Parvus: Die „nationalen Aufgaben“ der deutschen Sozialdemokratie [„Sächsische Arbeiterzeitung“, 13. 4. 1897, Rubrik „Tages-Nachrichten“, ungezeichnet] Die flüchtigen Skizzen W. Liebknechts in der „Neuen Zeit“ über seine 3-tägige Hollandreise veranlassen die „Leipziger Volkszeitung“ zu einer mit Zahlen überladenen, fünf Spalten langen Auseinandersetzung, die mit dem vollen Namen der Chefredaktion unterschrieben ist. W. Liebknecht glaubte, in Holland einen höheren Wohlstandsgrad der Massen beobachtet zu haben als in Deutschland, und dagegen wendet sich mit dem erwähnten großen statistischen Apparat der Artikel der „Leipz[iger] Volksztg.“ Wir hatten bei der Lektüre der Liebknechtschen Schilderungen keineswegs den Eindruck, als ob es sich für ihn um ein streng wissenschaftliches Urteil in dieser Sache handelte. Es waren gelegentliche Eindrücke einer raschen Reise, die so wie sie aufgenommen, wiedergegeben wurden, ohne jede Prätention auf Genauigkeit und Vollständigkeit. Aber lassen sich denn derlei Dinge überhaupt wissenschaftlich genau abmessen und abwägen? Wir sind z.B. der Meinung, dass auch Bruno Schoenlank,. Trotz der Tatsachen, die er zusammengescharrt hat, streng genommen keineswegs widerlegt habe: denn die angeführten Tatsachen bewiesen nur, dass es auch in Holland ein abscheuliches Elend gibt, was Liebknecht am allerwenigsten bestreiten wollte — wie aber der Durchschnittswohlstand, oder vielmehr das Wohlstandsniveau ist, worauf es gerade ankam, darüber erlauben auch die Schoenlankschen Zahlen keinen Vergleich zwischen Deutschland und Holland. Allerdings widerspricht auch das Urteil, welches wir uns über Holland gebildet haben, durchaus den Liebknechtschen Eindrücken, und wir neigen zu der Annahme, dass Liebknecht bei längerer Beobachtung besonders in Bezug auf die städtische Bevölkerung Hollands zu anderen Ergebnissen gekommen wäre. Hätte sich nun die „Leipzi[iger] Volksztg.“ nur darauf beschränkt, diesen Widerspruch hervorzuheben, so wäre die Sache kaum erwähnenswert — aber Bruno Schoenlank reiht zum Schluss an seine Zahlen allgemeine Betrachtungen an, die uns recht sonderbar erscheinen und jedenfalls einer Richtigstellung bedürfen. Schoenlank verdrießt es, dass Liebknecht „das Ausland und seine Vorzüge und Tugenden lobt, Deutschland aber mit Herbheit gedenkt“. Er meint dann: „Nun wird ihm zweifellos jeder zustimmen, wenn er sagt: ‚Bei uns zu Lande wird viel renommiert‘. Aber diese Deutschen, bei denen er ironisch ‚besonders viel Charakterstärke‘ vermisst, ‚vermutlich weil sie keinen Wert darauf legen‘, sind die Träger und dieses Deutschland ist die Heimat der mächtigsten Arbeiterbewegung der Kulturwelt, einer Bewegung, die ihren internationalen Pflichten nichts vergibt, wenn sie, als Glied einer großen Staats-, Volks- und Wirtschaftseinheit, hervorgewachsen aus dem Nationalstaate, auch ihre drängenden nationalen Kulturaufgaben auf dem Gebiete der Politik und der sozialen Reform mit Tatkraft durchführt. Die deutsche Nation, deren Grundstock die werktätige Volksmasse ist, aber immer und immer wieder zu Gunsten anderer Nationen in den Schatten zu stellen, ist eine alte und nicht erfreuliche Gewohnheit aus der Verbannung.“ Zunächst beruht offenbar der ganze Ausfall auf einem Missverständnis: Liebknecht sprach nicht von den „Kulturaufgaben“, sondern von dem Kulturzustand. Dieser Kulturzustand ist am allerwenigsten das Werk des deutschen Proletariats, er ist bürgerlich, weil die Bourgeoisie in Deutschland noch immer die wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Herrschaft führt. Der deutsche Sozialismus und das deutsche Proletariat haben noch stets auf all diesen Gebieten den erbitterten Kampf gegen die „deutsche Kultur“ führen müssen. Wenn ,man nun über die deutsche Kultur spottet, so meint man die deutsche Bourgeoisie, und kein Mensch denkt daran, dadurch das deutsche Proletariat herunterzuziehen. Wie komisch nimmt sich doch Schoenlank aus, wenn er Liebknecht, für den die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zugleich seine persönliche Geschichte, mit großer Wichtigkeit auf das Vorhandensein einer deutschen Sozialdemokratie verweist! Aber nun die Sache selbst. Wir erklären offen: wir vermögen nicht einzusehen, welche besonderen „nationalen Kulturaufgaben auf dem Gebiete der Politik und der sozialen Reform“ die deutsche Sozialdemokratie zu erfüllen hätte? Die soziale Revolution ist international. Die Sozialreform wird zwar vom Hofgesinde des nicht existierenden sozialen Königtums als spezifisch deutsches Gewächs ausposaunt, aber das gehört eben zu jener Renommisterei, auf welche Liebknecht mit Recht das deutsche Bürgertum festnagelt. Die Arbeiterschutzgesetzgebung, der eigentliche Gehalt dessen, welches sich von der journalistischen Phrase von der Sozialreform birgt, ist in Deutschland nicht erfunden worden. Die Aufgaben, welche die deutsche Sozialdemokratie hier zu erfüllen hat, teilt sie mit dem englischen, französischen und sonstigen Proletariat. Zum Überfluss erstreben wir ja sogar eine internationale Regelung der Arbeiterschutzgesetzgebung. Auf dem Gebiete der Politik erstreben wir die weitestgehende Demokratisierung, hier bestehen die „nationalen“ Aufgaben darin, dass vieles, was bereits in der Schweiz und England vorhanden, in Deutschland nachgeholt werden muss — und als Endresultat die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat — wie dies auch jede fremdländische sozialistische Arbeiterpartei tut. Was nun die Kunst, Literatur und Wissenschaft anbetrifft, jenes Gebiet, auf welchem der nationale Charakter am freiesten zum Ausdruck kommen kann, so können wir uns in dieser Beziehung gar keine Aufgaben stellen, weil wir keinen Einfluss haben. Das ist ja der Grund, weshalb wir die soziale Revolution erstreben. Wo sind nun die „nationalen Aufgaben“, welche die deutsche Sozialdemokratie neben den „internationalen Pflichten“ durchzuführen hätte? Wir sehen keine nationalen Aufgaben, lauter — internationale Pflichten. Darum heißt es ja stets: die internationale Sozialdemokratie. Und wenn etwas die deutsche Arbeiterbewegung charakterisiert, so ist es u.a. gerade, dass sie sich am meisten und am ehesten ihres internationalen Charakters bewusst wurde. Vollends die Phrase von der „nicht erfreulichen (unpatriotisch!) Gewohnheit der Verbannung“, die Liebknecht veranlasst [habe], sein deutsches Vaterland mit scheelen Augen zu betrachten, eine Phrase, der die Stickluft der professoralen Kinderstube nur zu deutlich anhaftet, hätte Schoenlank sehr gut seinem Freund Professor Sombart, dem großen Erfinder des „Welteichhörnchens“ und des geschmackvollen Vergleichs von Marxens einer scharfen Erfassung der Klassengegensätze entspringendem schneidenden Sarkasmus mit dem Hund, der jemand in die Wade beißt, zum ausschließlichen Besitz überlassen können.1 Der Hohn und Spott, mit dem „Deutschland“, von seinen eigenen Politikern und Publizisten überschüttet wird, ist eine der interessantesten und schönsten Erscheinungen der politischen Geschichte Deutschlands. Sie entsprang zunächst dem Widerspruch zwischen der Ideologie und dem praktischen deutschen Bürgertum, der die halb wehmütige, halb verdrießliche und durchweg träumerische deutsche Satire der 30er und 40er Jahre schuf (Börne, Heine). Als dann der deutsche Sozialismus aufkam, trat er die ideologische Erbschaft an, er hat sie aber geläutert und die Gegensätze auf ihre schärfsten Spitzen getrieben. Die Ideologen kämpften gegen das Deutschland der Wirklichkeit im Namen einer idealen deutschen „Nation“ — die Sozialisten haben erkannt, dass die Nation selbst in sich einen grundlegenden Gegensatz enthält, und kehren sich nun gegen den nationalen Dünkel überhaupt, weil er den Klassengegensatz verschleiert. Umgekehrt hat aus den gleichen Gründen die praktische Bourgeoisie ein ausgesprochenes Interesse daran, in den Arbeitern das „Nationalgefühl“ zu erwecken. So hat sie die Idee des „Nationalreichtums“ in die Welt gesetzt, um über Armut und Ausbeutung, und die der „Nationalehre“, um über Steuer- und Militärlasten hinweg zu täuschen. Und so hören wir denn auch die deutsche Bourgeoisie seit Jahr und Tag marktschreierisch, wie herrlich weil man es in der Sozialreform gebracht habe, und mit den Potemkinschen Dörfern eines deutschen allgemeinen Wohlstandes prahlen. In die gleiche Kerbe zu schlagen, hat die Sozialdemokratie weder eine materielle noch eine moralische Veranlassung. 1 Anspielung auf Werner Sombarts Schrift: „Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert“, besprochen von Julian Marchlewski in der „Sächsischen Arbeiterzeitung“, 4. und 5. Februar 1897 |