis zu machen hat. Gewiss war der Standpunkt der Partei in diesen Dingen eine Zeit lang einseitig und beschränkt, doch hat sie die Entwicklung der Konsumvereine nicht nur nicht gehindert, sondern gefördert. Sie hat ihre Freude an dieser Entwicklung, braucht aber deshalb noch keineswegs sich Illusionen hinzugeben über die ökonomische Tragweite und die sozialpolitische Bedeutung der Konsumvereine und der mit ihnen zusammenhängenden Genossenschaften. Gegen die Versuche der Mittelstandspolitiker, die Konsumvereine durch eine fiskalische Gesetzgebung zu strangulieren, hat die Partei stets energisch Front gemacht — allerdings nicht gerade, weil es sich um sozialistische Bildungen, um so mehr aber, weil es sich um eine Verbrauchssteuer auf das Volk handelt —, sonst aber lässt sich zu Gunsten der Konsumvereine, außer einer allgemeinen Propaganda, seitens der Partei tatsächlich nicht mehr viel tun. Der Opportunismus selbst ist weit davon entfernt, die Partei zu einer allgemeinen Gründung von Konsumvereinen aufzufordern, denn das würde allerdings schnell zu einer „kolossalen Niederlage„ führen. Damit verlassen wir nun überhaupt das Gebiet jener Maßnahmen, die mit mehr oder weniger Aussichten auf Erfolg, auf eine Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft bzw. der grundlegenden Verhältnisse, welche die Ausbeutung bedingen, hinausgehen. Die Ausbeute, die uns dabei der Opportunismus gewährt, ist äußerst armselig: keine Änderung der Eigentumsform auf politischem Wege, keine Verstaatlichungen, eine Kommunalpolitik, die verurteilt ist, Stück- und Flickwerk zu verbleiben, schließlich die Konsumvereine. Nichts, was die Partei nicht auch schon, ohne opportunistisch zu werden, beachtet hätte, nichts, was die Partei auf diesen Gebieten mehr als bisher vorwärts treiben sollte, nur utopische Phantastereien und Illusionen. Das nennt sich „Realpolitik„! Der Unterschied ist nur der, dass währenddem die Partei das eine tut, ohne das andere zu lassen, und zum Beispiel energische Kommunalpolitik betreibt, ohne deshalb die Eroberung der politischen Macht, die ihr die Möglichkeit geben würde, die allgemeinen Verhältnisse im Staat zu ändern, und auch in der Kommunalpolitik ganz andere Potenzen ihr in die Hand legen würde, außer Acht zu lassen, der Opportunismus die Kommunalpolitik vorschiebt, um den Mangel eines sozialrevolutionären Standpunktes zu decken, und in Folge dieses Mangels die Kommunalpolitik selbst in eine farblose Reformtätigkeit im seichtesten bürgerlichen Sinne auflöst. Mag sich der Opportunismus sozialistisch oder gar sozialrevolutionär nennen, Tatsache ist, dass für ihn in der Praxis jede grundsätzliche Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft in den weiten Hintergrund tritt. Da wird der Sozialismus bestenfalls zu einem Glaubensartikel, den man nur gewohnheitsmäßig hersagt, ohne ernstlich daran zu denken, ihn im Leben zu verwirklichen. Darum wird dem Sozialismus so gern von den Opportunisten das Gebiet der Propaganda eingeräumt: über den Sozialismus reden, so viel man will, nur für die Praxis sei das nichts, da müsse „Realpolitik„ getrieben werden. Das Prinzip antasten — bewahre! Nur sei das Prinzip eins und die Taktik etwas ganz anderes, dem Prinzip diametral Entgegengesetztes! Je mehr der Opportunist den Sozialismus in die weiteste Ferne, in das Reich der Phantasie verlegt, desto mehr lernt er, sich den kapitalistischen Verhältnissen unterzuordnen. Das ist etwas ganz anderes, als sich nach den Verhältnissen richten, um sie für vorgefasste Zwecke um so besser ausnützen zu können. Der Unterschied zeigt sich besonders in der Arbeiterschutzgesetzgebung. Bei der Aufstellung ihrer Arbeiterschutzforderungen richtet sich die Sozialdemokratie nach den allgemeinen Verhältnissen der kapitalistischen Produktion. Soweit es sich dabei um Einschränkungen der Ausbeutung handelt, steht und fällt ja die Fabrikgesetzgebung mit dem Kapitalismus. Die Sozialdemokratie geht noch weiter und zieht bei der Abfassung ihrer Gesetzesanträge die allgemeinen industriellen Verhältnisse des Landes in Betracht. Aber das alles genügt noch der opportunistischen „Realpolitik„ nicht. Da es sich um ein Gesetz handelt, so erkundigt sich der Opportunist vor Allem nach den parlamentarischen Konstellationen. Was werden die bürgerlichen Parteien sagen? Wie wird sich die Regierung zu der Frage stellen? Und er reduziert seine gesetzgeberische Forderung, obwohl er von der ökonomischen Möglichkeit ihrer Durchführung überzeugt ist, um nur die nötige Stimmenzahl im Parlament und die Einwilligung der Regierung zu erlangen. So entsteht jene Scheingesetzgebung, von der der Millerandsche Normalarbeitstag und seine Streikregulierungsvorlage die kennzeichnenden Beispiele sind. Statt auf die parlamentarischen Parteien einen Druck von außen auszuüben, statt die Zusammensetzung des Parlaments zu beeinflussen, kurz, statt das Parlament dem eigenen Willen anzupassen, fügt sich der Opportunist von vornherein der bürgerlichen Parlamentsmehrheit. Wenn nun diese opportunistische Taktik in der Arbeiterschutzgesetzgebung an Stelle einer Politik tritt, welche die politischen Gegensätze auf die Spitze treibt, so kann sie zunächst wohl einige kleine Erfolge erzielen. Die bürgerlichen Parteien sind dann froh, dass die Spannung nachlässt und zeigen dann ihrerseits etwas Entgegenkommen. Der Opportunismus verdankt also jene Erfolge nicht sich selbst, sondern er liquidiert bloß die übernommene Erbschaft, er wechselt das durch langjährige sozialrevolutionäre Agitation gesammelte Kapital in kleine Münze aus. Es ist sehr begreiflich, dass der Opportunismus, der nichts vor sich hat, keine politischen Perspektiven, kein Endziel, das aus dem Sozialismus ein verschwommenes utopistisches Ideal macht, da dessen sozialrevolutionärer Zusammenhang seinem Gesichtskreis entschwindet, nach sofortigen „positiven„ Erfolgen trachtet, denen zu Liebe er die Vergangenheit und die Zukunft opfert. Aber diese politische Verschwendung endet noch rascher und schmählicher, als jede andere Form der Verschwendung. Die Bourgeoisie, die sich erst darüber freut, dass sich die Sozialdemokratie auf Kompromisse einlässt, wird, je mehr Entgegenkommen sie von ihrem Widerpart findet, desto zurückhaltender. Da ist der Bourgeois ein zu guter Geschäftsmann, um nicht seinen Vorteil wahrzunehmen. Je weniger energisch die Sozialdemokratie auftritt, um so weniger Respekt hat man vor ihr. In gleichem Maße steigt die Liebenswürdigkeit, mit der man sie behandelt. „Sozialistengesetz? Um Gottes Willen, nein, da macht man nur die Führer zu Märtyrern und reizt die Massen! Aber wozu auch? Es sind ja ganz nette, diskutable Leute, die der Staatsräson wohl zugänglich sind. Sozialpolitik? Ja gewiss, freilich, berechtigte Forderung der Arbeiter! Aber nur nicht alles auf einmal. Der Staat, die Regierung haben auch ohnedies kolossal viel zu tun. Was die Dinge im fernen Ostasien allein für Sorgen machen! Die Unterstützung unserer stammesverwandten Buren in Südafrika und die Abmachungen mit dem Vetter über dem Kanal! Bald passiert in Zentralamerika was, bald auch in der Türkei! Wir müssen Weltpolitik treiben. Dazu der Militarismus, die Marine, Panzerbauten — Beschäftigung für Arbeiter, auch Sozialpolitik! Also nur geduldig warten, mit der Zeit, vielleicht später einmal — warum denn nicht, wir denken modern! Ihr sagt ja auch, die Entwicklung sorgt schon von selbst … Immer langsam voran. Wir machen gelegentlich auch wieder ein bisschen Sozialpolitik, indessen jetzt müssen wir die Lebensmittelzölle erhöhen!„ Kein Mensch wird sich nach der Zeit zurücksehnen, da die Partei unter dem „Schandgesetz„ stand. Aber vergessen wir nicht, dass die deutsche Sozialdemokratie das Sozialistengesetz nicht dadurch stürzte, das sie die Hand leckte, welche über sie die Peitsche schwang, sondern durch ehernen Trotz. Nicht weil sich die Sozialdemokratie mit dem kapitalistischen Staate ausgesöhnt hatte, sondern weil sie unter dem Ausnahmegesetz eine Furcht einjagende Macht geworden war, ließ man dieses Gesetz fallen. Und diese heilsame Furcht vor der Sozialdemokratie ist auch die hauptsächliche bewegende Kraft der Arbeiterschutzgesetzgebung. Dafür haben wir ja das klassische Zeugnis Bismarcks, das uns so große agitatorische Dienste leistet: „Wenn die Furcht vor der Sozialdemokratie nicht wäre, hätten wir auch das bisschen Sozialreformen nicht, das wir besitzen.„ Darum gehen denn auch sozialrevolutionäre Agitation und Sozialreform Hand in Hand. Wenn das Proletariat sich anschickt, die ganze kapitalistische Gesellschaftsordnung aus den Angeln zu heben, dann gibt ihm die Bourgeoisie Arbeiterschutzgesetze, um es zu beruhigen — wenn das Proletariat die ökonomischen Grundlagen in Ruhe lässt und in aller Bescheidenheit den zehnstündigen Arbeitstag verlangt, dann wird er ihm nicht gewährt, um es nicht zu begehrlich zu machen, sondern es erhält die Vertröstung auf den elfstündigen Arbeitstag! Ganz abgesehen schon vom Ausbeuterinteresse, selbst die feindselige Gleichgültigkeit der Kapitalistenklasse in allen Dingen, welche den Arbeitern von Nutzen sind, kann nur durch den Druck der Massen gebrochen werden. Der Opportunist mag dem Kapitalisten noch so gelehrt oder beredt nachweisen, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit die Tagesleistung der Arbeiter nicht verringern würde, so wird der Unternehmer doch bei der alten Arbeitszeit bleiben, wenn er nicht gezwungen wird, es anders zu machen. Aber gerade dadurch, dass der Opportunist seine Arbeiterschutzanträge der bürgerlichen Parlamentsmehrheit anpasst, vermindert er ihre Anziehungskraft auf die Arbeiterklasse. Er verlangt zum Beispiel nicht den gesetzlichen Achtstundetag, sondern den zehn- oder elfstündigen, weil er hofft, diesen im Parlament leichter durchzudrücken; dadurch schiebt er die fortgeschrittenen Schichten der Industriearbeiter zur Seite, die bereits den neunstündigen Arbeitstag haben, für die also der zehnstündige kein praktisches Interesse mehr hat; das verminderte Interesse der Arbeitermassen kommt selbstverständlich auch in der Öffentlichkeit zum Ausdruck, das Parlament sieht sich von außen weniger bedrängt — in Folge dessen gewährt es auch nicht einmal den elfstündigen Normalarbeitstag. Auch die Argumentation, welche der Opportunist anwendet, um den kurzen Normalarbeitstag, die wichtigste Forderung des Arbeiterschutzes, die auf der Tagesordnung steht, zu verteidigen, ist sehr bemerkenswert. Er will vor Allem dem Unternehmertum beweisen, dass die Kürzung der Arbeitszeit ihm keinen Schaden, vielmehr Vorteile bringen würde. Nun ist es gewiss eine wichtige Sache, die kapitalistischen Übertreibungen der störenden Wirkungen der Arbeiterschutzgesetze zurückzuweisen, aber auf den Standpunkt stehen wir denn doch nicht, dass wir nur solche Fabrikgesetze verlangen, unter denen das kapitalistische Interesse keine Einbuße erleidet. Sonst kämen wir niemals zum Verbot der Kinderarbeit, der Nachtarbeit u.a.m. diese Rücksichtnahme auf das kapitalistische Interesse vermindert die Agitationswirkung auf die Arbeiter, deren Vorteile sich nie konsequent wahrnehmen lassen, ohne das Ausbeuterinteresse zu verletzen. So führt auch in der Arbeiterschutzgesetzgebung der Versuch des Opportunismus, über die Klassengegensätze hinweg eine Verständigung zu erzielen, nur zur Lähmung der politischen Aktion des Proletariats. Das Kapital, das die herrschende Klasse ist und also nur die bestehenden Staatszustände zu verteidigen hat, zieht nur Vorteile daraus, wenn die Schärfe des Klassenkampfes gemildert wird, mit anderen Worten die Opposition gegen seine herrschende Stellung nachlässt. Darum seine Sehnsucht nach dem „sozialen Frieden„. Die Gewerkschaften! Währenddem die bürgerliche Presse, bis tief hinein in die Reihen der hohen Bourgeoisie, in den Gewerkschaften Arbeiterorganisationen erblickt, die sich auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung häuslich einrichten, bestimmte Interessen vertreten, ohne deshalb die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten — behauptet der Opportunismus, die Entwicklung der Gewerkschaften führe zur Strangulierung der Kapitalistenklasse, zur allmählichen Beseitigung des kapitalistischen Privateigentums. Originell ist dieser Gedanke nicht, es ist die alte Redensart, die der Kapitalist gern bei Streiks in Umlauf setzt, um die öffentliche Meinung gegen die Arbeiter aufzuhetzen: die Gewerkschaft wolle statt seiner „Herr im Hause„ sein! Beide Anschauungen sind Übertreibungen. Die Gewerkschaften sind durchaus nicht harmlos, sie sind proletarische Kampforganisationen, die ihre Spitze gegen die kapitalistische Ausbeutung kehren. Aber obwohl sie Kampforganisationen sind, sind sie doch, für sich genommen, durchaus nicht im Stande, die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft umzuwälzen, sondern sie führen nur durch ihre Tätigkeit ebenfalls den Beweis der Notwendigkeit jener politischen und ökonomischen Änderungen, welche durch die Diktatur des Proletariats eingeleitet werden. Der Zusammenhang zwischen der gewerkschaftliche Tätigkeit und der Arbeiterschutzgesetzgebung wird jetzt von Niemand bestritten, — wie aber die opportunistischen Gesichtspunkte die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung hemmen, ist soeben nachgewiesen worden. Aber der opportunistische Standpunkt erweist sich überhaupt der gewerkschaftlichen Praxis hinderlich. Die Gewerkschaften müssen in ihren Kämpfen auf die industrielle Lage, auf die Konkurrenz und sonstige kapitalistische Verhältnisse Rücksicht nehmen, weil diese Momente sehr von Einfluss sind auf den Ausgang des Kampfes; aber wenn die Situation günstig ist, wagen die Gewerkschaften den Angriff auf das Kapital, sollte selbst darunter die industrielle Entwicklung beziehungsweise die Konkurrenz leiden. Je größer und länger andauernd ein Streik ist, desto größer, mit Ausnahme der von den Unternehmern selbst provozierten Streiks, der Schaden, den er der Industrie zufügt, desto schwieriger ist er wieder gut zu machen. Aber allen derartigen Vorhaltungen der Unternehmer antworten die Gewerkschaften: „Wir wollen Zustände, unter denen wir ein menschenwürdiges Dasein führen können (das ist z.B. der Grundsatz des Living Wage)!„ Das heißt mit anderen Worten: wollten wir uns grundsätzlich nach dem kapitalistischen Interesse richten, so kämen wir nie aus dem Elend heraus; wir setzen also unser menschliches Interesse dem Interesse der Kapitalakkumulation, der Konkurrenz etc. entgegen; kann die kapitalistische Gesellschaft unsere Forderungen nicht befriedigen, dann weg mit dieser Gesellschaftsform.„ Aus der Ware Arbeitskraft erhebt sich eine menschliche Stimme, die gegen diese ökonomische Verpuppung der Menschen protestiert und dadurch gegen die gesamte ökonomische Struktur, deren unentbehrlicher Bestandteil der Mensch — Ware ist. Der Opportunismus aber trägt auch hier am meisten Rechnung den kapitalistischen Unzulänglichkeiten. Er ist ängstlich besorgt um die Interessen der Industrie und deshalb am ehesten bei der Hand, um im Interesse der industriellen Entwicklung einen Streik zu hindern, eine gewerkschaftliche Aktion zu verurteilen. Ich erinnere nur an die Haltung Bernsteins im großen englischen Maschinenbaustreik. Darum sucht der Opportunist auch hier, zu versöhnen, zu vereinigen, und legt ein so großes Gewicht auf die Tarifgemeinschaften, die Einigungsämter etc. Indem er also den gewerkschaftlichen Kampf mehr als nötig zurückhält und abstumpft, bildet er sich ein, dadurch dem Kapitalismus den Garaus zu machen. In Allem, was der Opportunismus beginnt, immer dasselbe Spiel: Da er mit der Möglichkeit der Diktatur des Proletariats bzw. der sozialen Revolution praktisch nicht mehr rechnet, unterstellt er eine unabsehbare Dauer der kapitalistischen Produktionsweise. In Folge dessen bleibt er ratlos, sucht keinen Ausweg, wenn er bei der Wahrnehmung der Arbeiterinteressen Hindernissen begegnet, die sich aus dem Ausbeutungscharakter der kapitalistischen Produktion, also ihrem ureigensten Wesen, ergeben, Darum ist seine „Realpolitik„ nichts anderes als ein fortwährendes Bremsen, Zurückhalten des proletarischen Klassenkampfs in allen seinen Erscheinungsformen. Wer aber sich auf den Boden der kapitalistischen Produktionsweise stellt, der muss auch den kapitalistischen Staat mit in den Kauf nehmen. Wie nun der Opportunismus seine Kapitulation vor der kapitalistischen Produktionsweise durch eine theoretische Verwischung der Grenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus markiert, so sucht er seine Unterwerfung unter den kapitalistischen Staat durch den Hinweis auf die fortschreitende Demokratisierung des Staats zu decken. Allein die demokratische Form beseitigt noch nicht den Klassencharakter des Staats. Diese Erfahrung muss der Opportunist auf Schritt und Tritt machen. In gleicher Zeit, wie er seine Arbeiterpolitik immer mehr einschränkt, sieht er sich genötigt, kapitalistische Staatspolitik zu treiben. Wie soll zum Beispiel der Opportunist die Kolonialpolitik grundsätzlich bekämpfen, da er weiß, aus seinen Marxstudien nur zu gut weiß, dass der kapitalistische Staat Kolonialpolitik treiben muss, wenn er nicht unter der Last der Überproduktion zusammenbrechen soll? So beschränkt er denn seine Kritik auf Äußerlichkeiten und lebt schließlich nur noch von der Gnade der Kolonialbanditen und persönlichen Schufte, die für die Füllung der Rubrik „Kolonialgräuel„ sorgen und ihm dadurch die oppositionelle Stellung erleichtern. Sonst aber — warum soll nicht Deutschland Kiautschou in Besitz nehmen? Warum sollen „wir„ nicht auch unseren Anteil haben? Wer einmal mit diesen Gedankengängen nicht fertig werden kann, der wird bald die ganze kolonialpolitische Litanei hersage. Und wenn er auch fortfährt gegen einzelne Kolonialgräuel Protest zu erheben, so wird er doch bald lernen, von dieser Blut- und Eisenpolitik in ihrer Gesamtheit ein Auge zuzudrücken. Denn was ist Kolonialpolitik? Der Versuch, mit Gewalt die kapitalistische Ausbeutung Völkern aufzunötigen, die in naturwüchsigen Verhältnissen leben und sich mit Leib und Seele dagegen wenden, ins Joch des Kapitals gebracht zu werden. Und das erreicht man eben weniger mit Parlamentsreden als mit Flinte und Peitsche. Aber wenn bei der Kolonialpolitik noch eine gewisse Wahl besteht, ob man mittun soll oder nicht, so beim Militarismus schon gar keine. Man entblöße einen modernen kapitalistischen Industriestaat von seiner Armee, und er hört auf zu existieren. Die Volksmiliz? Aber die Volksmiliz wird von der Kapitalistenklasse niemals bewilligt werden. Zwar der einzige Grund dafür ist, dass das Kapital die Armee gegen den inneren Feind braucht, und dieser wirft alle demokratischen Redensarten und die ganze opportunistische Harmonieduselei über den Haufen —, aber immerhin, Tatsache ist, dass die Verwandlung der stehenden Heere in Volksmiliz in den kapitalistischen Industriestaaten die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat zur Vorbedingung haben müsste; da nun der Opportunist mit der Diktatur des Proletariats in der Praxis nicht mehr rechnet, so bleibt ihm als Realpolitiker nichts mehr übrig, als sich mit dem stehenden Heere zu versöhnen. Und so sehen wir, wie er sich auf den Weg zur Bewilligung des Armeebudgets begibt. Freilich wagt er es hier am allerwenigsten, die Konsequenzen seines Standpunktes zu ziehen. Er wäre nicht abgeneigt, neue bessere Ausrüstungen zu bewilligen, aber er macht einen Unterschied zwischen Bewaffnungsvorlagen und reinen Militärvorlagen, die einer Erhöhung der Präsenzstärke verlangen. Der Unterschied ist nicht stichhaltig. Entscheidend in einem modernen Krieg ist nicht nur die Waffe, sondern auch die Zahl. Begibt man sich einmal auf den Standpunkt der militärischen Zweckmäßigkeit, so wird man sich bald überzeugen müssen, dass eine kleine, wenn auch gut ausgerüstete Armee ebenso ihrem Verderben entgegen geht, wie eine große Armee, die schlecht ausgerüstet ist. Also erst die Waffen für die Soldaten, dann die Soldaten für die Waffen — wenn man konsequent sein will. Wer aber dem Militarismus zustimmt, der muss auch den Steuern zustimmen. Der Opportunismus hört also nicht etwa mit der Arbeiterpolitik auf, er setzt sich in der Demokratie fort, er führt zu einer vollständigen Assimilierung an die kapitalistische Staatspolitik. Das ist auch sehr begreiflich. Der Bauer und der Handwerker machen dem Kapitalismus Opposition vom Standpunkt bestimmter Produktionsformen, die von ihm ruiniert werden. Was aus dem Kapitalismus selbst wird, geht sie nichts an. Anders das Proletariat. Es kämpft nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft. Es kann den Kapitalismus nur vom Standpunkt der sozialen Revolution bekämpfen. Gibt es diesen Standpunkt auf, so bleibt nichts übrig, als sich dem Gefüge der kapitalistischen Gesellschaftsordnung anzubequemen — es hat nicht, wie der Handwerker, eine untergehende Gesellschaftsordnung zum Leben zurückzurufen. Das Proletariat kann nur entweder der Totengräber oder der Untertan des Kapitals sein. Aber nach einem Jahrhundert sozialrevolutionären Kampfes ist es nicht mehr denkbar, dass das Proletariat sich willig in die kapitalistische Hörigkeit fügen sollte. Die Schlussfolgerung für den Opportunismus ergibt sich daraus von selbst. Der Opportunismus bedeutet ein Nachlassen der politischen Energie auf allen Gebieten, eine allgemeine Deroute, eine Konfusion und Ratlosigkeit. Er greift selbst darüber hinaus, wozu er durch das Aufgeben des sozialrevolutionären Standpunktes genötigt wird. Das zeigte sich besonders in der Zollfrage. Hier konnten wir in den letzten Jahren beobachten, wie nicht nur der kapitalistische Einfluss den sozialrevolutionären Gesichtspunkt verdunkelte, sondern selbst das der kapitalistischen Entwicklung Deutschlands zuwiderlaufende Schutzzollgeschrei in der sozialdemokratischen Literatur Anklang fand. Der Opportunismus innerhalb der Sozialdemokratie ist nichts anderes als ein Nationalliberalismus, der sich den besonderen Verhältnissen einer parlamentarischen Arbeiterpartei anpasst. * Ich darf wohl daran erinnern, dass ich schon auf dem Stuttgarter Parteitag [1898], wo bei der Begründung der sozialrevolutionären Taktik in unserer Partei die Gewaltpolitik der Regierung meines Erachtens eine größere Rolle spielte, als nötig war, Folgendes ausführte: „Dieses brutale Verhalten der Regierung tritt aber nicht in jedem kapitalistischen Staate zu Tage. Wir sehen in England eine andere Taktik, und in dem Moment, wo man auch in Deutschland zu der Einsicht kommt, dass man die sozialdemokratische Bewegung nicht mit Zuchthausmitteln bekämpfen kann, dass man es hier mit einem Produkt der ökonomischen Entwicklung zu tun hat, in dem Moment wird die Heinesche Idee gefährlich. Die Entwicklung wird dazu führen, dass man ein parlamentarisches Auskommen mit der Sozialdemokratie sucht, und dann werden die Ideen, die Heine jetzt schüchtern ausspricht, praktisch werden.” Seitdem ist die Regierung auf den Weg zu einem solchen parlamentarischen Auskommen getreten, und obwohl sie sich keineswegs beeilt, in dieser Richtung vorwärts zu kommen, ist doch die Heinesche Kompromisspolitik uns praktisch näher gerückt. 1 Friedrich Engels, England 1845 und 1885, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 21, S. 191-197, hier S. 196 2 Neuer Kurs: Regierungspolitik nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes und der Entlassung Bismarcks. Umsturzvorlagen: Im Reichstag 1895 eingebrachtes Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterbewegung, das keine Mehrheit fand, im Weiteren Sinne auch verwandte Gesetzentwürfe wie die „Zuchthausvorlage„ von 1899 gegen effektive Streikposten etc. 3 Diese Bezeichnung Auers, die offenbar als Kontrast zum Italiener Machiavelli gemeint war, gab den Opportunisten Anlass zu antisemitischen Ausfällen gegen Parvus. ** Übrigens verschiebt hier Bernstein die Tatsachen. Die Diskussion über seine Ansichten war bereits vor dem Erscheinen seiner „Voraussetzungen” in vollem Zuge und durch nichts mehr aufzuhalten. Von verschiedenen Seiten in der Partei wurde sehr energisch nach einer klaren Scheidung verlangt. Kautsky selbst, der an der Diskussion nicht teilnahm, wurde von mir öffentlich zur Stellungnahme aufgefordert. Es blieb ihm nichts übrig, als entweder gegen Bernstein aufzutreten oder sich mit Bernstein solidarisch zu erklären. Durch den Vorschlag einer zusammenfassenden Veröffentlichung wurde unter diesen Umständen Bernstein in Wirklichkeit die letzte Möglichkeit geboten, das Geschehene gut zu machen. *** So auch im ursprünglichen Text. **** Mit Ausnahme einerseits der bei den Staatseisenbahnen und den sonstigen staatlichen Verkehrsanstalten, sowie in der Forstwirtschaft Beschäftigten, andererseits der Beamten, liberalen Berufsarten und Rentner. |