Parvus 18980123 Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion und die China­politik

Parvus: Partei-Angelegenheiten

[Sächsische Arbeiter-Zeitung Nr. 18 (23. Januar 1898]

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion und die China­politik. Wir erhalten folgende Zuschrift:

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erörterte in der Sitzung am 19. und 20. Januar die chinesische Angelegenheit. Einstimmig wurde fol­gender Beschluss gefasst:

Die Fraktion betrachtet es als natürlich, dass in der Partei und damit auch in der Parteipresse, über wichtige Fragen der Taktik zeitweilig Meinungsverschiedenheiten entstehen und dass diese zum Austrag gebracht werden müssen, selbstverständlich unter Wahrung des Rechts der freien Meinungsäußerung.

Aber in der Polemik, die zwischen einer Anzahl Parteiorgane über die Taktik der Partei gegenüber der chinesischen Angelegenheit ent­stand, ist mehrfach die zulässige Grenze erheblich überschritten worden, was die Fraktion lebhaft bedauert. Dieselbe ersucht die Parteigenossen, darauf zu sehen, dass ihre Organe sich künftig bei Polemiken strenge in den zulässigen Grenzen halten.

Zu dem Eroberungszug nach China steht die Fraktion in der ent­schiedensten Gegnerschaft, die Redner der Fraktion werden bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit dieser Auffassung Ausdruck geben.

Wir verzeichnen mit Genugtuung die entschiedene Stellung­nahme der Fraktion in dieser wichtigen politischen Angelegen­heit — um so unerfreulicher ist es uns, dass wir zugleich gegen die Überschreitung der Machtbefugnisse der Fraktion, die in ih­rem gegen die Parteipresse geschleudertem Bannfluch zum Aus­druck kommt, auf das Schärfste Protest erheben müssen. Ob das Urteil, welches die Fraktion über die Parteipolemik fällt, an sich richtig oder falsch ist, kommt gar nicht in Betracht: die Aufgabe der Fraktion war es gar nicht, sich darüber zu äußern, was sie über die Parteipresse denkt. Die Fraktion steht nicht über der Parteipresse, sie besitzt kein Zensurrecht über die Parteizei­tungen. Das widerspricht der gesamten Parteiorgani­sation. Wir haben die Parteileitung und den Parteitag — hier­her gehören diese Angelegenheiten, die Reichstagsfraktion aber hat damit nichts zu tun und in diesem Fall, wo sie selbst von keiner Seite angegriffen wurde, erst recht nichts.

Wir bedauern es auch aus taktischen Gründen auf das Lebhaf­teste, dass die Fraktion es für angebracht hielt, die Massen der Parteigenossen gegen Parteizeitungen öffentlich in aller Form aufzureizen, noch mehr aus Gründen der allgemeinen Parteient­wicklung. Die Sozialdemokratie hat stets das größte Gewicht ge­legt darauf, dass sie nicht eine bloße Parlamentspartei ist, wie die bürgerlichen Parteien, für die das Parlament ein und alles ist. Die Sozialdemokratie war vielmehr stets bestrebt, ihre Reichs­tagstä­tigkeit ihrer allgemeinen sozialrevolutionären Agitati­on un­terzuordnen. Für sie ist die Reichstagstätigkeit nur ein Agitati­onsmittel, und ihre Zeitungen sind deshalb nicht Organe der parlamentarischen Fraktion, sondern Organe der Partei, ge­bunden nur durch das Programm, die Beschlüsse der Partei­tage, die Anordnungen der Parteileitung und der Lokal-Organi­sationen, in deren Bereich sie liegen. Gewiss ist die Reichstags­fraktion eine Macht für sich, weil sie direkt von den Volksmassen gewählt wird, aber gerade deshalb kann dem Bestreben der Reichstagsfraktion, wenn es auch unbewusst ist, das Schwer­gewicht der Partei auf ihre Seite zu ziehen, nicht energisch ge­nug entgegengewirkt werden. Heute behandelt die Reichstags­fraktion die Parteizeitungen, als ob sie ihre Untergebenen wären, morgen sagt vielleicht irgend ein Abgeordneter, für ihn sei die Meinung der Wähler seines Wahlkreises ausschlaggebend, dann erst komme die Partei mit ihrem Programm, und übermor­gen maßt sich die Reichstagsfraktion die Befugnis an, den Be­schluss ei­nes Parteitages nach ihrer Weise umzuändern oder sich über ihn souverän hinwegzusetzen. Wie gesagt, eine Macht für sich ist die Fraktion und sie fühlt sich als solche — darum heißt es hier: vorbeugen, so lange es noch nicht zu spät ist. Das wichtigste Vorbeugungsmittel aber ist: Wahrung der Unabhän­gigkeit der Parteipresse vor der Reichstagsfraktion. In dem Moment, wo es für die Redakteure der Parteizeitungen gefährlich werden sollte, es mit den Herren Reichstagsabgeordneten zu verderben, unterschiedet sich die Sozialdemokratie durch nichts mehr von jeder anderen parlamentarischen Partei.

Wir befürchten schließlich, dass die Reichstagsfraktion durch die­sen Zensurerlass den Gegnern Material geliefert hat, um die So­zialdemokratie eines Widerspruches zu zeihen. Fordern wie bis jetzt doch in unserem Programm die Abschaffung “aller Ge­setze”, welche die freie Meinungsäußerung beschränken, also auch der Beleidigungsparagraphen, inklusive der Majestätsbe­leidigung!

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