Parvus 18980128 E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus

Parvus: E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus (1898)

[Artikelserie in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung, I: Nr. 22 (28. Januar 1898), II: Nr. 25 (1. Februar 1898), III: Nr. 30 (6. Februar 1898), IV: Nr. 31 (8. Februar 1898), V: Nr. 35 (12. Februar 1898), VI: Nr. 40 (18. Februar 1898), VII: Nr. 43 (22. Februar 1898), VIII: Nr. 45 (24. Februar 1898), IX: Nr. 47 (26. Februar 1898), X: Nr. 54 (6. März 1898)]

I. Konzentration der Industrie

Unser Parteiprogramm beruht darauf, dass wir uns die politische Macht erobern, um mit ihrer Hilfe die Kapitalisten zu expropriieren, das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu beseitigen und eine gesellschaftliche Organisation der Produktion einzurichten. Das war bis jetzt der grundsätzliche Ausgangspunkt der gesamten Parteitätigkeit. Ed. Bernstein tritt mit aller Entschiedenheit dagegen auf. Er meint, wenn die Sozialdemokratie bei dem jetzigen Zustand der Gesellschaft wirklich in den Besitz der politischen Macht gelangen würde — was wir so sehnsüchtig anstreben — so werde sie dadurch ”vor einer unlösbaren Aufgabe” gestellt worden sein. ”Sie könnte den Kapitalismus nicht wegdekretieren, ja ihn nicht einmal entbehren, und sie könnte auf der anderen Seite ihm nicht diejenige Sicherheit gewähren, deren er bedarf, um seine Funktionen zu erfüllen. An diesem Widerspruch würde sie sich unrettbar aufreiben und das Ende könnte nur eine kolossale Niederlage sein.” Soweit wären wir also nach Bernstein: Das Ziel, dem die Partei seit ihrer Existenz zustrebte, erweist sich jetzt, nachdem die Partei so viele Opfer gebracht, so viele Schwierigkeiten überwunden hatte und so mächtig geworden ist, dass bald der Endpunkt ihres Strebens erreicht zu sein schien, als ein Trugbild, eine Luftspiegelung, und es bleibt nichts übrig, als zurückzuweichen, um wenigstens die angesammelte Armee zu schonen, oder denn wir erleiden eine ”katastrophale Niederlage”!

E. Bernstein wehrt sich in seinem Artikel gegen den Vorwurf, weshalb er an den alten Parteigrundsätzen ”mäkele”. Gewiss ist es die größte Narrheit, die Kritik beschränken zu wollen, darin hat Bernstein recht, — aber wenn er glaubt, seine Schlussfolgerungen seien nur die wissenschaftliche Weiterführung des Sozialismus, so ist das durchaus nur ein Wortspiel: Hätte er recht, so wäre dies die Vernichtung des Sozialismus. Doch wie dem auch sei, Bernstein ist zu diesen Überzeugungen gelangt, er ist kein Windbeutel, kein Narr, er wird sich genaue Rechenschaft gegeben haben von dem, was er sagt — prüfen wir seine Gründe!

Die Überzeugung von der sozialen Revolution hat zwei Ausgangspunkte: Die fortschreitende Proletarisierung der Massen nebst gleichzeitiger Konzentration des Kapitals und die Erweiterung des Umfanges und der Intensität der Handelskrisen mit der Produktionsentwicklung. An beiden Punkten setzt Bernstein seine Kritik ein.

Die stattfindende Konzentration des Kapitals, meint er, wird in unserer Partei übertrieben. Er geht nun die Ergebnisse der preußischen Betriebsstatistik durch, um zu zeigen, wie die Dinge stehen. Die Zahl der Alleinbetriebe und der Kleinbetriebe (1-5 Gehilfen) habe sich seit 1882 allerdings absolut und relativ vermindert, aber immerhin betragen sie auch 1895 noch über 90 Prozent der Gesamtzahl. Indem er dies sagt, muss sich freilich Bernstein gleich selbst korrigieren, dass in den Produktionsentwicklung das in den Betrieben verschiedener Größe beschäftigte Personal mehr maßgebend als die Zahl der Betriebe. 100 Fabriken mit je 200 Arbeitern bedeuten mehr als 1000 Werkstätten mit je 5 Arbeitern. Und es zeigt sich denn auch, dass das Personal der Allein- und Kleinbetriebe 1895 bloß 38,4 Prozent der Gesamtzahl ausmachte, und zwar gegenüber 52,7 Prozent des Jahres 1882. Das Resultat ist also für den Bernsteinschen Versuch, die Konzentration der Produktion weniger schroff erscheinen zu lassen, durchaus ungünstig. Dabei muss Bernstein außerdem anerkennen, dass die Produktionsmasse, welche die Großindustrie liefert, verhältnismäßig noch größer ist. In seiner Not hilft er sich damit, dass er eine zweite Teilung der Betriebe eintreten lässt: ”Mäßige Großbetriebe (51-200 Personen)” und ”sehr große Großbetriebe” (er könnte mit dem gleichen Recht sagen: kleine Großbetriebe und unmäßige Großbetriebe!). Und nun glaubt er endlich den Schluss ziehen zu können: ”Verhältnis und Wachstum der sehr großen Betriebe scheinen hier weniger bedeutend”. In Wirklichkeit ist das Verhältnis dieses: das Personal der ”Mäßigen” ist gestiegen von 403.049 auf 757.357 oder von 11,9 Prozent auf 16,62 Prozent, das der ”Unmäßigen” ist gestiegen von 559.333 auf 977.527 oder von 16,5 auf 21,44 Prozent: in beiden Fällen haben wir eine ungefähre Verdoppelung während 13 Jahren! Man sieht, alle statistischen Destillationen, welche Bernstein vornimmt, helfen ihm über die Tatsache der gewaltigen Konzentration der Industrie, welche der Vergleich der zwei letzten deutschen Berufszählungen nachweist, nicht hinaus. Nun will er wenigstens die Kleinbetriebe vom Untergang retten, und mittels der Methode der Spaltung gelingt es ihm auch glücklich, eine Vermehrung des Personals der Betriebe mit 3-5 Gehilfen herauszurechnen, weshalb freilich die noch kleineren Betriebe um so schlimmer zu stehen kommen, weil sie den gesamten Verlust tragen.

Das Ganze ist durchaus unwissenschaftlich gedacht. Als ob die Konzentration der Produktion unbedingt durch alle Schichten in einer geraden Linie vor sich gehen muss: die Alleinbetriebe vermindern sich, die Kleinbetriebe vermindern sich, die Mittelbetriebe vermindern sich die großen Betriebe wachsen, und zwar, wenn man nach einer gegebenen Laune die Großbetriebe weiter teilt, so soll sich auch hier dieselbe Planmäßigkeit ergeben! In Wirklichkeit gibt es hier zahllose Abstufungen, Schiebungen, Fluktuationen. Das hat noch niemand angezweifelt. Worauf es ankommt, ist die Gesamttendenz, und die trat deutlich zutage in der Tatsache, dass 1895 die Großbetriebe 38,06 Prozent des Gesamtpersonals der Industrie umfassten, 1882 dagegen bloß 28,4 Prozent. Dass bei alledem die Betriebskonzentration, von der allein hier die Rede ist, ihre Grenzen hat in der Produktionstechnik, dass diese Grenzen für verschiedene Produktionszweige verschieden hoch gezogen sind, und dass andererseits die gleiche Arbeiterzahl in den Betrieben verschiedener Produktionsbranchen einen verschiedenen Grad der Konzentration der Produktion anzeigt, liegt auf der Hand. Eine chemische Fabrik ist bei 50 Arbeitern bereits ein gewaltiges Unternehmen, anders eine Spinnerei oder gar Maschinenfabrik. Die gewaltige deutsche Farbenindustrie zählt in nur 909 Betrieben 19.148 Erwerbstätige, also rund 90 Mann pro Betrieb, sie würde demnach nach Bernstein in die Mittelbetriebe gehören, währenddem es eine wirkliche kapitalistische Großindustrie ist. Dass die Bäckerei nicht in dem Maße eine Konzentration des Betriebes zulässt wie die Spinnerei oder die Eisenindustrie, liegt auf der Hand. So zeigt jedes Land eine buntgestaltige Gliederung der Produktion, innerhalb der aber bestimmte Industrien eine führende Rolle spielen, durch ihr Verhältnis zum Weltmarkt dem produktiven Charakter des Landes ihr Gepräge auflegen. Sprichwörtlich in dieser Beziehung ist die Bedeutung der Baumwollindustrie für England. Für Deutschland fällt der Eisenindustrie die ausschlaggebende Bedeutung zu. An diesen Industrien ist nun am besten die Tendenz der kapitalistischen Produktionsentwicklung zu beobachten. Um beim Beispiel der deutschen Eisenindustrie zu bleiben, so stieg von 1882 bis 1891 die durchschnittliche Jahresleistung des deutschen Hochofens von 13.545 Tonnen auf 23.027 Tonnen, die Zahl der Hochöfen hat sich aber zu gleicher Zeit von 261 auf 216 vermindert.

Mag man die Sache wenden, wie man will, die Tatsache bleibt, dass in Deutschland eine gewaltige Konzentration der Industrie stattgefunden hat. Nun noch ein Wort über die Kleinbetriebe. Bernstein legt ein besonderes Gewicht auf ihre noch immer große Zahl. Ein Blick in ihre spezifizierte Statistik zeigt, um was es sich handelt. Es sind die Bäcker, Metzger, Schuhmacher. Näherinnen, Schneider, Uhrmacher, schließlich die Wäscherinnen und Barbiere. Das ist die ganze große anti-sozialrevolutionäre Armee, vor der Bernstein erschrickt. Dass auch hier ein großer Umwandlungsprozess vor sich geht, ist jedermann bekannt. Die Schneider und die Schuhmacher sind bereits durch die Konkurrenz der Fabriken und Verlagshäuser so bedrückt, dass es für sie keinen Ausweg aus dem Elend gibt, als die soziale Revolution, die Bäcker und zum Teil Metzger sind auf den Konsum der Arbeiter angewiesen und haben insoweit mit diesen gemeinsame Interessen, und schließlich wagen wir die Behauptung, dass die soziale Revolution durch den etwaigen Widerstand der Wäscherinnen und Barbiere, der aber nicht anzunehmen ist, nicht aufzuhalten wäre.

II. Weitere berufsstatistische Streifzüge

Musste E. Bernstein in der Industrie einen sehr harten Kampf mit den unbequemen Tatsachen ausfechten, so hat er in der Landwirtschaft wie im ”Handel und Verkehr” ein verhältnismäßig leichtes Spiel. Er läuft hier offene Türen ein. Man weiß, dass der konstant sinkende Getreidepreis seit den 70er Jahren die Entwicklung des landwirtschaftlichen Großbetriebes hemmte. Doch ist das eine Entwicklung, welche bekanntlich von dem kapitalistischen Grundbesitz selbst nicht etwa freudig begrüßt als Schutzmauer gegen den Sozialismus, vielmehr bitter beklagt wird, denn er fühlt sich dadurch nicht gefestigt, sondern, im Gegenteil, in seinen Grundlagen erschüttert und zerrüttet. Der kapitalistische Grundbesitzer ist durch diese Entwicklung an den Rand des Bankrotts gebracht worden, schon ist es so weit gekommen, dass er selbst Projekte ausheckt, sich vom Staat ”expropriieren” zu lassen, aber selbstverständlich möchte er es in einer Weise tun, die ihm einen opulenten Renten-Bezug sichert. Der Bauer ist allerdings an der Scholle geblieben, aber er ist verelendet, verschuldet, hält in der überwiegenden Zahl nur noch durch Zuhilfenahme von Lohnarbeit aller Art oder einer sonstigen Gewerbetätigkeit sich kaum über Wasser und wäre längst gänzlich verhungert, hätte er nicht diese Zeit über Gelegenheit, durch Auswanderung dem Hungertode zu entfliehen. Dies der ”kräftige Bauernstand”, in dessen ”antikollektivistischem Schädel” nunmehr auch Bernstein eine große Logik entdeckt zu haben scheint. Doch immerhin, dass in der reaktionären Landbevölkerung für die soziale Revolution die größte zu überwindende Schwierigkeit liegt, ist eine Tatsache, die nie bestritten wurde. Sie war auch Bernstein genügsam bekannt und hielt ihn von einer sozialrevolutionären Auffassung der Entwicklung nicht zurück — was neues liegt denn vor, dass er nun seine Gesinnung ändert? Er hat es nicht vorgebracht. Wir werden noch in einem anderen Zusammenhange auf die Frage der Gewinnung der Landbevölkerung eingehen. Vorläufig nur diese allgemeine Bemerkung: Schwierigkeiten sind noch kein Beweis der Unmöglichkeit, — wären keine Schwierigkeiten der sozialen Revolution vorhanden und sie wäre doch nicht eingetreten, dann erst wäre der Beweis erbracht, dass sie nichts ist als ein Hirngespinst!

Im ”Handel und Verkehr” ist eine regelrechte Entwicklung im Sinne der Konzentration der Betriebe unverkennbar. Für das Reich im ganzen ergibt sich, dass das Personal in den Alleinbetrieben gewachsen ist um 18,6 Prozent gegenüber 1882, das in den Betrieben mit 2-4 beschäftigten Personen um 76,8 Prozent, in den Betrieben mit 6-10 Beschäftigten um 82,2, in denen mit 11-50 um 105,7, in den Betrieben mit 51-200 Beschäftigten um 103,4, schließlich in solchen, die mehr als je 200 Personen beschäftigen, um 204,5 Prozent, doch sind selbstverständlich die Prozentsätze desto größer, auf je geringere Zahlen sie sich beziehen. Die Kleinbetriebe bildeten 1882 noch über ein Drittel, 35 Prozent der Gesamtzahl, 1895 dagegen nur noch 25 Prozent. Man wird nun vor allem zugeben, dass der Großbetrieb im Handel anders gemessen werden muss als in der Industrie. Ein Kaufladen mit über 6 Gehilfen ist nach allgemeiner Annahme schon ein sehr bedeutendes Geschäft. Die Handelsunternehmungen, die Dutzende von Gehilfen gebrauchen, je 50 und mehr Personen beschäftigen, sind schon Kolossalbetriebe, etwa wie Fabriken, die über 1.000 Arbeiter beschäftigen. Nun gab es 1895 im Handel allein 32.000 Betriebe mit mehr als 5 Beschäftigten, die zusammen ein Personal von 289.448 umfassten: 544.546 Personen waren in den Handelsgeschäften mit 2-5 Beschäftigten und 398.994 in den Alleinbetrieben. Es ist aber noch, um die Entwicklung des Handels zu begreifen, sein Verhältnis zu den Fabriken und Verlagsgeschäften in Betracht zu ziehen. Bernstein macht der Parteipresse den Vorwurf, dass sie die Bedeutung des Kreditwesens verkennt, selbst aber lässt er den Kredit dort, wo er seine wichtigste Rolle spielt, im Handel, gänzlich außer acht. Der Kredit in seinen verschiedensten Formen hält die Ladengeschäfte so fest umgarnt, dass sie nie aus den Netzen herauskommen, den Gläubigern ewig tributär bleiben und oft unter einem derartigen Druck seufzen, der selbst den Vergleich mit der industriellen Ausbeutung aushalten kann. Hier lässt sich Bernstein durch die Rechtsform über den wirtschaftlichen Inhalt täuschen. Eine Unzahl dieser selbständigen Kaufleute sind nur die Geschäftsagenten, — die Kommis der Verlagshäuser und Fabriken. Manchmal ist es ein einzelnes Verlagsgeschäft, welches an den verschiedensten Orten die Detailverkäufer an sich bindet, sie verpflichtet, mit keiner anderen Bezugsquelle Geschäftsverbindungen einzugehen, und den Handel so förmlich monopolisiert. Die Öffentlichkeit wurde ja soeben durch ein krasses Beispiel dieser Art bis in den Reichstag hinein in Aufruhr versetzt. Wir meinen die Angelegenheit des Petroleumsyndikats. Die Firmen, mit denen das Syndikat in Verbindung steht, haben sich zweifellos als selbständige Kaufleute in die Berufsstatistik eingetragen. Wie es um ihre ”Selbständigkeit” in Wirklichkeit bestellt ist, hat die Veröffentlichung der ihnen vom Syndikat diktierten Verträge gezeigt. Danach ist ihnen alles vorgeschrieben: der Einkaufspreis, der Verkaufspreis, ihr Profit und ihr Geschäftsumfang — was bleibt dann noch von diesen selbständigen Kaufleuten übrig als der stolze Name? So steht es aber, wie allgemein bekannt, nicht nur mit den Petroleumhändlern. Die ganze Stoffbranche besteht nur aus Handelsfilialen der Fabriken. Die Möbelhandlungen sind eng mit den Möbelfabriken liiert. Aber nehmen wir selbst den Produktenhandel, den zahlreichsten und in dem der Kleinhandel seine vorzügliche Domäne hat. Der Spezierer bekommt das Petroleum vom Syndikat geliefert, das Bier vom Bierverlag, die Zuckerwaren von der Fabrik, die Zigarren ebenfalls — mit all diesen steht er in fester Verbindung, er wird von ihren Geschäftsreisenden, Expedienten aufgesucht, die Ware wird ihm regelmäßig zu festen Sätzen ins Haus geliefert, er hat nichts zu tun, als sie abzuwiegen und auszuverkaufen und von Zeit zu Zeit mit seinem Auftraggeber abzurechnen. Für bares Geld kauft er sich vielleicht nur ein Fässchen Salzheringe, ein paar Pfund Wurst, Kartoffeln, Butter und Eier bei den Marktfrauen und eine Tonne Salzgurken — das ist der selbständige Produktenhändler! Wie es diesen kleinen Kaufleuten ergeht, kann man u.a. aus den städtischen Wohnungsenqueten ersehen: bei keiner Bevölkerungsschicht herrscht nämlich eine derartige Wohnungsüberfüllung, niemand haust so in Schmutz, Dunkel und Feuchte als diese ”Ladenbesitzer”. Es ist ein Jammer, diese kleinen Leute zu sehen, wenn sie ihre Miete zu bezahlen haben oder der Termin für die Lieferanten heranrückt — Segnungen des ”Kredits”, die man nach Bernstein in der Partei nicht zu würdigen versteht — da scharren sie die Pfennige aus allen Schubfächern zusammen und nicht selten wird da der Pfandleiher aufgesucht: Oft gehört diesen gewaltigen Unternehmern nicht einmal der Ladentisch, der vom Hauseigentümer geliefert wird, und ihr ganzes Privateigentum besteht aus ein paar Pappschachteln! So stehen die Dinge im Handel. Für die meisten dieser Kaufleute würde der Übergang zur sozialistischen Wirtschaftsweise nur bedeuten, dass an Stelle der jetzigen kapitalistischen Lieferanten der sozialistische Betrieb als Lieferant auftritt.

Wir sind den statistischen Aufstellungen Bernsteins Schritt für Schritt gefolgt, weil er ein besonderes Gewicht legt darauf, dass man in der Partei nach seiner Meinung über unbequeme statistische Tatsachen sich zu leicht hinwegsetze. Wir glauben, gezeigt zu haben, dass die Art, wie Bernstein die Zahlen deutet, erst recht oberflächlich ist, dass er dabei die wichtigsten wirtschaftlichen Zusammenhänge außer Acht lässt. Nunmehr müssen wir uns überhaupt gegen diese rein arithmetische Art, soziale Probleme zu lösen, wenden. Die Berufsstatistik liefert uns gewiss das wertvolle Material der Beurteilung der gesellschaftlichen Gliederung. Aber die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft unter die eine Schablone einer betriebsstatistischen Gliederung bringen zu wollen, ist eine höchst vulgäre Verfahrensart. Zunächst liegt es im Wesen der Massenzahl, dass sie die Unterschiede überbrückt, die dadurch oft nicht nur ein getrübtes, sondern direkt ein Ergebnis liefert, welches der Wirklichkeit widerspricht. Wir wollen das an einer Anzahl Beispiele klarlegen. Das krasseste dieser Art bezieht sich auf die Gewerbegruppe ”Verkehr”. Diese Gruppe muss samt dem Handel dafür herhalten, die Zähigkeit des Kleinbetriebes nachzuweisen. Nun fehlen aber in dieser Rubrik des ”Verkehrs” — die Eisenbahnen! Wir glauben, einen größeren Hohn auf diese jetzige Bernsteinische Art, geschichtlichen Materialismus zu treiben, als dieser Umstand, dass die Entwicklung, ja die Existenz selbst der modernen Transportmittel, die Blutzirkulation der kapitalistischen Produktion, ihm völlig entgeht, kann man kaum denken Die Droschkenkutscher müssen dazu herhalten, die Unmöglichkeit der sozialen Revolution zu beweisen, — die Eisenbahnen, welche diese Revolution bewirken, verschwinden von der Erdoberfläche, als wenn wir uns noch im grauen Mittelalter befänden. Um den Hohn vollständig zu machen, fiel gerade in diese Zeit zwischen 1882 und 1895 die Verstaatlichung der deutschen Eisenbahnen. Aber Bernstein weiß uns davon nichts zu erzählen, — dagegen beweisen ihm die Totengräber, die merkwürdigerweise ebenfalls unter das ”Verkehrsgewerbe” geraten sind — offenbar, weil sie den Verkehr mit dem Jenseits vermitteln — und unter denen der Großbetrieb noch nicht so stark vertreten ist als etwa im Kohlenbergbau, die große Schwierigkeit der sozialen Revolution! Doch sehen wir uns weiter um. Im ”Handelsgewerbe” finden wir die Rubrik Geld- und Kredithandel mit 5.969 Selbständigen und 33.689 abhängig Beschäftigten, also noch nicht einmal 6 Personen pro Betrieb — offenbar ”Kleinbetriebe”, welche mithelfen, die Unmöglichkeit der sozialen Revolution zu konstatieren. In Wirklichkeit sind das die Banken und Börsen! Wenden wir uns der Industrie zu. Da müssten wir aber ganze Seite voll schreiben, wollten wir sämtliche Beispiele der Unzulänglichkeit des Bernsteinschen Gradmessers der sozial-revolutionären Entwicklung aufführen. Die deutsche Textilindustrie z.B. muss für die Vergesellschaftung des Betriebes noch durchaus unreif sein. Weshalb? Nun, es finden sich hier noch über hunderttausend Handweber, die noch nicht total verhungert sind! Deshalb müssen wir offenbar die Hände weglassen von den großen Spinnereien und Webereien! Auch bilden sich hier besondere Spezialitäten heraus, die dem Kleinbetrieb einen Unterschlupf gewähren — Bernsteins Lieblingsidee — das ist z.B. die Gummi- und Haarflechterei und -weberei mit 1.284 Selbständigen und 2.738 Erwerbstätigen. Auch in der Papierindustrie scheinen unsere Aussichten sehr schlecht zu sein: hier hat sich eine besondere Spezialität der Verfertigung von Spielwaren aus Papiermaché gebildet. Bei dieser Gelegenheit seien noch ein paar andere moderne Spezialitäten aufgeführt. Als da sind: Verfertigung von Krawatten und Hosenträgern, Verfertigung von Korsetts, Verfertigung von künstlichen Blumen und Federschmuck, Fleckenausmacher, Kleiderreiniger, Stiefelwichser, Kammerjäger. Da alles beweist nämlich nach Bernstein, dass der Kleinbetrieb noch durchaus lebensfähig ist, wenn er auch andere Formen annimmt. Die deutschen Gasanstalten in der Zahl von 427 beschäftigen jetzt zusammen nur 14.407 Personen, also pro Betrieb etwa 35 Mann — nach Bernstein können wir sie noch keineswegs vergesellschaften, sondern wir müssen warten, bis sie mindestens je 50 Personen beschäftigen, denn erst dann zählen sie zu den ”Großbetrieben”, wenn auch ”mäßigen”! Am schlimmsten aber ist es um den deutschen Schiffsbau bestellt. Da herrschen noch ganz rückständige Zustände — da gibt es auf 1.068 Selbständige 22.731 Erwerbstätige, also durchschnittlich 22 Mann pro Betrieb. Auffallend ist es nur, dass in diesen ”Mittelbetrieben” die größten Ozeandampfer gebaut werden! Da weiß schon die Regierungsschrift über Deutschlands Seeinteressen anderes mitzuteilen. Sie weiß von den gewaltigen deutschen Werften zu erzählen, welche den größten Forderungen genügen, von den Schwimmdocks mit ungeheurer Hebekraft, von dem kolossalen Wachstum der Schiffszahl und des Tonnengehalts der deutschen Handelsflotte, die zu einem immer größeren Teil auf den eigenen deutschen Werften gebaut werden. Aber ein paar hundert Verfertiger von Kähnen und kleinen Booten trüben das statistische Bild, und Bernstein sieht auch hier nur die kleinen Fischerkähne und übersieht die große deutsche Seeflotte, wie er früher die Lastfuhrwerke sah und die Eisenbahnen nicht merkte!

Will man die Berufsstatistik gebrauchen, um sich Einsicht in die soziale Entwicklung zu verschaffen, so muss man sie als das nehmen, was sie ist: rohes Material, gewiss ein wertvolles Material, das aber immerhin erst durch andere Tatsachen ergänzt und korrigiert werden muss und das vor allem erst auf Grund der bereits gewonnenen Kenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge bzw. in unserem Fall der Gesetze der kapitalistischen Entwicklung begriffen und zu einem zusammenhängenden Bild verwoben werden kann. Wir wollen der jetzigen kritiklosen Bernsteinschen Auffassung gegenüber ihn kurz daran erinnern, wie die Sache gemacht werden muss.

III. Die sozialrevolutionäre Armee*

Wir haben schon erwähnt, dass die gesellschaftliche Bedeutung der verschiedenen Produktionszweige bzw. ihre Bedeutung für den Revolutionierungsprozess der Gesellschaft eine durchaus verschiedene ist. Für die kapitalistische Entwicklung kommt bekanntlich vor allem das Verhältnis zwischen der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion in Betracht. Man kann mit gutem Recht sagen, dass daran die ganze wirtschaftliche und politische Entwicklung, ja die gesamte Kulturentwicklung unserer Zeit geknüpft ist. Die Städteentwicklung, die Eisenbahnen, das hängt damit zusammen. In dieser Beziehung zeigt nun die Statistik seit 1882 eine totale Verschiebung des Verhältnisses. Die ganze landwirtschaftliche Bevölkerung des Reiches zählt jetzt 18,5 Millionen von 51,8 Millionen Gesamtzahl, also noch nicht einmal 40 Prozent. Die überwiegende Majorität steckt in Industrie, Handel etc. Diese sind es also, welche jetzt den wirtschaftlichen Charakter des Landes bestimmen. Es handelt sich nicht um ein einfaches Übergewicht der Zahl nach: es handelt sich darum, dass nunmehr diese industrielle, städtische Bevölkerung mit ihren Interessen, Gegensätzen, Ansichten, Forderungen die geschichtliche Entwicklung Deutschlands beherrschen, alles andere sich unterordnen, nach sich umgestalten, von sich abhängig machen, durch die Flut der großen Öffentlichkeit, die sie erzeugt, sich moralisch erobern muss. Die 28 deutschen Großstädte mit je über 100.000 und zusammen 7.300.000 Einwohnern sind ebenso viele Zentren der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beherrschung des Landes. Jede dieser Großstädte macht ihre Umgebung in einem Rayon, dem durch die Verzweigung der Eisenbahnen sehr weite Grenzen gezogen sind, von sich abhängig. Andererseits nistet sich bekanntlich die Industrie bereits in den entferntesten Winkeln ein. So werden die 18 Millionen bäuerlicher Bevölkerung von den 33 Millionen der industriellen förmlich umlagert, in Stücke gerissen, durch zahlreiche Industriestränge durchsetzt, von Eisenbahnen umflochten und unter der Herrschaft der Großstädte zusammengezogen Diese wirtschaftlichen Zusammenhänge kennt die Berufsstatistik nicht. Sie kennt nur Zahlenunterschiede, sie klassifiziert und rubriziert, scheidet und wirft zusammen — Wechselbeziehungen kennt sie nicht. Der Politiker, dem sie als einzige Grundlage seiner Spekulationen dient, gleicht deshalb dem Strategen, der wohl die Zahl und Einteilung und vielleicht auch noch die Bewaffnung der feindlichen Truppen kennt, aber nicht ihre Dislokation, nicht die Bedingungen des Terrains, nicht die Wege und Verkehrsmittel und auf Grund dieser Kenntnisse seinen Feldzugsplan entwerfen will!

Haben wir uns nun auf Grund der Berufsstatistik vergegenwärtigt, dass Deutschland ein industrielles Land ist, und zwar nicht nur der Zahl der Erwerbstätigen nach, sondern im Sinne der Beherrschung des gesamten wirtschaftlichen Lebens des Landes durch die industrielle Tätigkeit, so ist die weitere Frage, welchen Charakter trägt diese Industrie bzw. in welchem Verhältnis steht sie zum Weltmarkt? Die politischen Ereignisse der letzten Zeit machen hier detaillierte Ausführungen überflüssig. Deutschlands Industrie ist eine kapitalistische Exportindustrie. Darunter ist nicht etwa eine Industrie zu verstehen, welche dank besonderer natürlicher oder Arbeitsverhältnisse geeignet ist, bestimmte Produkte vorzüglich für den Weltmarkt zu liefern, sondern wir meinen damit die Erreichung eines bestimmten Entwicklungsgrades der kapitalistischen Industrie, bei dem sie nicht mehr anders existieren kann, als indem sie außerhalb der Grenzen des Inlandes sich Absatz schafft. Eine derartige Industrie arbeitet bereits mit einer gesellschaftlichen Unterbilanz. Sie produziert mehr, als man unter den gegebenen sozialen Verhältnissen im Inlande verbrauchen kann, sie ist der Beweis dafür, dass die Produktivkräfte der sozialen Wirtschaftsform über den Kopf gewachsen sind und dass diese Wirtschaftsform sich nur noch hält, insofern es gelingt, die überwuchernde Produktenmasse aus dem Lande wegzustoßen, und unbedingt gesprengt werden muss, wenn der Absatz nach dem Auslande durch irgend welche Umstände gehemmt wird. Diese Tatsache, die sich auf die Industrie in ihrer Gesamtheit bezieht, ist ein viel wichtigeres sozialrevolutionäres Merkmal als der in jedem einzelnen Industriezweig im besonderen erreichte Grad der Betriebskonzentration. Ist es auch interessant, zu erfahren, inwiefern der Großbetrieb in den verschiedenen Zweigen der gesellschaftlichen Produktion fortgeschritten ist — obwohl der Sozialismus nie behauptet hat, dass zuerst der höchstmögliche Grad der Konzentration des Betriebs in jedem einzelnen Erwerbszweig erreicht werden muss, bevor die soziale Revolution möglich wird — so beweist es doch nur die größere oder geringere technische Möglichkeit der Vergesellschaftung der Produktion, währenddem das soeben charakterisierte Verhältnis den Beweis liefert, dass diese Vergesellschaftung zur produktiven Notwendigkeit geworden ist.

Nun wollen wir sehen, wie sich auf dem Terrain dieser allgemeinen Produktionsverhältnisse die Klassengegensätze abscheiden und Interessenkämpfe abspielen. Hier werden wir die Zahlen der Berufsstatistik am meisten gebrauchen können.

Wir betrachten zunächst die eigentliche Industrie. Das sind die Gewerbegruppen III bis XVI der Statistik. Wir finden hier im ganzen Reich 79.286 Betriebe mit mehr als je 10 Beschäftigten. Man wird zugeben, dass dies, im weitesten Umfang genommen, die industrielle Kapitalistenkasse ist, die den direkten Schaden der sozialen Revolution zu tragen haben wird. Man sieht, sehr zahlreich ist die Klasse nicht. Ihnen steht gegenüber in denselben Betrieben beschäftigte — abzüglich der Betriebsinhaber — 3.911.072 Personen. Aber es ist zu berücksichtigen, dass zwischen den Arbeitern keine solche Scheidung stattfindet wie zwischen den Unternehmern. Derselbe Arbeiter arbeitet bald in einem größeren bald in einem kleineren Betrieb. Zwischen den Betrieben aller verschiedenen Größen findet ein ständiger Austausch, eine fortwährende Fluktuation von Arbeitern statt. Der Fabrikarbeiter wird deshalb nicht anders gesinnt, wenn er gelegentlich in einem Kleinbetrieb arbeitet. Auch hier kommt es wiederum darauf an, was den Ausschlag gibt. Bernstein selbst gibt zu, dass dies in der Industrie der Großbetrieb ist, nun wohl, die Fabrik ist es nunmehr, welche den Charakter der Arbeiterklasse bestimmt. Waren die Arbeiter in den Kleinbetrieben nur auf sich selbst angewiesen, so kämen sie nie über die Ansichten und Forderungen der Handwerksgesellen hinaus, da sie aber in steter Berührung mit den eigentlichen Industriearbeitern sich befinden, selbst Fabrikarbeit durchgemacht haben und in einer Zeit der Großstädte, Eisenbahnen, Zeitungen, des Parlamentarismus usw. leben, so werden sie ebenso zu klassenbewussten Proletariern wie die Fabrikarbeiter. Beispiele dafür sind innerhalb der Sozialdemokratie geradezu ohne Zahl. Selbst bis in die verbohrtesten Handwerksbetriebe wie die Bäcker und Metzger dringt der sozialdemokratische Geist. Man geht also nicht fehl, wenn man der kapitalistischen Unternehmerklasse die gesamte Zahl der Lohnarbeiter gegenüberstellt. Diese betrug in der Industrie 5.955.711, außerdem 263.745 Verwaltungs- und Aufsichtspersonal. Unser erstes Ergebnis ist also dieses:

Industrielle Kapitalistenklasse rund

80.000

Industrielles Proletariat rund

6.000.000

Das sind die zwei Parteien, deren Interessen einander direkt entgegengesetzt sind, und die sich auf das Schärfste bekämpfen. Auf der einen Seite das wirtschaftliche Bollwerk der jetzigen Gesellschaftsordnung, auf der anderen die Kerntruppen der sozialrevolutionären Armee. Dabei haben wir noch die Unternehmerklasse zu hoch gegriffen, weil, wie ein Vergleich der Betriebsstatistik mit der Berufsstatistik zeigt, die Zahl der Betriebsinhaber in der Industrie geringer ist als die der Betriebe.

Ziehen wir die 80.000 Betriebsinhaber, die wir als die eigentliche industrielle Kapitalistenkasse bezeichnet haben, von der Gesamtzahl der selbständigen Erwerbstätigen ab, so erhalten wir einen Rest von 1.980.000. Das sind die Allein- und sonstigen Kleinbetriebe.

In dieser großen Zahl von ca. 2.000.000 birgt sich aber zunächst eine bedeutende Summe von eigentlichen Lohnarbeitern, die nur unter einer anderen Rechtsform auftreten. Das sind vor allem sämtliche Berufsarten, die mit der Hausindustrie zusammenhängen, also 190.381 selbständige Näherinnen, 261.141 desgleichen Schneider und Schneiderinnen, 15.966 Putzmacherinnen usw. Es gehören auch hierher die Handweber und verwandten Berufsarten mit ca. 150.000. Das sind zu dem weitaus größten Teil Proletarier, unter dieser oder jener Form werden sie auf das Schändlichste ausgebeutet, und sie sind weit entfernt davon, dem Proletariat in seinem sozialrevolutionären Kampf sich entgegen zu setzen, vielmehr sind z.B. gerade unter den Schneidermeistern sehr viele zielbewusste Sozialdemokraten zu verzeichnen. Fast sieben Zehntel Millionen von den zwei sind schon weg!

Ferner gibt es im Baugewerbe viele wirkliche Lohnarbeiter, die sich als ”selbständig” in die Berufsstatistik eintragen, wie Maurer, Dachdecker und weniger schon Zimmerer. Das rührt von den verschiedenen Umständen her, die mit der Natur des Gewerbes zusammenhängen. Die betreffenden stehen in keinem festen Verhältnis zu einem bestimmten Unternehmer; sie lassen sich von jedem Bauherrn besonders anwerben, wobei sie jedoch freilich ebenso gut zu einem Tagelohn oder Akkordlohn arbeiten, wie jeder andere Arbeiter, dazu kommt, dass sie vielleicht gelegentlich kleine Nebenarbeiten erhalten, die sie mit ihrem wenig komplizierten Werkzeug verrichten können. Wie dem auch sei, es sind Lohnarbeiter, bei der sozialen Revolution gibt es hier nichts zu ”expropriieren”, nichts umzuwälzen, außer dass auch sie, wie alle Arbeiter, unter günstigere Arbeitsbedingungen gestellt werden würden. Ihre Zahl umfasst ca. 100.000.

Folgen Berufsarten, die Zwitterbildungen von Lohnarbeit und Handwerk in großer Zahl enthalten. Sie knüpfen zum Teil an den städtischen Hausbau, zum Teil an die Notwendigkeit, die Häuser und Wohnungen im Stande zu erhalten, ab. Die Großstädte mit ihren Wasserleitungen, Kanalisationen, Gasbeleuchtungen elektrischen Leitungen usw. usw. liefern ihnen ein überreiches Tätigkeitsgebiet. Wir meinen die Schlosser, Klempner, Elektrotechniker, Tapezierer. Sie haben ihre Werkstätten, arbeiten aber sehr oft nur für Arbeitslohn. Sofern sie außerhalb der Werkstatt, eben, wo sich gerade die Notwendigkeit für Reparaturen herausgestellt haben mag oder überhaupt in einzelnen Zufallsaufträgen zu tun haben, sehen wir nicht ein, wie man hier je eine technische Konzentration würde einführen können. Wir werde also diese Berufsarten übernehmen wie sie sind, und da die sozialistische Gesellschaft sicher keine schlimmeren Stadteinrichtungen haben wird, so wird sich auch für sie ein dankbares Tätigkeitsfeld eröffnen.

Mit diesen eng verflochten sind die Handwerke, die hauptsächlich mit Reparaturen an Fuhrwerken, kleinen landwirtschaftlichen Maschinen und sonstigen Utensilien beschäftigt sind. Neben den schon erwähnten Schlossern und Klempnern gehören hierher die Wagner, Stellmacher, auch Sattler. Auch hier sind bei der sozialen Revolution keine großen Umwälzungen vorzunehmen. Diese ”Handwerker” stören uns in keiner Weise, und was wir vornehmen, kann ihnen nur zugute kommen.

Nach diesen folgte das spezifizierte Reparaturhandwerk — die Schuhmacherei, zum Teil gehört auch hierher die bereits erwähnte Schneiderei. Es wurden 235.328 selbständige Schuhmacher gezählt. Was soll da gesagt werden? Die Sohlen werden sich auch in der sozialistischen Gesellschaft abtragen, und die neuen Stiefel werden auch jetzt schon in den Fabriken gemacht. Das eine dass mit der Hebung des allgemeinen Wohlstandes auch die Existenz der jetzigen elenden Flicker sich verbessern muss! Hierher gehören auch die Uhrmacher.

Eine Anzahl Kleinbetriebe füllen Berufsarten aus, die nach der Natur der Arbeit nicht konzentriert werden können und bei denen auch das Hauptgewicht in der Arbeit bzw. persönlichen Dienstleistung liegt: Apotheker, Abdecker, Barbiere, Wäscherinnen. Selbständige Wäscherinnen gibt es 75.301. Es wird wohl auch so sein, dass die Arbeiterfrauen nicht mehr durch die Not gezwungen sein werden, fremde Wäsche anzunehmen. Sie werden keinen Protest dagegen erheben. Die 5487 deutschen Apotheken werden wir allerdings in gesellschaftlichen Besitz nehmen.

Nun erst kommt das eigentliche Handwerk. Hier spielen die Bäcker und Metzger die Hauptrolle, zusammen ca. 150.000 Selbständige. Es sind hier viele Existenzen, die sich kaum über Wasser halten. Die Konkurrenz der Brotfabriken und Großschlächter, Metzgereien mit Dampfbetrieb, sowie der Wurstversandgeschäfte macht sich hier von Tag zu Tag mehr fühlbar. Immerhin herrscht hier noch viel Handwerkerdünkel. Doch wenn wir auch die Stimmen der Herren Bäcker- und Metzgermeister bei den Wahlen sicher nicht haben werden, so können sie uns doch keinen großen Schaden anrichten.

Von den verbleibenden Handwerken sind die Tischler zum Teil von den Möbelhandlungen gänzlich abhängig, zum Teil arbeiten sie bloß in ihren Werkstätten für die Fabriken; und die Buchbinder liegen in den Händen der Verlagsanstalten. Für beide Berufsarten ist in der sozialen Revolution nur die Befreiung von der Ausbeutung zu erwarten.

Eine Reihe anderer Handwerke bestehen entweder aus Berufsarten, die eine besondere Kunstfertigkeit erfordern, wie Feinmechaniker, Goldschmiede — sie sind sehr wenig zahlreich und werden in der sozialistischen Gesellschaft erst recht Gelegenheit haben, ihre Fertigkeiten auszunützen — oder sie weisen in gemischter Art die beiden anderen bereits nachgewiesenen Merkmale auf — es sind die Korbmacher, Drechsler usw.

Unsere Übersicht der selbständigen Erwerbstätigen in den Kleinbetrieben des Gewerbes führt zum Schluss, dass davon

ca. 1.000.000 in ihren Interessen mit den Lohnarbeitern solidarisch sind (Schneider, Schuhmacher, Handweber, Näherinnen, Maurer usw.)

ca. 400-500.000 als selbständige Handwerker auch in die sozialistische Gesellschaft übernommen werden und sich dann sicher besser stellen würden als jetzt

200-250.000 der Umwälzung in einem mehr oder weniger feindlichen Indifferentismus gegenüber stehen.

IV. Die sozialrevolutionäre Armee (Fortsetzung)

Im Handel und Verkehr fanden wir vor allem 1.233.000 Lohnarbeiter und 262.000 Verwaltungspersonal. Diese mögen jetzt, so lange die kapitalistische Gesellschaft besteht, für uns in großen Massen nicht zu haben sein. Aber bei der sozialen Revolution haben sie ach andererseits kein Interesse daran, die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten. Dass das reine Arbeiterpersonal der Packhäuser, die niederen Kommis, die Ladenmädchen, die Ausläufer etc., all diese 1,2 Millionen, die auf das schändlichste ausgebeutet und auf das elendste bezahlt werden, sich in der sozialistischen Gesellschaft, die eine menschenwürdige, geregelte Arbeitszeit und auskömmliche ”Löhne” — der Ausdruck selbstverständlich nicht im kapitalistischen Sinne des Marktpreises der Arbeitskraft gebraucht — einführen wird, besser stellen müssen, liegt auf der Hand. Sie bilden jetzt aus verschiedenen Gründen eine politisch indifferente Gesellschaftsschicht, aber sie sind keineswegs stupid, geistig unbeweglich, im Gegenteil, sie sind sehr regsam und sehr energisch in der Wahrnehmung ihrer Interessen. Sie werden der sozialen Umwälzung wohl mit dem größten Misstrauen begegnen, aber es wird ihnen nicht einfallen, wegen der Expropriierung ihrer Prinzipale sich besonders zu erhitzen, wie sie auch jetzt es sich nicht besonders zu Herzen nehmen, dass etwa der Kaufmann Hinz bankrott wird wenn nur Kunz das Geschäft weiterführt. Sie werden einfach die sozialistische Regierung als den neuen Prinzipal auffassen, wie jetzt etwa das Direktorium einer Aktiengesellschaft, und sie werden allerdings nicht verfehlen, ihre Forderungen zu stellen. Können wir diese Forderungen erfüllen, vermögen wir, ihre Lage zu verbessern, dann werden sie zu den enragierten Parteigängern der sozialrevolutionären Regierung werden. Dass wir aber dazu wirklich im Stande sind, liegt in der allgemeinen produktiven Voraussetzung der sozialen Revolution: dass die Vergesellschaftung der Produktion bei der jetzigen Entwicklung der Produktivkräfte ein reichliches Auskommen für sämtliche Mitglieder der Gesellschaft zu schaffen vermag.

Analog, wenn auch durchaus nicht gleich, stehen die Verhältnisse bei dem höheren technischen und Verwaltungspersonal, das wir hier in seiner Gesamtheit, also nicht nur im Handel, sondern in sämtlichen Produktionszweigen nehmen wollen. Auf den Prozess der Ausbildung einer richtigen Lohnarbeiterschaft auch unter dieser Gesellschaftsschicht genügt es zu verweisen. Wir wollen hier die Sache von einem anderen Gesichtspunkte ins Auge fassen. So wenig Sympathien diese Herren meistens der Arbeiterschaft entgegenbringen und so sehr die Arbeiter zum Teil in ihnen ihre Antreiber sehen müssen, so lässt es sich doch nicht leugnen, dass das Proletariat durch seine sozialrevolutionäre Tätigkeit zunächst für sie mehr noch als für sich selbst die Vorarbeit leistet. Denn wenn man die Kapitalistenklasse beseitigt, welche dieses Verwaltungspersonal durch ihren Geldbesitz von sich abhängig macht, so bleibt dieses als der faktische Herr des Betriebes. Man mag von der Schulung der Arbeiter in den Konsumvereinen und Gewerkschaften noch so viel denken, so werden doch die Arbeiterbeamten die sämtlichen Ingenieure und Fabrikdirektoren nicht ersetzen können. Wir sind auf sie angewiesen. Mit dem diese Herren kennzeichnenden Scharfsinn werden sie denn auch gleich entdecken, wie die Dinge stehen, und sie wären zu schlechte Geschäftsleute, wollten sie diese Sachlage nicht für sich ausnützen. Sie werden also sich Einfluss zu verschaffen suchen und, soeben Gegner der sozialen Revolution, werden sie, sobald die politische Entscheidung zu unseren Gunsten gefallen, sich sofort zu ihren Leitern aufzuwerfen suchen. Ein ungemein geistesgewandtes Völkchen, werden sie da die mannigfaltigste Tätigkeit entwickeln, als Redner, Organisatoren und vor allem als Projektemacher aller Art. Sie werden bald herausfinden, welche produktive Möglichkeit die soziale Revolution eröffnet, und sie werden mit den gewagtesten Plänen an das Volk dringen und dabei agitatorische Eigenschaften entwickeln, vor denen wir uns sehr wohl in Acht zu nehmen haben werden. Uns, den Politikern, welche die soziale Revolution zielbewusst vorbereiten, wird dann nichts übrig bleiben als: 1. durch rasche Erweiterung des technischen Unterrichtswesens dafür zu sorgen, dass reichliches technisches Verwaltungspersonal der Gesellschaft zur Verfügung steht; 2. durch Ausbau einer demokratischen Organisation der Betriebsleitung und durch energische Handhabung der politischen Zentralmacht den Abenteuern entgegenwirken. Doch für unsern jetzigen Zweck kommt nur in Betracht, dass diese gegenwärtigen Parteigänger des Kapitals in ihrer großen Mehrzahl ihren jetzigen Herrn und Gebieter verraten werden, wenn sie im entscheidenden Kampf dem Proletariat unterliegen. Die Gesamtzahl des technischen und kaufmännischen Personals umfasst 621.918 Erwerbstätige.

Wir wenden uns der ehrbaren ”Kaufmannschaft” zu, also zu den selbständigen Ladenbesitzern. Wir finden hier 31.990, also rund 32.000 Betriebe mit mehr als 5 Beschäftigten. Ihre Inhaber zählen wir zu der Kapitalistenklasse. Außerdem gibt es hier 204.213 Betriebe mit je 2 bis 5 Beschäftigten, den Betriebsinhaber und etwaige Familienmitglieder mitgerechnet. Man weiß, dass gerade im Handel die Beschäftigung von Familienmitgliedern sehr weit verbreitet ist, ja im Kleinhandel die Regel bildet. Wenn wir deshalb von dieser Zahl 50.000 als der Kapitalistenkasse zugehörig, d.h. denjenigen, deren Einkommen hauptsächlich aus der Verzinsung ihres Kapitals und nicht aus ihrem Arbeitsverdienst fließt, abrechnen, so ist das sicher sogar sehr weit gegriffen. Also die Gesamtvertretung der kapitalistischen Kaufmannschaft 82.000. Ihnen gegenüber stehen außer den 1.600.000 auf Lohn Angestellten 154.000 Inhaber von Kleinbetrieben und 398.994 kaufmännische Alleinbetriebe, zusammen 550.000 kleine Kaufleute, die in ihren resp. Kaufläden ein Kapital stecken haben, dessen Verzinsung vielleicht nicht einmal ausreichen würde, die Kosten der Buchführung zu bezahlen, und die eben nur davon leben, dass sie selbst die Arbeit der Kommis, Packträger und oft auch der Ausläufer verrichten. Wie es um die wirtschaftliche Selbständigkeit dieser ”Privateigentümer” bestellt ist, haben wir bereits gezeigt. Die sozialistische Verwaltung wird ihnen gegenüber als Lieferant auftreten. Die Produkte werden ihnen zugestellt werden, und sie werden sie, wie auch jetzt, an die einzelnen Verbraucher zu ”verkaufen” haben — wir brauchen uns ja nicht jetzt schon um die sozialistische Geschäftsterminologie den Kopf zu zerbrechen —, dafür zu sorgen haben, dass die Ladenbestände rechtzeitig ergänzt und genügend assortiert werden, dass die Ware nicht verdirbt, und sie werden für ihre Mühewaltung ein entsprechendes Einkommen zugesichert bekommen. Diese Behandlung der Kaufmannschaft mag den überraschen, der sich einbildete, dass das Proletariat, wenn es zur Herrschaft gelangt, nichts anderes anzufangen haben wird, als die ganze Gesellschaft in eine einzige Fabrik zu verwandeln. Diese Albernheiten können wir getrost den Sozialphilosophen à la Eugen Richter überlassen. Eine große Schwierigkeit liegt aber beim Handel allerdings vor, und diese Besteht in der Konzentrierung des Betriebs. Gewiss herrscht gegenwärtig noch eine große Zersplitterung im Handel, die beseitigt werden muss. Aber einmal ist in Betracht zu ziehen, dass mit der Konzentration des Handels keineswegs eine Verminderung der im gesamten Handel zur Verwendung gelangenden Zahl der Beschäftigten vor sich gehen wird. Das ist selbst jetzt nicht der Fall, weil die gewaltige Ausdehnung des Handelsverkehrs die Ersparnisse an Arbeitspersonal infolge der der Konzentration der Betriebe bei weitem überflügelt. So sehen wir auch in der Industrie mit der Entwicklung des Großbetriebs eine Vermehrung der Gesamtzahl der Beschäftigten vor sich gehen. Und das wird in der sozialistischen Gesellschaft, wo der Warenbedarf der Bevölkerung noch steigen wird, im Handel erst recht der Fall sein.

Nun wird es immerhin wohl eine bedeutende Anzahl von Budikern geben, die für den mehr Intelligenz und Gewandtheit fordernden kaufmännischen Großbetrieb sich nicht eignen werden. Doch auch diese werden nicht wie jetzt, wenn sie von den Großbasaren und Konsumvereinen außerhalb der Konkurrenz gesetzt werden, hilflos dastehen, ohne zu wissen, woher sie die Mittel nehmen sollten zur Bestreitung ihrer kümmerlichen Intelligenz, sondern sie werden in anderen Zweigen der unendlich mannigfaltigen sozialen Wirtschaft oder in dem weitverzweigten Gemeindedienst , der sich mit der Vergesellschaftung der Produktion sicher eminent erweitern wird, eine Verwendung nach ihren Fähigkeiten finden. Bei dieser Gelegenheit sei noch darauf verwiesen, dass die jetzige Konzentration des Produktenhandels in den Konsumvereinen etc. keineswegs bloß dem Bedürfnis der Betriebskonzentration entspringt, sondern vor allem dem Bestreben, die kapitalistischen Zwischenprofite der verschiedenen Händler durch deren Hände die Ware geht, zu beseitigen, dass ihr Vorteil viel weniger in der Ersparnis an Arbeitskräften liegt, als eben in der Ausschaltung dieser kapitalistischen Prozentsätze, einfach gesagt darin, dass sie die Ware ”aus erster Hand” kaufen. In der sozialistischen Gesellschaft in der die kapitalistische Profitberechnung überhaupt beseitigt wird, wird dieser Geschäftsvorteil wegfallen, und um so mehr die anderen Momente zur Geltung kommen, welche der Konzentration des Produktenhandels entgegenwirken, wie z.B. die Notwendigkeit für Hausfrauen, größere Gänge zu machen, um die Großhandlung zu erreichen, und die damit verbundene lästige Häufung des Geschäftsbetriebes zu bestimmten Stunden. Dies auch ein Fingerzeig für diejenigen, welche glauben, die sozialistische Gesellschaft werde nichts vernünftigeres zu tun wissen, als den mathematischen Mittelpunkt des Landes zu ermitteln und in diesem Mittelpunkt eine große Zentrale zu errichten, in der die gesamte Produktion und der gesamte Handel untergebracht werden.

Bei den noch übrig bleibenden Gewerbegruppen brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Das Versicherungsgewerbe verliert mit der sozialen Revolution einen guten Teil seiner Bedeutung, da ja die gesamte sozialistische Gesellschaft eine Organisation zur gegenseitigen Existenzversicherung ist. Wie es jetzt schon den kapitalistischen Riesenbetrieben vorteilhafter ist, eine ”eigene Versicherung” zu buchen, wie es z.B. der Norddeutsche Lloyd tut, d.h. einfach bestimmte Abschreibungen für das Risiko zu machen, so wird die sozialistische Produktionsverwaltung gar nicht anders können, als selbst ihre Verluste zu decken. Das Personal der Versicherungsanstalten, wie auch das der Banken, eignet sich vorzüglich zum Verwaltungs- und Beamtenpersonal — die Buchführung, die es jetzt besorgt, wird auch später notwendig sein. Die Möglichkeit einer Vergesellschaftung des Verkehrsgewerbes in seinen verschiedenen Formen wird kaum bestritten werden. Es kommen hier nach der Berufsstatistik in Betracht: 428.797 eigentliche Lohn- bzw. Handarbeiter, ferner 113.405 technisches und Verwaltungspersonal — darüber mit über 100.000 die Verwaltung der Eisenbahnen, Posten und Telegraphen — und 65.501 ”selbständige” Erwerbstätige, worunter in großer Mehrzahl die Droschkenkutscher, Lohnfuhrwerksinhaber, Dienstmänner und die Besitzer von Flussfähren, Kähnen usw. Wir rechnen unter ihnen 15.000 Kapitalbesitzer in dem bereits früher erläuterten Sinne.

Noch ein Wort über die Gastwirtschaft. Rechnen wir hier die Besitzer von Betrieben mit mehr als 5 Beschäftigten zu den Kapitalisten, so beträgt ihre Zahl 13.772. Ihnen stehen gegenüber Lohnarbeiter 314.535. Die Zahl der selbständigen Erwerbstätigen ist hier viel geringer als die Zahl der Betriebe, nämlich 175.712 gegenüber 234.437. rechnen wir von den Selbständigen die eben ermittelte große Zahl der großen Gastwirte ab, so bleiben ca. 162.000 Kleinbetriebe. Es gilt von ihnen im allgemeinen, was wir bereits vom Handel gesagt haben. Wer sich vergegenwärtigen will, wie sehr die Gastwirte von der Arbeiterschaft abhängig sind, werfe einen Blick in den Inseratenteil der Parteizeitungen und erinnere sich an den Polizeikampf gegen die Gastwirte wie auch die Bierboykotts. Gewinnen die Arbeiter mehr Muße und wird ihre materielle Lage gehoben, so wird die Trunksucht sicher abnehmen und das vergnügen der Massen einen mehr kulturellen Charakter annehmen; das wird veredelnd auch auf den Wirtschaftstrieben wirken, aber gerade deshalb wird der Gastwirtschaftsbesuch mit der größeren Entfaltung des öffentlichen Lebens nicht abnehmen, sondern zunehmen.

Wir wenden uns jetzt jener Bevölkerungsklasse zu, in der das konservative Schwergewicht der heutigen Gesellschaft liegt, dem Bauerntum.

Fassen wir aber noch vorher die in der heutigen Übersicht gewonnenen Zahlen kurz zusammen. Wenn wir die 25.00 im Versicherungsgewerbe Beschäftigten zum Verwaltungspersonal rechnen und dieses aus allen Berufszweigen in die Gruppe ”Handel und Verkehr” zusammenfassen, so erhalten wir in runden Zahlen folgendes Gesamtbild der sozialen Gliederung in Handel und Verkehr, incl. Gastwirtschaft:

Kapitalistenklasse

111.000

Lohnarbeiterklasse

2.000.000

Verwaltungspersonal

650.000

Kleinhändler und kleine Gastwirte

760.000

V. Das Bauerntum und die soziale Revolution

Der eigentliche landwirtschaftliche Großbetrieb beginnt mit 100 Hektar. Die Zahl dieser Betriebe beträgt 25.057. Ihm reiht sich der Mittelbetrieb, das Großbauerntum (20 bis 100 Hektar) an mit 281.734 Betrieben. Weiter können wir der Betriebs-Statistik nicht folgen, weil je zersplitterter der Besitz, desto mehr Übergewicht die Lohnarbeit gewinnt und die gewerbliche Nebenbeschäftigung. Wir müssen auch hier, wie in anderen Fällen, die Berufsstatistik zum Vergleich heranziehen. Diese weist im Hauptberuf 2.568.725 selbständige Landwirte auf. Ziehen wir von diesen die bereits gewonnene Zahl der Groß- und Mittelbetriebe ab, so bleiben 2.261.725 selbständige Kleinbauern, d.h. solche, für welche die Landwirtschaft die Hauptbeschäftigung bildet. Außerdem gibt es 5.627.794, die sich selbst in ihrem Hauptberuf als Lohnarbeiter bezeichnen — in ihrer großen Mehrheit sind es landwirtschaftliche Tagelöhner, Häusler etc., die auch selbst ein Stückchen Land besitzen oder pachten. Die Groß- und Mittelbetriebe, die zusammen 5½ Prozent der Gesamtzahl ausmachen, umfassen 54,4 Prozent der landwirtschaftlich benutzten Fläche. Dies die Zahlen.

Wir wollen hier nicht die Frage erörtern, inwieweit wir jetzt schon die landwirtschaftliche Bevölkerung gewinnen können, d.h. inwieweit wir sie zu einer aktiven sozialrevolutionären Tätigkeit gewinnen können. Die Frage ist hier für uns, inwiefern sie die soziale Revolution hindert, d.h. ob es dem industriellen Proletariat möglich ist, angesichts einer derartigen landwirtschaftlichen Bevölkerung die soziale Revolution zu vollbringen.

Zunächst über den reaktionären Charakter des Bauerntums überhaupt. Der Bauer ist schwer zu einer politischen Aktion zu bewegen. Damit haben nicht nur die Revolutionäre, sondern auch die Reaktionäre zu rechnen. Der Bauer ist politisch passiv. Wer das Bauerntum in seinen politischen Charakterzügen studieren will, muss nach China oder Russland gehen. Die Herren, die jetzt mit so freudiger Genugtuung angesichts der ”Eroberung” von Kiautschou von dem politischen Indifferentismus der chinesischen Bauern zu erzählen wissen, der mit einem Gefühl der vollständigen Wurstigkeit dem politischen Wechsel begegnet, könnten daraus auch in Bezug auf die inneren deutschen Verhältnisse manches lernen. Es ist diese unerschütterliche Ruhe, die politische Teilnahmslosigkeit des Bauerntums, woraus sich das Märchen vom Bauerntum als Stütze der politischen Ordnung, von der es beherrscht wird, bezieht. Wenn der moderne westeuropäische Bauer unzweifelhaft viel regsamer ist, so beweist er eben in gleichem Maße: 1. Wie sehr die Landbevölkerung unter den Einfluss der kapitalistischen Warenproduktion, der Eisenbahnen und Städte ihren wirtschaftlichen Charakter geändert hat; 2. Wie sehr sie auch moralisch unter dem allgemeinen kulturellen Einfluss der kapitalistischen Entwicklung steht. So oft nun das europäische Bauerntum als Klasse in diesem Jahrhundert in politische Aktion trat, hat es sich den auch stets als oppositionelle Kraft erwiesen. Es ließ sich von Abenteurern und Scharlatanen narreleiten — von Napoleon dem Kleinen und bis auf Boulanger und Ahlwarth — aber das gerade war stets seine Art, Protest zu erheben gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Dieser oppositionelle Charakter ist jetzt deutlich zu erkennen nicht nur an den Antisemiten, sondern auch an dem Bund der Landwirte, obwohl dieser nur jene Schichten umfasst, die wir dem kapitalistischen Großgrundbesitz zugezählt haben. Wie werden sich nun aber erst die Millionen von Kleinbauern stellen, wenn sie zur politischen Betätigung aufgerüttelt werden? Wenn man soeben auf dem konservativen Parteitag seitens der ”Gouvernementalen” wie seitens der Agrarier Worte tiefgefühlter sittlicher Entrüstung gegen diejenigen richtete, welche die kleinen Landwirte gegen die großen aufhetzen, so wird man doch wohl seine guten Gründe dazu haben.

Es ist bekannt, dass die Junker durch den wirtschaftlichen Druck, den sie jetzt imstande sind auf die Landbevölkerung auszuüben, sie zwingen, zur Wahlurne zu gehen, — wie groß nichtsdestoweniger ihr politischer Indifferentismus, zeigt die Stimmenzahl, mit der die Konservativen gewählt werden. Wir haben für 68 konservative Abgeordnete des jetzigen Reichstags festgestellt, dass davon nur 5 mit knapper absoluter Majorität der Wahlberechtigten gewählt wurden — 11 vereinigten auf sich 45-50 Prozent der Wahlberechtigten, 26 bloß 40-45 Prozent, 21 nur 35-50 Prozent, also ein Drittel bis höchstens zwei Fünftel, 3 nur 31-35 Prozent und schließlich 2 etwas über 25 Prozent, also über ein Viertel der Wahlberechtigten!1 Darum treten ja auch die Konservativen für den Wahlzwang ein. Wenn nun durch die soziale Revolution, welche die Großgrundbesitzer expropriieren wird, der wirtschaftliche Druck, den diese auf die Bauern ausüben, beseitigt wird, soll das zu einer Stärkung der konservativen Armee führen? Glaubt man, der Parzellenbauer hätte wirklich Grund, sich in Harnisch zu werfen, weil der ”Staat” das Land der Großgrundbesitzer einzieht?! Für das Bauerntum handelt es sich um seine eigenen Interessen, und die Frage ist, inwiefern diese durch die soziale Revolution gefährdet oder verletzt werden.

Da möchten wir an die Analogie mit der großen bürgerlichen Revolution anknüpfen, welche E. Bernstein anführt. Wie war denn das französische Bauerntum 1789? Isoliert, unterdrückt, unwissend, ohne Zeitungen, die es auch, wenn es welche gehabt, gar nicht hätte lesen können, hat es vor der Revolution keine politische Aktion von Bedeutung entwickelt. Die Revolution ist in Paris gemacht worden. Das erst rüttelte die Bauern auf, die bei all ihrer Borniertheit sofort begriffen hatten, dass die Stunde für sie gekommen war, sich ihrer adeligen Bedrücker zu entledigen. Aber die zahllosen Bauernaufstände, die dem Bastillesturm folgten, wären sicher ebenso militärisch unterdrückt worden wie zuvor, hätte nicht die Revolution bereits das Regiment in ihren Händen gehabt, wäre nicht bereits die ”Diktatur” des Dritten Standes, der Bourgeoisie, etabliert gewesen. Die Bourgeoisie, als sie die staatliche Macht eroberte, begriff sehr wohl, dass sie sich der Sympathien des Bauerntums versichern muss. Wie gelang es ihr? Durch die Dekrete der berühmten Nacht des 4. August, welche die Feudallasten und Privilegien vernichteten durch die Konfiskation der Kirchengüter und der Güter der Emigranten. Wie das alles wirkte und welche sonstige materiellen Momente hinzukamen, die den Bauern zum Parteigänger der bürgerlichen Revolution machten, darüber kann ja Bernstein in der bekannten Schrift unseres Freundes Kautsky über die Klassengegensätze von 1789 nachblättern. Aber was die französische Revolution anbetrifft, bestreitet er ja diese Wirkungen gar nicht, — dass auch die soziale Revolution materielle Interessen erzeugen kann, welche die Bauern zu ihren Anhängern machen würde, will ihm nicht in den Sinn.

Sehen wir zu, wie sich die Dinge gestalten werden. Was dem Bauern Not tut, weiß man. Die Zinsenlast der Hypothekarschuld drückt ihn schlimmer als der Zehnte den französischen Bauern vor der Revolution. Die geringe Betriebsfläche macht ihm eine vernünftige Landwirtschaft, welche imstande wäre, ihm ein auskömmliches Dasein zu gewähren, zur Unmöglichkeit; könnte er auch Maschinen anwenden, so hat er kein Geld, um sie zu kaufen, kein Geld auch, um sich den teuren Dung zu kaufen, keine Mittel, um die Wirtschaftsgebäude auszubessern, geschweige zu vergrößern, keine Futtermittel, um das Vieh aufzuziehen; er besitzt auch nur zu oft nicht Nahrung genug für sich und seine Familie, und da er selbst auf einem zu kleinen Lappen Erde sitzt, so hat seine Nachkommenschaft erst recht keinen Platz auf dem Lande, sie muss auswandern, wenn sie nicht irgend eine Unterkunft in der Stadt bzw. in der Fabrik findet. Was nun bis jetzt getan wurde, um dem Bauerntum zu helfen, lässt sich, sieht man von allgemein rechtlichen und fiskalischen Fragen ab, kurz zusammenfassen: Verbilligung des Kredits, Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaften, dazu noch die Entwicklung landwirtschaftlicher Spezialitäten und Nebenbetriebe, wie Gartenbau, Milchwirtschaft bzw. Käsebereitung. Und das ist auch in der Tat alles, was auf dem Boden des Privateigentums und der Warenproduktion für das Bauerntum getan werden kann. Aber schon alle diese Maßregeln haben ein klägliches Fiasko erlitten. Weshalb? Weil auch ein geringer Zinsfuß bei einer großen Schuld schwer drückt, weil auch das Unglück des Bauern weniger daran liegt, dass er keine neuen Schulden aufnehmen, sondern dass er die alten Schulden nicht mehr tragen kann, weil viele Nullen noch keine Eins bilden, weil auch die billigsten Einkaufspreise bezahlt werden müssen, weil auch die Gewinne der Genossenschaft sich nur auf viel zu viele Mitglieder verteilen, die zu wenig liefern — weil sie wenig liefern können — dass ihr Gewinnanteil sie nicht warm macht, geschweige schon vor den Schwierigkeiten, mit denen diese Einrichtungen zu kämpfen haben, und weil schließlich bei allen Völkern, welche bereits das Nomadentum verlassen haben, der Getreidebau die Grundlage der Landwirtschaft bildet.

Wie nun die soziale Revolution? Das Erste, was sie dem Bauerntum bieten wird, ist die Ablösung der Grundschuld. Wenn man den Grund und Boden in gesellschaftliches Eigentum verwandelt, so muss man zugleich auch das Verhältnis zwischen den Hypothekargläubigen und ihren Schuldnern regeln. Gibt es kein Privateigentum mehr an Grund und Boden, so kann es auch keine private Schuld mehr geben an diesem Grund und Boden. In welcher Weise nun diese Ablösung der Grundschuld vor sich gehen wird, wird sehr von den politischen Verhältnissen abhängen, unter denen die soziale Umwälzung sich vollziehen wird. Jedenfalls aber ist eine Art der Schuldenablösung ausgeschlossen: jene, welche der Kapitalismus erfunden hat und welche darin besteht, dass nicht die Schuldner der Zinsenlast enthoben, sondern den Gläubigern der Zinsenbezug vom Staat garantiert wird, d.h. was man nennt: Verstaatlichung der Hypothekarschuld. Das höchste, was die Herren Hypothekenbesitzer fordern könne ist, dass der Staat ihnen die Schuld bezahlt, nicht dass er sie verzinst. Und dass diese Schuldsumme nicht auf einmal ausbezahlt werde, liegt im Interesse dieser Geldleute selbst, weil sonst die große auf den Markt geworfene Kapitalmasse, und wenn es lauter Gold wäre, das Geld und folglich den Kapitalbesitz der Herren Hypothekengläubiger stark entwerten müsste. Die sozialrevolutionäre Regierung wird aber die Grundschuld amortisieren, und zwar in einer angemessen langen Frist, damit die Gesellschaft der Herren Rentiers wegen nicht in Ungelegenheiten komme. Für den Bauern wird sich also daraus, außer der Befreiung von der ewigen Schuldknechtschaft, noch, auf Geld gerechnet, und diese Rechnung werden wir noch auf geraume Zeit beibehalten müssen, eine wirkliche Verminderung der Zinsenlast ergeben.

Die Vergesellschaftung des Grund und Bodens, die wir bereits erwähnt haben, ist das zweite Schreckgespenst, welches den Bauern zum erbitterten Gegner des Sozialismus machen soll. Allen, die so meinen, haben sicher noch nie versucht, sich praktisch vorzustellen, was diese Vergesellschaftung bedeutet. Man denkt gewöhnlich dabei an eine Wegnahme, als ob man so den Bauern den Boden unter den Füßen wegziehen, einpacken und forttragen will. Wie? Wohin? Wer soll es tun? Glaubt man den wirklich, dass jemand daran denkt, den Bauern fortzujagen und die Industriearbeiter aufs Land zu schicken? Das ist der selbe Blödsinn wie das Märchen vom ”Teilen”. Die Vergesellschaftung des Grund und Bodens ist vor allem eine Rechtsform, aus der sich folgende Konsequenzen ergeben:

  1. Kein Privatmann darf Grund und Boden kaufen oder verkaufen. Also ein Verbot, ähnlich wie jetzt bei den Fideikommissen.

  2. Die Gesellschaft hat das oberste Verfügungsrecht über den gesamten Grund und Boden. Diese Recht wird grundsätzlich auch jetzt anerkannt in der Zwangsexpropriation bei Eisenbahnbauten etc.

Wer ist nun die ”Gesellschaft”? Der zusammengelaufene Haufen ist es nicht, es ist die Organisation in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit, von der politischen Zentralgewalt und bis auf die Gemeinde. Also die Gemeinde, hinter der Gemeinde der Kreis, hinter dem Kreis die Provinz, hinter der Provinz die allgemeine Landesverwaltung — aber je weiter die Stufenleiter der Zentralisation, desto geringer der Zusammenhang mit dem eigentlichen landwirtschaftlichen Betrieb, desto mehr wird die gesellschaftliche Einmischung sich auf Allgemeinheiten beschränken, und die Gemeinde, die in unmittelbarer Beziehung zum Ackerland steht, diese wird es eigentlich sein, welche darüber zu verfügen haben wird. Wer aber ist die Gemeinde auf dem Lande? Das sind die Bauern und Landarbeiter. Die Vergesellschaftung des Grund und Bodens bedeutet also praktisch zunächst, dass die Gemeinden über das ganze in ihrem Umkreis liegende Land, einschließlich die Einzelhöfe und Gutsbesitzer, verfügen. Wie sich in diesem Fall die großstädtischen Gemeinden, unter Voraussetzung eines demokratischen Gemeindewahlrechts, den Herren Hauseigentümern gegenüber verhalten werden, braucht nicht erst viel erörtert zu werden — und wie sich die Landgemeinden zu den Großgrundbesitzern stellen werden, das hat eben das Beispiel der großen französischen Revolution gezeigt. In dem Gemeinderat, dem einzigen Rechtsinhaber des ganzen Bodens, wird die Stimme des Gutsherrn nicht mehr wiegen als die seines letzten Knechtes. Dass der edle Herr unter solchen Verhältnissen auf den mühelosen Bezug seiner Renten wird verzichten müssen, liegt auf der Hand. Wie sich die Bauerngemeinde mit ihm abfinden wird, hängt wiederum in vielen Stücken von den politischen Verhältnissen ab. Wenn die Herren, wie ihre Standesgenossen während der französischen Revolution, voll Hass und Angst und Rache brütend, über die Grenzen fliehen, um an fremden Höfen gegen ihr Vaterland zu intrigieren und Heere zu werben, welche dieses mit Krieg überziehen, so wird das das Schlimmste sein für sie, aber vielleicht das beste fürs Land, wie ebenfalls das Beispiel der großen französischen Revolution zeigt. Dann werden ihre Güter konfisziert, wie etwa, um ein Beispiel aus der Neuzeit zu nehmen, der Welfenfonds konfisziert wurde. Doch das sind Dinge, über die wir uns nicht jetzt schon in Spekulationen einzulassen brauchen. Die Gemeinde wird es sicher so machen, dass ihre Interessen dabei nicht zu kurz kommen. Die Vergesellschaftung des Grund und Bodens, welche den Großgrundbesitz expropriiert, vermehrt also in gleichem Maße die Betriebsfläche, über die die Bauerngemeinde verfügt. Das bringt allerdings noch nichts in Bezug auf den einzelnen Bauern, — aber halten wir vorläufig das Ergebnis fest.

Ferner wird die soziale Revolution der Bauerngemeinde die landwirtschaftlichen Maschinen liefern. Für die sozialistische Verwaltung kommt daher nicht wie jetzt die Zahlungsfähigkeit des einzelnen Bauern in Betracht, sondern der Umstand, dass durch den Maschinenbetrieb entweder das Produkt der Landwirtschaft selbst versteigert wird, oder Arbeitskräfte eingespart werden, welche anderweitig Verwendung finden und so eine Steigerung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts herbeiführen. Stimmt die Rechnung, so macht sie damit ein profitables Geschäft. Das Ergebnis ist, dass die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit reicher geworden ist, dass mehr Mittel zur Verfügung stehen, um die verschiedenartigen Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Die sozialistische Verwaltung wird also die Maschinen in ihren Fabriken herstellen lassen und sie an die Bauerngemeinden abliefern. Was in dieser Beziehung geleistet werden kann, davon verschafft man sich eine ungefähre Vorstellung, wenn man bedenkt, was der gegenwärtige Staat für Kanonen, Panzerschiffe etc. ausgibt. Aus gleichen Gründen wird die sozialistische Zentralverwaltung für die Beschaffung des Düngers sorgen, und zwar in zweierlei Weise, einmal durch den Bezug von Mineraldung aus dem Auslande, zweitens durch die rationelle Verwertung der städtischen Abfälle. Wie bei alledem die Abrechnung zwischen Industrie und Landwirtschaft vor sich gehen wird, gehört in das Gebiet der Organisation des gesellschaftlichen Tauschprozesses, die sich als Folge der sozialen Revolution herausbilden wird muss. Das wollen wir hier nicht erörtern. Für uns handelt es sich nur um die wirtschaftlichen Konsequenzen, welche sich aus der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also einer bestimmten gesetzgeberischen Maßregel, die wir vorzunehmen gedenken, mit Notwendigkeit ergeben.

Abschaffung der Schulden, mindestens Herabminderung der Zinsenlast, Erweiterung der landwirtschaftlichen Betriebsfläche der Gemeinde, allen Anforderungen entsprechende maschinelle Ausrüstung, Düngerversorgung — das bietet der arbeitenden Landbevölkerung die soziale Revolution. Demgegenüber steht der ”antikollektivistische Bauernschädel”, die Anhänglichkeit des Bauern an die ihm privateigentümlich gehörende Parzelle, auf der er nach seinem Belieben herumwirtschaftet. Das letztere wird nun freilich aufhören. Der einzelne Bauer wird sich den Anordnungen der Gemeinde bzw. der Genossenschaft fügen müssen, ja noch mehr, es wird, was den Getreidebau betrifft, ein allgemeiner Wirtschaftsplan für das ganze Land entworfen werden müssen. Das ist unumgänglich. Der größte wirtschaftliche Schaden des landwirtschaftlichen Kleinbetriebes liegt gerade darin, dass jeder dieser Millionen Betriebe in seinem Bestreben nach Selbständigkeit ein wirtschaftliches Mosaik darstellt, in der weder die natürlichen noch die technischen Produktivverhältnisse berücksichtigt werden können. Es wird also auf Grund der wissenschaftlichen Feststellung der Boden-, Bewässerungs- und klimatischen Verhältnisse ein Landwirtschaftsplan für das ganze Land entworfen werden. Es werden die geographischen Grenzen für den Anbau der einzelnen Feldfrüchte gezogen werden, der Fruchtwechsel wird bestimmt werden, es wird bestimmt werden, wo der Dampfpflug zu gehen hat, und Berieselungs- und Entwässerungsarbeiten werden von er allgemeinen Landesverwaltung vorgenommen werden. Das alles beruht nicht auf einer Laune, sondern auf der wirtschaftlichen bzw. produktiven Notwendigkeit. Wenn wirklich, wie mache glauben, der landwirtschaftliche Kleinbetrieb noch immer rentabel wäre, dann hätte die Sache erst recht keine Schwierigkeiten und die Vergesellschaftung des Grund und Bodens würde den Bauernstand auch nicht im geringsten antasten. Aber so ist es nicht. Was folgt nun daraus? Dass die Zentralisation des Betriebes nebst den von uns dargelegten allgemeinen wirtschaftlichen Maßnahmen zu einer enormen Steigerung der Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit führen wird. Und wer ist es, dem diese Opulenz in erster Linie zu Gute kommen wird? Der Bearbeiter des Bodens selbst, der Bauer! Und gegenüber diesen immensen materiellen Vorteilen, welche die sozialistische Gesellschaft dem Bauern gewährt, steht auf der anderen Seite nichts als sein Privateigentums-Idealismus. Ist da so schwer zu bestimmen, wie die Entscheidung schließlich ausfallen wird? Vollends aber diejenigen, welche schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die Bauern in Genossenschaften zu organisieren können glauben, würden eine geradezu idiotenhafte Inkonsequenz zeigen, wollten sie leugnen, dass die soziale Revolution, welche, wie wir dargelegt haben, wirtschaftliche Momente von gewaltiger Tragweite zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Genossenschaftsbildungen ins Feld führen wird, hier auf der ganzen Linie den Erfolg davon tragen muss.

Die Schwierigkeiten bestreiten wir nicht, aber sie liegen auf anderem Gebiete. Die größte Schwierigkeit besteht in der relativen landwirtschaftlichen Übervölkerung. Nicht dass der Boden die Landbevölkerung nicht mehr ernähren kann, aber es sitzen jetzt tatsächlich auf dem Lande mehr Leute als Arbeitskräfte notwendig sind, um die landwirtschaftliche Arbeit zu leisten — trotzdem die Junker über Arbeitermangel klagen. Praktisch genommen: wenn wir den Grund und Boden vergesellschaften und den konzentrierten Betrieb durchführen, so wird ein Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft überflüssig werden. Wo hier der Ausweg? Nun, diese Übervölkerung existiert auch jetzt, und sie drängt in die Fabriken, drückt die Löhne, schindet sich als Hausindustrielle ab, belastet die Familie, oder wandert aus. In der sozialistischen Gesellschaft werden sie sich einfach in die Industrie überführen lassen. Hier wird man immer Arbeitskräfte brauchen, z.B. auch zu dem Zwecke, um die Maschinen zu bauen, mit denen die Landwirtschaft ausgerüstet werden soll. Aber anderseits werden auch in der Landwirtschaft sich weit mehr Arbeitskräfte unterbringen lassen als jetzt veranschlagt werden kann, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Der Getreidebau wird nicht nur konzentriert, sondern auch intensiviert werden; 2. Die Anbaufläche wird erweitert werden. Für beides gibt der absolute Brotmangel Europas einen wirksamen Ansporn 3. Die Viehzucht, die Milchwirtschaft, der Gemüse- und Gartenbau, der Obstbau werden sich mit der steigenden Wohlhabenheit der Bevölkerung erweitern.

Dass das eine sehr komplizierte Entwicklung ist, wer sieht das nicht ein? Aber unsere Aufgabe war auch nicht, nachzuweisen, dass eine neue Gesellschaftsordnung sich ebenso leicht mit den Fingern verfertigen lässt wie eine Papiertüte! Worauf es uns ankam, war, zu beweisen, dass für diese ganze große Entwicklung erst die politischen Grundlagen geschaffen werden müssen und dass es an uns liegt, das zu vollbringen. Wir müssen die soziale Revolution erkämpfen — die Niederwerfung des kapitalistischen Staats, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel — damit jene sozialistische Entwicklung der Landwirtschaft sich erst entfalte. Reibereien und Streitigkeiten wird es geben in Massen, aber dass diese Kämpfe zu dem in voraus bestimmten Ziel führen müssen dafür gibt uns Gewähr die soziale Gliederung der landwirtschaftlichen Bevölkerung und ihre Stellung zur Gesamtheit. Den zirka 300.000 Großgrundbesitzern stehen zusammen an Kleinbauern und Lohnarbeitern 7.900.000 gegenüber. Danach ist der Ausfall des ersten Kampfes, gegen den Großgrundbesitz, unzweifelhaft. Die 2.260.000 Kleinbauern sind materiell an der sozialen Revolution interessiert, allein Tradition, Borniertheit und Interessenkonflikte im einzelnen (bei der Betriebsleitung, Bestimmung der Betriebsfläche etc.) werden hier viele Hindernisse der Entwicklung schaffen. Doch stehen hinter diesen 2,2 Millionen selbständigen Kleinbauern 5.600.000 landwirtschaftliche Lohnarbeiter, welche die sozialrevolutionäre Armee der Landwirtschaft bilden. Wir haben also in der Landwirtschaft selbst eine erdrückende sozialrevolutionäre Majorität, die allerdings in den verschiedenen Landesteilen ungleich stark vertreten sein wird. Aber dazu kommt noch, dass die Landgemeinden bereits von industrieller Bevölkerung durchsetzt, die auch ein Wort mitzusprechen haben wird, und dass hinter den ganzen die große industrielle Majorität steht, konzentriert in den Städten, im Besitze der politischen Macht, der Eisenbahnen, der industriellen Produktionsmittel und der Armee!

Wir müssen jetzt unsere Untersuchungen über die sozialrevolutionäre Armee zusammenfassen.

VI. Die soziale Gliederung außerhalb der Produktion

Wir haben die Art, wie Ed. Bernstein diesmal die soziale Statistik behandelt, vulgär genannt und wir waren uns dabei voll bewusst, dass dies für jemand, die den gewaltigen Gedankengängen eines Karl Marx zu folgen gewöhnt ist, der schwerste Vorwurf sein muss. Weil nun in dieser Statistik das Schwergewicht der Bernsteinschen Kritik liegt, so haben wir sie einer genauen Prüfung unterworfen. Und wir glauben, diesen Eindruck wird wohl jeder aus unseren Darlegungen gewonnen haben, dass das Bernsteinsche Maß an die wichtigsten Erscheinungen der wirtschaftlichen Entwicklung gar nicht einmal heranreicht und dass zwischen den paar Zahlen, mit denen er die Undurchführbarkeit der sozialen Revolution hat beweisen wollen, eine komplizierte Welt von Zusammenhängen und Abhängigkeiten steckt. Die gesellschaftliche Entwicklung lässt sich nicht scheffelweise abmessen, nicht lotweise abwiegen. Bernstein aber scheint jetzt zu glauben, die paar plumpen Gewichtssteine einer bürokratischen Betriebs-Statistik reichen aus, um die revolutionären Kräfte der Gesellschaft — die Produktionsentwicklung, die Bevölkerungsvermengung und -differenzierung, die politischen Umformungen, die Umgestaltung der öffentlichen Meinung, die neu heranwachsende und alles von Grund auf umwälzende Welt von Interessen und Gegensätzen, Tätigkeiten und Bestrebungen — abzumessen. Wenn dem so wäre, wenn die Feststellung, ob die Betriebe mit 50 oder mit 51 und mehr Beschäftigten überwiegen, genügte, um die soziale Entwicklung zu bestimmen, dann wäre die Politik die dümmste Beschäftigung in der Welt, denn man brauchte dazu weder Witz noch Kenntnisse noch Energie noch Initiative noch Wagemut.

Wenn nun die Betriebsstatistik keineswegs die wirtschaftliche Gliederung der Gesellschaft voll zum Ausdruck bringt, so deckt sich diese ihrerseits noch nicht mit der sozialen Gliederung. Denn es gibt gesellschaftliche Stellungen, die in keinem direkten Zusammenhang mit der Güterproduktion stehen. Bevor wir die Resultate unserer Untersuchung der sozialen Gliederung Deutschlands zusammenfassen, müssen wir deshalb nach dieser Richtung hin unsere berufsstatistischen Angaben ergänzen.

Die Berufsstatistik gibt für 1895 unter Berufsabteilung D ”Häusliche Dienste und Lohnarbeit wechselnder Art” 432.491 Personen an. Auf die eigentliche Lohnarbeit entfallen davon 200.919, die offenbar der allgemeinen Lohnarbeiterklasse zuzuzählen sind. Der Rest, 231.572, sind Dienstboten, die nicht bei ihrer Herrschaft wohnen. Zu diesen kommt noch die allgemeine Klasse der Dienstboten mit 1.339.346, zusammen also 1.570.888 [1.570.918]. davon sind 1.496.720, also rund 1½ Millionen Dienstmädchen. Diese 1½ Millionen weibliche Personen, von denen mehr als 96 Prozent ledig und 55,5 Prozent über 20 Jahre alt sind, werden uns vielleicht mehr Schwierigkeiten bereiten als die biederen Herren Handwerksmeister. Wir meinen die Frage, wo und wie diese Bevölkerung unterzubringen wäre. So weit sich die Sachlage überblicken lässt, wird ein Teil von ihnen in die Familien zurückkehren, aus denen sie jetzt durch die Not herausgetrieben wurden. Rechnen wir hierher alle Dienstmädchen im Alter von unter 18 Jahren, so macht das 40 Prozent der Gesamtzahl. Ein anderer Teil wird Unterkunft finden, weil die Aussichten auf Verheiratung sich vermehren werden. Da das Leben in den [Gast-]Wirtschaften sich erweitern und gesittetere Gestalt annehmen wird, so wird ein weiterer beträchtlicher Teil hier unterzubringen sein. Der Rest aber wird wohl in den Privathaushaltungen verbleiben. Denn die Dienstbotenfrage ist nicht nur eine Frage der Ausbeutung, sondern zugleich eine Frage der Unzulänglichkeit der Arbeitskräfte, über welche die jetzige Einzelfamilie verfügt. Bis nun durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Familie bzw. die Hausfrau von einem Teil der gewaltigen Arbeitsbürde, die sie in der Küche, Haus und Kinderstube zu tragen hat, entlastet wird, braucht sie besonders in kinderreichen Familien eben die Unterstützung des Dienstmädchens. Der Dienstbotenstand, die Entrechtung, die Ausbeutung wird aufhören, aber bleiben wird noch für geraume Zeit die Eingliederung von Personen, die außerhalb verwandtschaftlicher Beziehungen mit den Familienvorständen stehen, in die Familie. Typen eines derartigen Zusammenlebens in der Haushaltung, begründet auf gegenseitiger Nützlichkeit und Achtung, sind ja auch jetzt schon in Amerika und Australien entwickelt. Dass hier eine Schwierigkeit vorliegt, leugnen wir, wie gesagt, nicht, aber das ist auch eine Schwierigkeit, mit der wir stets zurechnen haben werden — oder glaubt man denn wirklich, dass auch in der Haushaltung der Familie, wie sie die kapitalistische Gesellschaft kennt, die Zeit der Bernsteinschen Großbetriebe mit mindestens 200 Beschäftigten kommen wird?

Wir kommen zum Militär- und Zivildienst. In der Armee und in der Kriegsflotte werden 27.966 Offiziere und Beamte mit Offiziersrang verzeichnet. Das ist das Berufsmilitär, dessen Klassenstellung keiner Erläuterung bedarf. Ihnen gegenüber 603.010 Gemeine und Unteroffiziere. Die politische Bedeutung dieser Masse des Heeres kann nur aus der allgemeinen sozialen Gliederung und politischen Entwicklung abgeleitet werden und muss aus der berufsstatistischen Betrachtung ausscheiden.

Von den Beamten erwähnen wir zunächst die Lehrer und was sonst mit den Schulen und wissenschaftlichen Instituten zusammenhängt. Es sind zusammen 232.848 Personen, wovon 218.009 Direktions- und Lehrpersonal. Nun, diesen wird es an einem Tätigkeitsfeld, auf dem sie ihr Wissen und ihre Initiative entwickeln können, nicht fehlen, und auch nicht an allgemeiner Achtung und an einer auskömmlichen Existenz. Das Elend der Volksschule und der Volksschullehrer würde endlich aufhören. Nirgends bricht sich die Demokratie so schnell Bahn wie in der Schule. Dass es sich hier nicht um Phantasien handelt, zeigen die Schweiz, Nordamerika und Australien.

Die Masse des Verwaltungs- und Justizbeamtentums umfasst 292.909 Personen. Das ist der Apparat, mit dem die ausgebeutete Klasse regiert wird, die im Solde des Staats stehenden Werkzeuge des Kapitals. Für Verwaltung und Rechtspflege wird man stets zahlreiche Persönlichkeiten brauchen, aber diese, die der herrschenden Klasse entstammen, und durch eine fein entwickelte erzieherische und wissenschaftliche Methodik zu Beherrschungswerkzeugen des Kapitals herausgebildet worden sind, können wir nicht verwenden. Unsere erste Aufgabe wird vielmehr sein müssen, sie abzusetzen und durch vom Volke gewählte Vertrauenspersonen zu ersetzen. Das ist sehr gut möglich, und wenn die juristische Kasuistik dabei etwas kurz abschneidet, so ist das nur zu begrüßen.

60.176 Personen sind in ”Kirche und Gottesdienst” tätig. Die Bedeutung der Kirche nach der Zahl der Geistlichen abzuschätzen, wäre ebenso lächerlich, wie etwa die Rolle des Kredits resp. des Geldkapitals nach der Zahl des in den Banken und Börsen beschäftigten Personals. Hier handelt es sich aber vor allem noch um eine Bewegung der Geister, und wie nach dieser Richtung der Sturm und Drang der sozialen Revolution voraussichtlich wirken wird, ist zwar sehr verlockend zu schildern, muss aber an dieser Stelle unterbleiben.

Die freien Berufsarten! 122.138 in ”Gesundheitspflege und Krankendienst” Erwerbstätige. Davon sind 63.073 Wartepersonal und sonstiges Dienstpersonal, das in weitaus größten Teil von den verschiedenen Krankenanstalten der Gemeinden und der Wohltätigkeitsgesellschaften absorbiert wird; dazu noch 5.230 Verwaltungspersonal. Die Dinge liegen hier klar zu Tage. Hier handelt es sich nicht um grundsätzliche Änderungen, sondern um Förderung, Erweiterung, Verbesserung in jeder Beziehung. Es bleiben 53.835 Ärzte und Hebammen, von denen auch ein bedeutender Teil im Gemeindedienst steht und von den ersteren ein sehr großer Teil im Dienst der Arbeiterkrankenkassen. Seit der Einführung der Krankenversicherung zweifelt kein ernster Mensch mehr an der durchgehenden gesellschaftlichen Organisation des Arzneiwesens.

In Musik, Theater, Schaustellungen aller Art, als Stenographen, Privatsekretäre, Schreiber, Rechner, als Privatgelehrte, Schriftsteller, Journalisten sind im deutschen Reiche rund 80.000 Personen tätig, worunter 11.000 Frauen. Für alle diese Elemente ist die soziale Revolution, die eine Unendlichkeit der Interessen in den Massen entfesseln wird, die alle zum öffentlichen Ausdruck, sei es in der Publizistik, sei es in den gesetzgebenden Körperschaften oder in den Versammlungen kommen müssen, die folglich einen großen Bedarf an Zeitungsschreibern, Volks- und Parlamentsrednern und Agitatoren erzeugen wird, die erst die Massen zum kulturellen Genuss, wie ihn Theater, Musik, Kunst, Literatur bieten, aufrütteln, die der ganzen Öffentlichkeit einen stärkeren Pulsschlag verleihen wird, erst den Boden abgeben, auf dem sie sich in all ihrer Größe wie in all ihrer Nichtswürdigkeit entwickeln können.

Es bleiben uns noch die ”ohne Beruf und Berufsangabe”. Es sind 2.142.808 Selbständige, mit ihren Angehörigen und Dienern eine Bevölkerungsschicht von 3.327.089. Zieht man aber davon die Anstaltsinsassen, Studierenden, die nicht in ihrer Familie wohnen etc. ab, so bleiben von den Selbständigen nur noch 1.288.484 Leider lässt sich auf Grund des uns vorliegenden statistischen Materials eine weitere Zergliederung dieser letzten Zahl nicht vornehmen. Scher sind darunter die Invaliden- und Altersrentenempfänger enthalten. Für den 31. Dezember 1895 gibt die Reichsstatistik die Zahl der Rentenanteile auf 318.195 an. Für die Gesamtzahl der selbständigen Berufslosen, also einschließlich der Anstaltsinsassen lässt sich noch die Altersgliederung feststellen. Danach waren unter 20 Jahre alt 406.179, über 60 Jahre 1038.909: im eigentlichen erwerbsfähigen Alter von 20 bis 60 Jahren befanden sich unter den Berufslosen 697.712. Es sind darunter Hauseigentümer , die von ihren Mietzinsen leben, Aktien- und Hypothekenbesitzer, soweit darin ihre Haupteinnahmequelle, Gauner, Diebe etc., soweit sie in den Gefängnissen sitzen, ein gut Teil der Studierenden auf den Universitäten, schließlich Sieche, Krüppel, Lahme, Insassen der Tollhäuser — solche, die nicht produktiv tätig sein können, und solche, die es nicht sein wollen, weil sie es ”nicht brauchen”.

Dass die sozialistische Gesellschaft für die Arbeitsunfähigen oder solche die sich zur Arbeit ausbilden, erst recht zu sorgen haben wird, liegt auf der Hand. Es wird niemand einfallen, diese Leute ihrer Renten zu berauben. Anders freilich steht es mit den städtischen Hauseigentümern, die sich selbst als Rentiers bezeichnen, und den reichen ”Couponabschneidern”. Es ist interessant, ihre Zahl zu ermitteln, weil sie gewiss zu den erbittertsten Gegnern der sozialen Umgestaltung gehören. Nun ist in Betracht zu ziehen, dass die Herren Aktienbesitzer von uns bereits zum Teil mitgerechnet worden, als wir die Kapitalistenklasse in Industrie und Handel berechnet haben. Denn wir hatten die Zahl der Betriebe vor uns, nicht die Zahl der Eigentümer. Wenn nun jede Aktiengesellschaft viele Aktionäre besitzt, so befindet sich doch der Hauptteil der Aktien in den Händen weniger, und andererseits legt jeder Rentier sein Kapital in mehreren Unternehmungen an. Da es sich nicht um Aktienbesitzer überhaupt, sondern nur um jene, die es ausschließlich sind, handelt, so werden sich beide Zahlen wohl so ziemlich decken. Wenn wir nun die Zahl jener reichen Rentiers — hauptsächlich großstädtische Hauseigentümer — die nicht anderweitig mitgerechnet wurden, mit 200.000 angeben, so wird diese, allerdings willkürliche, Annahme kaum als zu niedrig gegriffen betrachtet werden können.

So wären wir denn mit unserer Rechnerei zu Ende. Unsere Auseinandersetzung mit Ed. Bernstein wird sehr umfangreich. Die Schuld trifft uns nicht. Der Vorwurf wäre gegen Bernstein zu erheben, dass er sich über die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen unseres Programms, die bereits eine Wissenschaft bilden, ja die komplizierteste aller Wissenschaften, mit ein paar statistischen Angaben, die jeder Studiosus aus dem ersten statistischen Kolleg eines deutschen Ökonomie-Professors davonträgt, hat hinwegsetzen wollen. Für uns aber erwuchs daraus, dass wir es in Bernstein mit einem Manne zu tun haben, der selbst fast zwei Jahrzehnte unsere Grundsätze theoretisch und praktisch verteidigte, die Notwendigkeit, alles in Betracht zu ziehen, was mit Bernsteins Kritik in wichtigem Zusammenhang steht, und so wird unsere Antikritik zu einer Revision der Grundbegriffe der Parteipolitik. Die Arbeit war schon längst notwendig, und wenn wir sie auch viel lieber bei anderem Anlass getan hätten, so blieb uns doch in diesem Falle keine Wahl übrig. Wir werden nun noch die gewonnenen statistischen Grundlagen zu einem Gesamtbild verarbeiten und daraus die allgemeinen politischen Konsequenzen ziehen, dann die zweite Grundlage der Bernsteinschen Kritik — die Krisentheorie — einer Prüfung unterwerfen, schließlich die taktischen Schlussfolgerungen der Kritik und Antikritik geben. Das erfordert der Ernst der politischen Situation. Politische Kleinkinder können das freilich nicht begreifen. Aber ”Nestles Kindermehl” wird in der ”Sächsischen Arbeiter-Zeitung” seit langem nicht mehr fabriziert, sondern anderswo.

VII. Die Klassengliederung des Deutschen Reichs

Erst nach einem langen Weg theoretischer Betrachtungen und statistischer Untersuchungen im Einzelnen gelangen wir dazu, eine zahlenmäßige Darstellung der sozialen Gliederung Deutschlands vom Gesichtspunkte der sozialrevolutionären Entwicklung zu geben, und das geschieht selbstverständlich unter allem Vorbehalt. Die geschichtlich wirkenden Kräfte zu ermitteln und sie zu berechnen, sind zwei verschiedene Dinge.

Nach unseren Ermittlungen zählt die Kapitalistenklasse

In der Industrie

80.000 Erwerbstätige

Im Handel und Verkehr incl. Gastwirtschaft

110.000 Erwerbstätige

In der Landwirtschaft (Großgrundbesitzer)

25.000 Erwerbstätige

Rentiers

200.000 Erwerbstätige

Zusammen

416.000 Erwerbstätige

Das macht 1,82 Prozent der Erwerbstätigen. Um diese Zahl zu kontrollieren, nehmen wir die Einkommensstatistik zur Hilfe. Für das Reich im Ganzen ist leider ein Vergleich nicht möglich, und die einzelnen Staaten müssen Abweichungen zeigen, je nach dem Grad ihrer industriellen Entwicklung. Nehmen wie jedoch den größten deutschen Staat, Preußen. Preußen zählt 60 Prozent der Reichsbevölkerung, rechnen wir ihm 60 Prozent der von uns ermittelten Gesamtzahl der Kapitalistenklasse an, so macht das 259.600. Rechnen wir zu der reichen Klasse alle, die ein Einkommen von über 6000 Mark jährlich beziehen, so beträgt ihre Zahl nach der soeben im ”Reichsanzeiger” veröffentlichten Steuerveranlagung für 1897/98 in Preußen 121.824. Die von uns ermittelte Zahl der preußischen Kapitalistenklasse ist also mehr als doppelt so groß — ein Beweis, dass sie tatsächlich diese Klasse in ihrem weitesten Umfange umfasst, dass wir nicht zu niedrig, sondern viel zu hoch gerechnet haben. Um uns eine doppelte Sicherheit zu verschaffen, sehen wir uns noch die Einkommensstatistik Sachsens an. Da in Sachsen die höchste Konzentration der industriellen Tätigkeit Deutschlands stattfindet, so wäre es falsch, hier mit der absoluten Zahl der Bevölkerung zu rechnen. Wir ziehen deshalb die Zahl der Erwerbstätigen zum Vergleich. Sachsen zählt 1.584.794 Erwerbstätige von den 20.770.875 Erwerbstätigen des Reiches (abzüglich der Berufslosen), also 7,6 Prozent. Demnach beziffert sich nach unserer Rechnung Sachsens Kapitalistenklasse auf 31.616. Die Skala der sächsischen Einkommenssteuer enthält keine Abstufung von rund 6.000 Mark. Wir greifen deshalb weiter nach unten, rechnen sämtliche Zensiten mit einem Einkommen von über 5.800 Mark und erhalten die Zahl 27.100 — um 4.500 weniger, als die von uns vorausbestimmte. Selbst für das hochkapitalistische Sachsen ist also unsere Zahl noch viel zu groß. Dass aber ein Einkommen von 500 Mark monatlich als Mindestmaß eines kapitalistischen Einkommens gerechnet werden muss, wird kaum bezweifelt werden. Die amtliche Statistik zählt zu der reichen Klasse erst die Einkommen von 9.600 Mark jährlich an. Wir können also zuversichtlich annehmen, dass wir die Zahl der ”Expropriateure”, die wir unsererseits zu ”expropriieren” haben werden, die uns also bei Vergesellschaftung der Produktionsmittel, bei Ablösung der Schulden etc. aus grundsätzlichen materiellen Interessen bis aufs äußerste werden entgegentreten müssen, mit 416.00 nicht unterschätzt, sondern vielmehr überschätzt haben.

Wenden wir uns den sozialen Mittelschichten zu. Da ist zu unterscheiden zwischen dem alten und dem neuen Mittelstand.

Der alte Mittelstand — das sind die Bauern, Handwerker und kleinen Kaufleute.

Wir haben die Zahl der Großbauern mit 282.000 angegeben. Wir wollen auch hier die Einkommensstatistik zur Kontrolle heranziehen. Für Preußen beträgt nach der Zählung von 1895 die Zahl der Großbauern 158.115. Die preußische Einkommensstatistik weist auf dem Lande Zensiten mit einem Einkommen von über 6.000 Mark 21.411 auf. Demgegenüber steht die Zahl der preußischen Großgrundbesitzer (über 100 ha), die wir bereits zu der Kapitalistenklasse gerechnet haben, mit 20.390. Wenn beide Zahlen sich nicht ganz decken, so ist zu berücksichtigen, dass ”auf dem Lande” ja nicht nur landwirtschaftliches, sondern auch industrielles Einkommen versteuert wird. Das Einkommen der Großbauern fällt daher sicher in die Einkommensstufen, die geringer sind als 6.000 Mark. Die preußische Statistik verzeichnet auf dem Lande in den Steuerstufen 3.000 bis 6.000 Mark nur 60.464 Zensiten — danach verbleiben noch mindestens 127.650 Großbauern, das sind zwei Drittel der Gesamtzahl, deren Wirtschaftsertrag, den sie zur Existenz brauchen, alles in allem gerechnet und die Naturalerträge in Geld umgerechnet, weniger als 3000 Mark jährlich beträgt. Wir haben also auch hier nicht zu gering gerechnet.

Das selbständige Handwerkertum, das noch ein Interesse an der jetzigen Produktionsweise hat, haben wir mit der Höchstzahl von 250.000 angenommen. Dazu 760.000 kleine Kaufleute und Gastwirte. Die Summe dieser Überreste des alten städtischen Mittelstandes beträgt also rund 1 Million.

Der neue Mittelstand wird gebildet durch

Das höhere technische und Verwaltungspersonal mit

650.000

Administratoren, Justizbeamte und Offiziere

320.000

Schullehrer

220.000

Freie Berufsarten

200.000

Handwerke, welche durch die industrielle Entwicklung neu gebildet bzw. in veränderter Form aufrechterhalten werden

400.000

Zusammen rund

1.800.000

Zwischen dem neuen und dem alten Mittelstand bestehen tiefgreifende soziale Unterschiede, die wir kurz skizzieren wollen.

Der alte Mittelstand besteht aus selbständigen Warenproduzenten — der neue produziert keine Waren und hat nichts zu verkaufen als seine Arbeitskraft bzw. seine Intelligenz, für die er einen Lohn erhält, den er Gehalt nennt. Der alte Mittelstand vertritt eine untergehende Produktionsform und eine längst verworfene politische Organisation — der neue besteht aus den Geschäftsführern der modernen Industrie und des modernen Staates. Der alte Mittelstand vertritt sein besonderes Klasseninteresse — der neue Mittelstand hat kein eigenes Klasseninteresse. Der alte Mittelstand nistet in den entlegensten Winkeln — der neue ist gerade in den Zentren der Industrie, des Verkehrs und der Politik zu Hause. Der alte Mittelstand ist borniert, unwissend, ängstlich in seinem Beginnen, aber von zäher Ausdauer — der neue ist — vielleicht mit Ausnahme des Beamtentums — aufgeklärt, kenntnisreich, energisch, strebsam — er umfasst die Intelligenz des Landes.

Um die materielle Lage des städtischen Mittelstandes zu bestimmen, müssen wir uns wieder der Einkommensstatistik zuwenden. Es wird nicht bestritten werden, dass von der ganzen Gruppe das höhere technische und Verwaltungspersonal, das höhere Beamtentum und die liberalen Berufsarten die höheren Einkommen beziehen. Das macht zusammen 1.170.000 — rechnen wir nur 1 Million, da unter den Beamten wie den liberalen Berufsarten sich ein Teil Hungerleider befindet. Davon entfielen auf Preußen 600.000. Die Statistik des städtischen Einkommens in Preußen weist in den Einkommensstufen 3.000-6.000 Mark 163.040 Zensiten auf. Darin stecken aber noch mindestens 76.000 von den 127.000 Kapitalisten, die nach unserer früheren Rechnung von den höheren Einkommensstufen nicht absorbiert wurden. Es bleiben also höchstens 80.000 Zensiten frei in diesen Einkommensklassen — folglich haben 820.000 Personen von dem Beamten- und Verwaltungspersonal ein Einkommen, das geringer ist als 3.000 Mark. Von den 80.0000 Erwerbstätigen des ”neuen Mittelstandes”, die noch verbleiben, entfallen auf Preußen 480.000. Zusammen mit den eben gewonnenen 520.000 macht das rund 1 Million, die ein Einkommen von weniger als 3.000 Mark erwerben. Die Zahl der Zensiten mit einem Einkommen von 900 bis 3.000 Mark beträgt in Preußen 1.390.703. Es verbleiben also nach Abzug der Million nur 391.000 Zensiten in dieser Klasse. Da wir die Zahl des alten städtischen Mittelstandes ebenfalls mit einer Million berechnet haben, wovon auf den Teil Preußens 600.000 entfallen, so müssen, sofern Adam Riese nicht trügt, über 200.0000 Erwerbstätige des städtischen Mittelstandes ein Einkommen von weniger als 900 Mark jährlich verzehren, also vollkommen verarmt sein. Der einzige Einwand, den man dagegen erheben kann, ist, dass ein Teil der Erwerbstätigen dieser Berufsklassen sich auf dem Lande befindet — dann aber muss sich um so weniger günstig die Lage des ländlichen Mittelstandes gestalten.

Unsere einkommensstatistischen Vergleiche haben gezeigt, dass wir auch die Grenzen der sozialen Mittelschichten eher zu weit als zu eng gezogen haben. Nun gibt es aber auch Gesellschaftsschichten, die in ihrer materiellen Lage bereits tief unter die genannten herabgedrückt sind, aber aus formalen Gründen noch immer zum ”Mittelstand” gerechnet werden, obwohl sie vielfach nach ihren Einkommensverhältnissen noch hinter manchen Schichten der reinen Fabrikarbeiter zu stehen kommen. Das ist vor allem das selbständige Kleinbauerntum. Wir haben es bereits wirtschaftlich charakterisiert und verweisen auf unsere diesbezüglichen Ausführungen. Es ist eine dumpfe Masse, die je nach der Weltmarktentwicklung bald rascher, bald langsamer von der Fabrik absorbiert bzw. aus dem Land herausgedrängt wird, deren Verelendung aber auf jeden Fall unaufhaltsam fortschreitet. Wir lassen die Kleinbauern als eine Schicht für sich bestehen. Ihre Zahl beläuft sich nach unserer Rechnung auf 2.200.000.

Ferner haben wir unter den Handwerkern 1.200.000 ermittelt, die wir nach ihrer wirtschaftlichen Stellung der Lohnarbeiterklasse zugezählt haben. Es sind die Schneider, Näherinnen, Schuhmacher, Handweber, ein Teil der selbständigen Mauer etc. Die Einkommensstatistik rechtfertigt durchaus unser Vorgehen. Denn selbst diejenigen Handwerkerschichten die wir dem städtischen Mittelstand zugerechnet haben, lieferten uns für Preußen allein eine Überzahl von 200.000, die das proletarische Einkommen von weniger als 900 Mark jährlich beziehen müssen. Folglich fallen diese 1.200.000 sämtlich unter diese Grenze. Selbstverständlich handelt es sich dabei um die Allgemeinheit, nicht um den Einzelnen.

Die Rechnung für das Proletariat stellt sich danach folgendermaßen:

Industrielles Proletariat

6.000.000

Tagelöhner wechselnder Art

200.000

Handwerker, mit dem industriellen Proletariat solidarisch

1.200.000

Handelsproletariat

2.000.000

Agrarisches Proletariat

5.620.000

Zusammen

15.000.000

Das ist die wirtschaftliche Gliederung des Reiches. Es hieße nun durchaus schablonenhaft verfahren, wollte man die Stellung der einzelnen sozialen Schichten zur sozialen Revolution einfach dadurch beurteilen, ob sie rechts, links oder in der Mitte stehen. Unsere Erörterungen der einzelnen sozialen Gruppen haben vielmehr gezeigt, dass es hier Unterschiede gibt. Nach der von uns in den einzelnen Darstellungen befolgten Grundsätzen gelangen wir zu folgender Zusammenfassung:

Armee des Kapitals


Im Verhältnis zur Gesamtzahl

Kapitalistenkasse

416.000

2 Prozent

Im Dienste des Kapitals:



Verwaltungspersonal 650.000



Beamte und Offiziere 320.000

970.000

4,8 Prozent

Handwerker

250.000

1,2 Prozent

Zusammen

1.636.000

8 Prozent

Armee des Proletariats



Lohnarbeiter und mit ihnen solidarische Handwerker

15.000.000

73,5 Prozent

Vom Kapital ruinierte Gesellschaftsschichten, die jedoch noch nicht in die Lohnarbeiterklasse übergeführt worden sind



Kleinbauern

2.200.000

10,7 Prozent

Kleine Betriebsinhaber in Handel und Verkehr

760.000

3,7 Prozent

Mittelschichten, welche die meiste Unabhängigkeit vom Kapital bewahrten, doch erst durch die soziale Revolution zur vollen Machtentfaltung gelangen:



Freie Berufsarten

200.000


Schullehrer

220.000


Modernisiertes Handwerk

400.000


Zusammen

820.000

4,1 Prozent

VIII. Die Bedingungen der sozialen Revolution [Soziale Revolution und Sozialismus]

Es sind nach genauer Rechnung kaum 2 Prozent der Erwerbstätigen, welche die gesamte Bevölkerung des Deutschen Reichs wirtschaftlich und politisch beherrschen. 15.000.000 Lohnarbeiter werden von den 400.000 Kapitalisten direkt ausgebeutet und die noch verbliebenen paar Millionen Kleinbauern, kleinen Kaufleute und Kleingewerbetreibenden sind von ihnen total ruiniert, fast an den Bettelstab gebracht. Und um dieses Werk der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Zerstörung zu vollziehen, bedient sich die Kapitalistenklasse eines Mietsheeres von kaum einer Million. Angesichts dieser Zahlen wird man kaum die Frage aufwerfen, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse bereits für die soziale Revolution reif seien, sondern man wird vielmehr fragen: wie kommt es, dass diese so durch Klassengegensätze durchwühlte Gesellschaft noch immer aufrecht erhalten wird? Die Frage ist denn auch öfters gestellt worden. Man verweist besonders darauf, dass Marx und Engels die soziale Revolution längst vorausgesagt haben, und ruft uns zu: seht, das ist doch nicht eingetroffen!

Bald widerlegt man uns damit, dass die Verhältnisse noch unreif seien für die soziale Revolution, bald macht man uns einen Vorwurf daraus, dass die soziale Revolution noch nicht eingetreten ist.

Nun lässt sich nicht bestreiten — und wir sind stolz darauf — dass Marx und Engels bereits vor genau einem halben Jahrhundert den Ruf haben ertönen lassen: ”Proletarier aller Länder, vereinigt euch”, womit sie nicht die Gründung eines Konsumvereins bezweckten, sondern die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Vergesellschaftung der Produktion, dass sie dann der 48er-Bewegung einen sozialrevolutionären Charakter zu verleihen bestrebt waren, dass sie in der Internationale eine Macht haben herausarbeiten wollen, um die soziale Revolution Europas zu vollbringen, und sie in diesem Sinne auch die Pariser Kommune begrüßt haben, dass sie ihren Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie und auf sämtliche sozialistische Arbeiterparteien Europas stets klar entschieden mit aller Energie nach dieser Richtung hin geäußert haben, bis auf ihren letzten Atemzug.

Es sind jetzt kaum zwei Jahre vergangen, seitdem Friedrich Engels tot ist, und so lange er lebte, hat niemand die soziale Einrichtung so genau und umfassend verfolgt und zu deuten verstanden als er, und die statistischen Jahrbüchlein, aus denen jetzt Ed. Bernstein und Dr. Konrad Schmidt, der sich soeben als sein Nachtreter im ”Vorwärts” meldet, ihre Beweise schöpfen, waren auch ihm bekannt. Die ganze Entwicklung der sozialen Statistik, die Marx und Engels seit ihrem ersten Auftreten verfolgten, die Enttäuschungen der politischen Revolutionen, das jahrelange Wüten der europäischen Reaktion, die Zerstörung der Internationale, der Fall der Kommune, die Zerstörungen des deutschen Sozialistengesetzes, nichts vermochte, Marx und Engels von ihren sozialrevolutionären Ansichten abzubringen, alles befestigte sie vielmehr in ihrem Streben und gab ihnen Mut zu neuen Kämpfen. Diese aber, die man als die Schüler von Marx und Engels betrachtete, geraten in Verwirrung und verzweifeln, weil ihnen auf einen Augenblick etwas auffällt, was sie nicht gleich zu deuten vermögen. Nunmehr tut man so, als ob Marx und Engels in der Welt nichts als Fabrikarbeiter und Kapitalisten gesehen hätten und nichts von der Existenz der Bauern und Handwerker gewusst hätten. Das wussten sie ganz genau, ja, niemand hat diese Gesellschaftsschichten wirtschaftlich und politisch besser charakterisiert als Marx und Engels, und nichtsdestoweniger glaubten sie, selbst zu jener Zeit, als das Bauerntum und Handwerkertum noch eine ganz andere Macht waren als heutzutage,, sozialrevolutionäre Maßregeln ergreifen zu können.

Dass von einer vollständigen Etablierung des Sozialismus in den 40er Jahren nicht die Rede sein konnte, wird nicht bestritten. Aber darum war es auch gar nicht zu tun. Ein großer Teil der Forderungen, welche das Kommunistische Manifest schematisch für die ”fortgeschrittenen Länder” aufstellt, war in Deutschland wohl durchführbar, und wenn dieses Programm verwirklicht wäre, so würde das der sozialen Entwicklung Deutschlands zweifellos einen starken Anstoß im Sinne der Verwirklichung des Sozialismus gegeben haben. Nehmen wir z.B. die Forderung der ”Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats”. Sie ist ein Menschenalter später in der Eisenbahnverstaatlichung durch Bismarck verwirklicht worden. Woher kommt es nun, dass die Verhältnisse für die Eisenbahnverstaatlichung, die so lange ”unreif” blieben, plötzlich reif wurden, als Bismarck dafür eintrat? Der Grund liegt darin, das Bismarck die politische Macht besaß, um den Gedanken zu verwirklichen. Wäre die deutsche Revolution nicht durch das Bürgertum verraten und käme die sozialistische Linke ans Ruder, so wäre die Eisenbahnverstaatlichung schon 1848 festgelegt. Und gibt es nun keinen Unterschied zwischen der Eisenbahnpolitik, wie sie Marx plante und wie sie Bismarck durchführte? Die preußische Eisenbahnverstaatlichung trat ein, nachdem die Eisenbahnen fast planlos durch eine Menschenalter sich entwickelten und den Kapitalisten zur Schröpfung und Malträtierung des Publikums dienten, sie fand statt in einer Weise, welche den früheren Aktienbesitzern, die jetzt in Besitzer von Staatsschuldscheinen sich verwandelten, für immer den Hauptteil der Eisenbahneinkünfte sicherte — jährlich mehrere hundert Millionen —, sie wird durchgeführt im Interesse des Fiskus und beruht auf der Ausbeutung der Eisenbahnangestellten und des Publikums. Die sozialrevolutionäre Regierung eines Marx wurde dagegen vor allem für einen planmäßigen Ausbau des Eisenbahnnetzes gesorgt haben, für eine Verbilligung der Fracht, für die materielle Sicherung der Angestellten, für die Amortisation der Schulden. Dass dies aber eminente wirtschaftliche und kulturelle Nachwirkungen haben müsste, liegt auf der Hand. Wenn nun Marx dieses Programm nicht verwirklichte, so rührt das daher, dass es ihm eben nicht gelang, die politische Macht zu erobern.

Es sind zur Verwirklichung des Sozialismus verschiedene Vorbedingungen notwendig.

Erstens muss die Produktionsentwicklung soweit fortgeschritten sein, dass ihre Vergesellschaftung nicht nur durchführbar ist, sondern eine auskömmliche Existenz allen Gesellschaftsgliedern sichert. Dieser Zustand ist bereits seit Ende des vorigen Jahrhunderts erreicht, und den Beweis dafür haben die großen Utopisten erbracht.

Zweitens muss die soziale Zersetzung soweit fortgeschritten sein, dass die soziale Revolution gewinnbringend für die Mehrzahl der Bevölkerung erscheint. Auch dieser Zustand ist bereits längst erreicht, da das Proletariat allein die Mehrzahl der Bevölkerung bildet und die Reste des Mittelstandes in das tiefste Elend heruntergedrückt worden sind.

Drittens muss die sozialrevolutionäre Klasse, das Proletariat, die politische Macht erobert haben.

Warum ist nun dieser politische Effekt bis jetzt noch nicht eingetreten? Das erklären wollen, heißt die politische Geschichte des letzten halben Jahrhunderts schreiben. Im Rahmen gegebener Produktionsverhältnisse und einer gegebenen wirtschaftlichen Entwicklung müssen sich bestimmte Klassenkämpfe herausbilden, aber es sind eben politische Kämpfe und nicht einfach ein Pflanzenwachstumsprozess. Die politische Entwicklung ist ein komplizierteres Gebilde, das sich nicht voraus bestimmen lässt wie eine mathematische Resultante. Sie ist kein Rechenexempel. Kurz, wenn auch die wirtschaftlichen Bedingungen der sozialen Revolution längst vorhaben sind, so ergab sich doch daraus zuerst der sozialrevolutionäre Kampf, die sozialistische Arbeiterbewegung, nicht schon gleich der Sieg des Sozialismus. Dieser will vielmehr erst erfochten werden. Der Sieg muss uns endlich werden, aber wie das noch keineswegs ausschließt, dass wir zuweilen Niederlagen erleiden, sondern nur voraussetzt, dass wir nach jeder Niederlage durch die wirtschaftlichen Verhältnisse zu neuer Macht emporsteigen werden, ebenso sicher ist es, dass wir dann am besten fortkommen, wenn wir es so einzurichten wissen, dass wir möglichst wenig Niederlagen erleiden, aber auch, dass wir kämpfen müssen, wenn wir siegen wollen.

Das jeweilige politische Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung eines Landes hängt von vielen Momenten an, von der Weltmarktsentwicklung, die nicht mit der allgemeinen kapitalistischen Produktionsentwicklung zusammenzuwerfen ist, sondern in ihren Kombinationen und Wechselwirkungen, die fortgesetzt wechseln, stets aufs neue studiert werden muss, von der Stellung dieses Landes innerhalb der Weltmarktsentwicklung, von dem erreichten Grad der Produktionsentwicklung und der sozialen Gliederung, von der politischen Organisation des Landes, von seiner geschichtlichen Tradition dazu, den politischen Rückständen, die es mitschleppt, von seiner geographischen Lage, seiner Größe, Volkszahl und Nationalitätengliederung, von seiner internationalen politischen Stellung, von der bestehenden Regierungsform, von der Politik welche die Regierung einschlägt, von der Entwicklung der politischen Parteien, von dem erreichten Grad der Organisation und der politischen Erkenntnis des Proletariats, von den Erfahrungen, der Energie und — lässt sich leider nicht umgehen — vom Witz der leitenden Personen der Arbeiterbewegung.

Nehmen wir ein geschichtliches Beispiel, um uns diese Welt von Zusammenhängen und Wirkungen, die zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und den politischen Änderungen steckt, zu vergegenwärtigen. Die Einheit Deutschlands ist entstanden auf den Trümmern der 48er-Revolution, durch fortgesetzte Ausplünderung und Aufsaugung der Reichsteile durch Preußen, nach der Mattsetzung Österreichs während des Krimkrieges, da Preußen damals bereit war, Österreich in den Rücken zu fallen, nach dem schleswig-holsteinischen Krieg, nach dem Bruderkrieg von 1866 und endlich der Zertrümmerung Frankreichs 1870/71. So ist jener Prozess der politischen Umbildung Deutschlands verlaufen, dessen Träger der ”eiserne Kanzler” Bismarck war. Man sieht, eine recht holprige Entwicklung: eine politische Revolution, die ganz Europa erfasste, drei große Kriege und ein kleiner, die kleinen Annexionen in der Art des jetzigen Kiau-Tschou-Falles und die unzähligen parlamentarischen Konflikte gar nicht gerechnet. War das alles notwendig? Da es so geworden ist, konnte es offenbar nicht anders werden — aber die wirtschaftlichen Verhältnisse waren zweifellos bereits '48 ”reif” für die Einigung Deutschlands. Die Einigung Deutschlands war schon damals eine wirtschaftliche Notwendigkeit, aber zwischen dem ökonomischen Postulat und dem politischen Effekt lag eben noch eine Welt von politischen Kämpfen. Man weiß, dass die Einigungsversuche des Volkes an dem Widerstand der Fürsten scheiterten, denen eben jene politische Zerklüftung Deutschlands zugute am, welche es zu beseitigen galt.

Anderseits, wenn die Einigung Deutschlands bereits 1848 verwirklicht wäre, welche Folgen hätte das gehabt? Wir wissen jetzt aus Erfahrung, welchen gewaltigen Anstoß der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Deutschlands die Einigung gab. Diese Folgen wären auch 1848 nicht ausgeblieben. Allerdings wären sie zuerst weniger umfassend, weil Deutschland 1848 auf einer geringeren wirtschaftlichen Entwicklungsstufe stand als 1871, aber diese wirkenden Kräfte wären um 20 Jahre früher entfesselt, und sicher wäre Deutschland jetzt nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich viel weiter als es ist. Die politische Arbeit ist ja bis auf diesen Augenblick nicht vollendet, und jeder zeigt mit den Fingern auf die Rudimente der vormärzlichen Zeit, welche Deutschland mitschleppt.

Sollen wir nun den Revolutionskämpfern von ‘48 einen Vorwurf daraus machen, dass die Entwicklung sich anders gestaltete, als sie es erwartet haben? Oder sollen wir aus dem Umstand, dass die Revolution in Deutschland mit dem Sieg der Reaktion endete, den Schluss ziehen, dass dem immer so sein müsse? Wäre nicht die großartige Revolutionsgeschichte Frankreichs und Englands in die Annalen eingegangen, so müssten diejenigen, welche jetzt an der sozialen Revolution bezweifeln, weil ihre bisherigen Versuche allerdings misslangen, allerdings auch diese Schlussfolgerung ziehen.. Sie können es jetzt nicht, weil es nachträglich geschieht und die Geschichtsbücher sie sofort Lügen strafen würden.

Die Revolutionäre von ‘48 haben die Erfordernisse der Zeit richtig erkannt und sie taten das einzige, was sie tun konnten: sie warfen ihren eigenen Geist und ihre Tatkraft in die Waagschale, um den gewünschten politischen Effekt zu erzielen. Wenn ihnen die Geschichte nachträglich einen Vorwurf macht, so ist es nur, dass sie nicht konsequent, nicht tatkräftig genug waren, dass sie nachließen, wo sie hätten handeln müssen, dass sie ihre Zeit verschätzten und den politischen Gegnern Gelegenheit gaben, sich zu besinnen, zu sammeln, zu rüsten und mit bewaffneter Hand nach Fürstenlaune rückgängig zu machen, was durchaus politisch zweckmäßig war und aus den wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergab.

Denn auch Geist, Wille, Erkenntnis sind politische Faktoren. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie unter gegebenen Verhältnissen.”2 Sie machen sie unter gegebenen Verhältnissen, aber sie machen sie selbst. Die bestausgerüstete Armee kann trotz der Gunst der Verhältnisse eine Niederlage erleiden, wenn sie von einem Narren geführt wird.

Das Glück ihm günstig sei,

Was hilft’s dem Stöffel?

Denn regnet’s Brei

Fehlt ihm der Löffel.”

Auch die Einigung Deutschlands, wie sie gemacht wurde, fand ihren Mann im ”eisernen Kanzler”

So war es mit der Einigung Deutschlands und mit der deutschen bürgerlichen Revolution. Wie aber erst mit der sozialen Revolution, die eine unendlich größere Tragweite hat? Hier kommt es auf die Gestaltung der politischen Verhältnisse, auf die Führung des politischen Kampfes erst recht an. Vor allem hat das kämpfende Proletariat selbst Erfahrungen machen müssen, und es hat diese Erfahrungen bereits gemacht auf den verschiedensten Gebieten: auf dem des Lohnkampfes, der Unterstützungs-Gesellschaft, des Konsumvereins, der Produktivgenossenschaft, der Einigungsämter, der Streiks, des Putsches, der politischen Revolution, des parlamentarischen Kampfes. Marx und Enges haben diese Kämpfe verfolgt, geleitet, studiert, sie wissenschaftlich in Zusammenhang mit den wachsenden Kräften der kapitalistischen Entwicklung gebracht. Auch das war notwendig. Wie die Dynastie Hohenzollern ihren Bismarck, so brauchte das Proletariat seine Marx, Engels, Ferdinand Lassalle, und die anderen, die mitwirkten. Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus wussten sehr gut, dass die wirtschaftliche Entwicklung noch keineswegs die politischen Wechselfälle und den menschlichen Verstand aus der Geschichte eliminiert, deshalb kamen sie nie aus der Fassung, sondern prüften sorgfältig jeden einzelnen Fall der eingetretenen politischen Änderungen — wovon sie in ihren Werken unvergängliche Dokumente hinterlassen haben — und jede Erforschung der einzelnen Ursachen der Erscheinungen, die sie mit der schärfsten Kritik durchgeführt haben, brachte nur einen neuen Beleg für die Richtigkeit ihrer sozialrevolutionären Auffassung.

IX. Soziale Revolution und Sozialismus (Fortsetzung)

Nach einem jahrhundertelangen Kampfe hat sich das Proletariat in dem fortgeschrittensten kapitalistischen Lande der Welt, in England, kaum erst das Recht erkämpft, seine Interessen öffentlich wahrzunehmen. Wir verkennen die Bedeutung der zu Gunsten der Arbeiter im Laufe dieser Zeit erlassenen Gesetze durchaus nicht, aber wir konstatieren, dass noch bis in die 70er Jahre in England Gesetze bestanden, die Wahrnehmung der Arbeiterinteressen durch die Arbeiter selbst zu verhindern, und dass ein bedeutender Teil der englischen Arbeiter noch bis auf diesen Augenblick vom politischen Wahlrecht ausgeschlossen ist. Wenn nun die englische Kapitalistenklasse jetzt nicht mehr die englischen Arbeiter in der Art des deutschen Herrn v. Stumm behandelt, wenn sie mit dem organisierten Proletariat wie mit einer gleichberechtigten kriegführenden Macht verhandelt, so sind wir, da wir uns sehr wohl bewusst sind, dass das Proletariat der Nachkomme der seit Jahrhunderten geknechteten Gesellschaftsklasse ist, weit davon entfernt, die Bedeutung dieser Errungenschaft der kämpfenden Arbeiterklasse zu unterschätzen, aber deshalb verkennen wir nicht, dass durch die allgemeinen sozialen Bedingungen des proletarisch-kapitalistischen Klassenkampfes, sein Ausgangspunkt und Endpunkt noch ebenso wenig alteriert werde, wie etwa durch das moderne Völkerrecht die Kriegführung. Wer wird nicht die Beseitigung der nutzlosen Bestialitäten und Plünderungen, die Einrichtung des Samariterdienstes, des ”roten Kreuzes” usw. als kulturelle Errungenschaften preisen? Aber Krieg bleibt nichtsdestoweniger Massenmord und sein Ziel ist nach wie vor die vollständige Niederwerfung des Feindes, seine Entwaffnung, die Eroberung seiner Positionen, seiner Kampfesmittel, seines Landes. Und so sehen wir denn, dass trotz der kulturellen Errungenschaften der Krieg, weil die Kriegstechnik sich nicht minder entwickelte, noch viel blutiger, noch schrecklicher an seien Verwüstungen geworden ist. So stehen jetzt auch Kapital und Proletariat in geordneten Reihen und mit viel stärkeren Kampfmitteln als je zuvor einander gegenüber, und die Schlachten, die sie liefern, haben an Dimensionen, an Tragweite nicht verloren, sondern gewonnen. Das hat ja soeben wieder der englische Maschinenbauerstreik gezeigt. Über die gegenseitige Stellung der zwei großen kämpfenden Klassen ist überhaupt, in England wie anderswo, gar eine Täuschung möglich — was täuscht, sind die Mittelschichten in ihrer in England nunmehr, wie es scheint, dem Proletariat günstigen Stimmung. Es ist der neue Mittelstand, der im Gegensatz zu dem alten Mittelstand des wohlhabenden Handwerkertums, das als reale Masse auf Seiten des Kapitals stand, sehr rührig ist und die ”öffentliche Meinung” macht. Wir behalten uns vor, die sozialpolitische Bedeutung dieses Mittelstandes, der besonders denjenigen leicht irreführt, der gewöhnt ist, die Bourgeoisie als ”eine reaktionäre Masse” dem Proletariat gegenübertreten zu sehen, an anderer Stelle zu erörtern. Hier genügt folgendes: Die Macht dieses Mittelstandes ist die ”öffentliche Meinung” — eine ökonomische Macht ist es nicht, da seine wirtschaftliche Stellung nicht einmal ausreicht, um ihm selbst materielle Unabhängigkeit zu sichern und politisch kann er selbstständig, sofern er sich nicht auf ein privilegiertes Wahlrecht stützt, keine Macht bilden, da er dazu zu wenig zahlreich ist. Die sozialen Stützpunkte der kapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich aber nicht durch die Windstöße der öffentlichen Meinung aus dem Boden reißen — dazu bedarf es einer politischen Macht, welche nur die Arbeiterklasse zu entwickeln vermag.

Wir haben die soziale Revolution die politische Vorbedingung des Sozialismus genannt. Weil aber der Sozialismus die notwendige Folge der sozialen Revolution ist, so wirft man oft beide Begriffe zusammen. Im gleichen Sinne wirft man auch den Kapitalismus mit der bürgerliche Revolution zusammen, indem man die kapitalistische Gesellschaftsordnung von dieser Revolution datieren lässt. Es weiß aber jetzt jedermann, dass der Kapitalismus mit der politischen Revolution nicht fertig aus den Eierschalen sprang, sondern eine Entwicklung durchzumachen hatte, die noch bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen ist, ja erst durch seine Vernichtung abgeschlossen werden kann.

Es ist richtig, die Begriffe der sozialen Revolution und des Sozialismus auseinander zu halten. So ist z.B. die Frage, wie wir uns die soziale Revolution denken, durchaus berechtigt. Denn sie bedeutet nichts anderes als: wie denken wir die politische Macht zu erobern und was wollen wir mit ihr beginnen? Wir müssen darauf antworten können wenn wir als politische Partei ernst genommen werden wollen. Und wir geben auch darauf Antwort in unserem Programm. Anders die Frage: wie denkt Ihr Euch die sozialistische Gesellschaftsordnung? Das Beispiel der großen bürgerlichen Revolutionäre vom Ende des vorigen Jahrhunderts warnt uns hier vor Prophezeiungen, sind doch die Dinge ganz anders geworden, als sie erwartet haben. Nun sind ja wir jetzt dank der Entwicklung der allgemeinen kulturellen Verhältnisse nicht zum mindesten auch das geschichtlichen und politisch-ökonomischen Wissens in der Lage, in unserer Beurteilung der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung uns auf festere wissenschaftliche Grundlagen zu stützen, aber wir brauchen diese Spekulation gar nicht. Was wir von der heutigen Gesellschaft wissen, genügt, um unser politisches vorgehen zu rechtfertigen.

Wir wissen, dass in der kapitalistischen Gesellschaft eine ungeheure Vergeudung von Arbeitskraft und Reichtum stattfindet, währenddem die Massen darben, dass dieses System der Ausbeutung seine Grundlage in dem Privateigentum an den Produktionsmitteln findet, das von der politischen Macht des Staates gestützt wird, und wir gehend darauf hinaus, diese politische Macht zu erobern, um die Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum zu überführen und den Staat zu demokratisieren — was weiter werden wird, überlassen wir der Zeit bzw. der geschichtlichen Entwicklung. Die Vermengung dieser beiden Punkte ist zum Teil Schuld an der Verirrung Bernsteins: nur so kommt er dazu, die Möglichkeit der sozialen Revolution zu bestreiten, weil eine Gesellschaftsordnung sich nicht aus dem Boden stampfen lässt. Im Gegenteil, gerade die Schwierigkeiten, welche die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu überwinden, die Kämpfe durch die sie sich durchzuringen haben wird, fordern am meisten, dass wir vor allem mit den politischen bzw. rechtlichen Hindernissen aufräumen, die ihr im Wege stehen. Da aber Bernstein diese gesetzmäßige Entwicklung nach der Revolution nicht sieht, sucht er sie vor der Revolution, und weil er hier den Kapitalismus vorfindet, so bleibt ihm nichts übrig, als die sozialistische Entwicklung in die kapitalistische hineinzuschalten, d.h. er macht die Entdeckung, dass wir, die wir uns im Kapitalismus befinden, eigentlich mitten im Sozialismus stecken — desgleichen war wohl seiner Zeit der Kapitalismus im Feudalismus eingeschachtelt, und verfolgt man die Entwicklung weiter, so gelangt man dazu, dass der primitive Kommunismus in nichts stak, d.h. gar keine Entwicklung hatte?

August Bebel äußerte sich einmal auf einem Parteitage über den Unterschied zwischen der bürgerlichen und der sozialen Revolution ungefähr in dem Sinne, dass das Bürgertum die politische Macht zu erobern hatte, nachdem es bereits eine ökonomische Macht war, währenddem das Proletariat die politische Macht erobern, um die ökonomischen Verhältnisse zu ändern. Mit der ihm eigenen Schärfe des politischen Denkens hat hier Bebel den grundlegenden Unterschied beider Revolutionen aufgedeckt, wenn er ihn auch in eine sehr schroffe Form gekleidet hat, welche die Äußerung anfechtbar macht. Um die ökonomische Macht der Kapitalistenklasse war es in Wirklichkeit bei der großen französischen Revolution wie auch bei den späteren europäischen Revolutionen recht eigen bestellt. Die Masse der Bevölkerung war ja das Bauerntum, das in feudalen Banden steckte. Der Landbevölkerung gegenüber war die städtische gar sehr winzig an Zahl. Die adeligen und geistlichen Grundherren repräsentierten einen größeren Reichtum, eine größere ökonomische Macht als die reiche städtische Bourgeoisie, die aus den paar Finanziers, Steuerpächtern Großkaufleuten und Manufakturisten bestand und unter sich, wie ebenfalls Kautsky in seiner schon erwähnten Schrift mit Recht hervorhebt, gespalten war. Nach Ed. Bernstein vom Jahre 1789 wäre also jene Revolution eigentlich ein närrisches Ding! Anderseits werden auch bereits innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gewisse produktive Vorbedingungen der Herrschaft des Proletariats entwickelt. Eduard Bernstein und Dr. K. Schmidt erblicken bereits darin, wie schon erwähnt, einen Sozialisierungsprozess der Gesellschaft. Allein die Konzentration der Arbeiter in Fabriken und ihr Zusammenschluss in Gewerkschaften macht sie noch ebenso wenig, so lange das Privateigentum an den Produktionsmitten besteht zu Gesellschaftsteilnehmern der Herren Fabrikanten wie der Zusammenschluss der Kapitalisten zu Kartellen die Arbeiter von der Ausbeutung befreit. So führte dann auch die Konzentration der industriellen Arbeiterbevölkerung in den Städten zur Entwicklung einer reichen Kapitalistenklasse der Hausbesitzer. Nur in den Konsumvereinen in ihrer modernen Verbindung mit den Produktivgenossenschaften schaffen die Arbeiter eine neue ökonomische Gestaltung, die in Konkurrenz tritt mit den kapitalistischen Betrieben. Auch die Stellung dieser Institutionen im Klassenkampfe soll in einen anderen Zusammenhange erörtert werden. Nun sind aber auch die zuerst genannten Erscheinungen: die Konzentration der Betriebe und die Konzentration der Bevölkerung, die Organisation der Produktion durch kapitalistische Vereinigungen zweifellos produktive oder wenn man will wirtschaftliche Vorbedingungen der Sozialisierung der Gesellschaft — nur bedarf es der Änderung der Eigentumsform, damit sich auf diesen Vorbedingungen die neue Gesellschaftsform entwickle, und darin gründet der von Bebel aufgedeckte Unterschied. Der Kaufmann, Manufakturist, Geldverleiher des 18. Jahrhunderts bedurften keiner Änderung der Eigentumsformen, sondern höchstens einer Sicherung ihres Privateigentums — der Sturz des Feudaladels gab ihnen die Möglichkeit, als Privateigentümer, die sie bereits waren, sich weiter zu entwickeln, sich zu bereichern und eine neue Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Bei dem Klassenkampf des Proletariats handelt es sich aber vor allem um einen Besitzwechsel bzw. um eine Änderung der Eigentumsform. Als Privateigentümer können die Arbeiter nie die herrschende ökonomische Macht werden — deshalb ist die unersetzliche Bedingung ihrer Befreiung, dass die Produktionsmittel dem Privateigentum entzogen werden. Das Proletariat muss also, um erst als ökonomische Macht sich entfalten zu können, mittels der politischen Macht der ökonomisch herrschenden Klasse das Eigentumsrecht an den wirtschaftlichen Bedingungen ihrer Macht, den abermals und abermals genannten Produktionsmitteln, entreißen. Aber indem das Proletariat das tut, vollzieht es auch bereits eine grundlegende Äderung der wirtschaftlichen und politischen Organisation der Gesellschaft. Darüber im nächsten Artikel.

X. Soziale Revolution und Sozialismus (Schluss)

Die sozialrevolutionäre Regierung wird nicht zur Aufgabe haben, eine neue Gesellschaftsordnung zu dekretieren, sie wird vielmehr die kapitalistische Gesellschaftsordnung übernehmen, so wie sie ist, nur dass sie eben selbst an Stelle der kapitalistischen Regierung treten wird, und dass sie die 416.000 deutsche Kapitalisten, welche bereits längst nur lästige Anhängsel der Produktion geworden sind, je nach den Umständen, sei es durch Ankauf oder durch Expropriation, beiseite schieben wird. Das bedeutet nicht die Beseitigung des Privateigentums schlechtweg — es bedeutet nur, dass sämtliche Bergwerke, Fabriken, sämtlicher Grund und Boden und die Mietshäuser der Städte in gesellschaftliches Eigentum überführt werden. Auch in der Industrie ist zweierlei zu unterscheiden: die Leitung der einzelnen Betriebe und die Zusammenfassung der industriellen Produktion des Landes. Für die Leitung der Einzelbetriebe bei kollektivem Besitz hat nun bereits die kapitalistische Gesellschaft in den Direktoren, Aufsichtsräten, Arbeiterausschüssen etc. weit entwickelte Formen geschaffen. Ed. Bernstein und Dr. K. Schmidt sind davon sogar so sehr eingenommen, dass sie glauben wir wären bereits mit der Nasenspitze in die sozialistische Welt eingedrungen. Jedenfalls kann es dennoch zwischen uns in dieser Frage keine großen Meinungsverschiedenheiten geben. Wir begnügen uns nur nicht damit, wir gehen viel weiter. Erstens erscheint uns die ”allgemeine Durchführung des Genossenschaftsprinzips”, sei es durch spezielle Gründung von Genossenschaften, durch Erweiterung des Gemeindeeigentums oder durch Aufsaugung der kapitalistische Eigentumsverhältnisse durch die Gewerkschaften und Arbeiterausschüsse eine Utopie, solange der Privatbesitz an den Produktionsmitteln und die politische Herrschaft des Kapitals besteht; zweitens ist uns eine Summe von Genossenschaften noch nicht die sozialistische Gesellschaft. Diese Bernsteinsche Vorstellungsweise ist die des theoretischen Anarchismus — dagegen vermisst hier der Sozialismus vor allem die Zentralleitung, die Zusammenfassung der Einzelbetriebe zur gesellschaftlichen Organisation der Produktion.

Für die Organisation dieser Zentralleitung finden wir auch bereits Vorbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft. Wir denken vor allem an die Staatseisenbahnen. Das Eisenbahnministerium ist nicht nur die oberste Betriebsleitung, es ist zugleich eine politische Institution, und zwar dieses sogar mehr als jenes, es ist ein Zwischenglied, der Vermittler zwischen der politischen Vertretung des Landes und der eigentlichen Betriebsverwaltung. Im Parlament kommt der Wille der Nation zum Ausdruck, hier werden die allgemeinen Interessen des Landes der Eisenbahnverwaltung gegenüber vertreten. Nicht nur die Wünsche des reisenden Publikums verschaffen sich hier Geltung, sondern man sucht einen gewissen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Eisenbahnbetrieb und den anderen Produktionszweigen des Landes: wir meinen die Fragen der Gütertarife, der Wagenversorgung, der Errichtung von Stationen u.a.m. Auch ist hier die Stelle, an der die Forderungen der Eisenbahnarbeiter ihre Vertretung finden, besonders da diese Arbeiterinteressen bei der jetzigen Organisation der deutschen Eisenbahnen sonst gar nicht zum gemeinschaftlichen Ausdruck kommen können. Wir haben also: die Betriebsleitungen der einzelnen Stationen, Werkstätten usw., ihre Zusammenfassung für die besonderen Eisenbahnlinien, die Zusammenfassung dieser für größere Gebietsteile und endlich die allgemeine Zentralisation im Eisenbahnministerium, das zugleich im innigen Konnex steht mit der politischen Vertretung des Landes. Das ist nun freilich ein blasses Schema. Die Staatseisenbahnen, wie sie jetzt sind, in Fleisch und Blut, tragen den Charakter der kapitalistischen Gesellschaft bzw. des kapitalistischen Staats in sich. Sie sind Musterbilder der kapitalistischen Ausbeutung, sie dienen fiskalischen Interessen. Andererseits ist das Parlament nicht der Ausdruck des Volkswillens, es wird selbst beherrscht von der Regierung, die ihrerseits im Dienste dieser oder jener Gruppe der herrschenden Klassen steht. Kurz, es wird auch durch die Staatseisenbahnen der Beweis erbracht, dass es mit der wirtschaftlichen Organisationsform noch nicht getan ist, dass vor allem auch bestimmte politische Vorbedingungen für die Durchführung der sozialistischen Produktionsformen notwendig sind. Allein uns kam es nur darauf an, nachzuweisen, dass auch die Formen der gesellschaftlichen Zentralisierung der Industrie nicht erst erfunden werden müssen, sondern die Ansätze dazu sich aus dem kapitalistischen Gewirr selbst herausschälen, wenn man eben die störenden und hindernden Elemente beseitigt.

Die sozialrevolutionäre Regierung, welche die politische Macht übernehmen wird, wird zunächst gar nicht anders können, als auch die allgemeine Leitung der Produktion zu übernehmen. Aber da die sozialistische Revolution zugleich zu einer demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft führt, so wird sich erst aus der Wechselwirkung zwischen dieser Entwicklung und der Organisation der einzelnen Betriebe nach einem langen Weg der Streitigkeiten, Kompetenzkämpfe etc. mit der Zeit jene vollendete Form der gesellschaftlichen Organisation der Produktion herausbilden, welche man als Sozialismus zu bezeichnen haben wird.

Wir können nicht umhin, hier noch kurz die Frage des Geldes bzw. des Tauschsystems zu erwähnen. Welche Entwicklung der Tauschverkehr nach der sozialen Revolution durchmachen wird, ist ein wissenschaftliches Problem, über das bis jetzt nur phantastische Spekulationen existieren. Wir stehen nicht an zu erklären, dass wir die wissenschaftliche Lösung des Problems besitzen. Wir sind dazu durch das Studium des kapitalistischen Warenverkehrs und der kapitalistischen Preisbildung geführt worden. Wie dieser kapitalistische Tauschverkehr selbst nur das notwendige Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung ist, die sich bis in die ersten Anfänge der menschlichen Gesellschaft verfolgen lässt, so ist auch jener Tauschverkehr der sozialistischen Gesellschaft nur das notwendige Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung, das wir ebenso genau nachweisen zu können glauben wie jedes andere Gesetz der politischen Ökonomie. Man wird es jedoch begreiflich finden, wenn wir darauf verzichten, diese komplizierten theoretische Darlegungen in unsere jetzige theoretische Auseinandersetzung hineinzuführen. Ist es doch dazu vor allem notwendig, endlich in die Gesetze der kapitalistischen Wert- und Preisbildung, wie sie von Karl Marx entwickelt worden sind, eine zusammenfassende und kritische Darstellung zu geben, währenddem die Geldtheorie bereits veraltet bzw. von der kapitalistischen Entwicklung überholt ist und einer vollständigen Umarbeitung bedarf. Das bedarf einer selbständigen wissenschaftlichen Darlegung. An dieser Stelle nur folgendes: Der Warenverkehr ist so sehr in alle Verhältnisse des wirtschaftlichen Lebens hineingedrungen, dass er durch ein künstlich erdachtes Tauschsystem nicht ersetzt werden kann. Die sozialrevolutionäre Regierung wird also auch hier zunächst scheinbar alles beim Alten lassen müssen. Es verbleiben die Warenpreise und es verbleiben die Lohnberechnungen. Aber in dem Maße, wie die gesellschaftliche Organisation der Produktion sich entwickelt, bekommen die Warenpreise und Lohnberechnungen einen ganz anderen Charakter. Der Name bleibt, aber der Inhalt wird anders. Die grundsätzliche Änderung, die sich sofort ergibt, ist diese: die Kapitalisten berechnen die Warenpreise so, dass sie zu den Produktionskosten (wobei selbstverständlich auch die Abnutzung der Maschinerie, Fabriken usw. in Rechnung gesetzt wird) den Profit auf das Kapital hinzurechnen. Dieser ist bei gleichem Profitsatz desto größer, je größer das im Geschäfte angelegte Kapital. Nachdem aber die kapitalistischen Mehrwertbezieher entfernt sind, muss auch diese Berechnung fortfallen. Auch die sozialistischen Betriebsleitungen werden Abschreibungen machen, um den Verbrauch der Produktionsmittel ersetzen zu können, aber wir werden nicht mehr außerdem noch ein kapitalistischen Privateigentum zu verzinsen haben. So wird sich ein Unterschied herausbilden zwischen den Produktionsbranchen, je nachdem sie im Verhältnis zur Arbeiterzahl mehr oder weniger Anlagekapital in Maschinen, Gebäuden usw. enthalten. Diejenigen, welche mehr Anlagekapital enthalten, werden vorteilhafter daran sein, weil die Summe des Profits, der ihnen nach Beseitigung der Kapitalistenklasse zufällt, größer sein wird. Würde man diesen expropriierten Profit einfach den Arbeitslöhnen zulegen, so würden die Löhne in diesen Produktionszweigen die höchsten sein. Es wird aber das Bestreben herrschen, die Löhne allgemein im Lande auszugleichen — wie etwa jetzt die Profitsätze — und das kann dann in keiner anderen Weise geschehen, indem man die Warenpreise in einem Fall erniedrigt, im anderen erhöht. Wir haben das nur angeführt, um den Lesern eine konkrete Vorstellung von der kommenden Entwicklung zu verschaffen. Wie nun auch das kapitalistische Wert- resp. Geldsystem verschiedene Entwicklungen durchgemacht und gesetzliche Regelungen erfahren hat, so wird es wohl auch bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsform so sein. Wir leugnen also die Schwierigkeiten hier ebenso wenig wie in den anderen Fällen, aber auch hier finden wir den Beweis, dass die sozialistische Entwicklung erst dort beginnt, wo die kapitalistische Ausbeutung und die politische Herrschaft des Kapitals aufhören.

Fassen wir zusammen, was die soziale Revolution bietet:

  1. Die sozialrevolutionäre Regierung bekommt den Mehrwert, den jetzt die Kapitalisten beziehen, wenigstens zu einem bedeutenden Teile zu ihrer Verfügung. Sie erhält dadurch u.a. die Möglichkeit, sofort Lohnerhöhungen eintreten zu lassen.

  2. Als interimistische oberste Leitung der Produktion führt die sozialrevolutionäre Regierung eine radikale gesetzliche Regelung der Arbeitszeit und der allgemeinen Arbeitsbedingungen durch. Es wird sofort eine neue Organisation der Gewerbeinspektion und der Arbeiterversicherung gesetzlich festgelegt und administrativ durchgeführt.

  3. Die Mietshäuser werden in Gemeindeeigentum übergeführt, die Mietzinse stark heruntergesetzt.

  4. Die Hypothekarschuld wird beseitigt. Dem Bauer wird klargemacht, dass er keine Schuldzinsen mehr zu bezahlen hat.

  5. Die sozialrevolutionäre Regierung bekommt unter ihre Botmäßigkeit das gesamte technische und Verwaltungspersonal. Den Herren bleibt nichts übrig, als entweder sich in den Dienst der proletarischen Regierung zu stellen oder auszuwandern. Aber es besteht jetzt bereits in allen kapitalistische Ländern ein Überangebot an Ingenieuren — dagegen wird die soziale Revolution gewiss eine Mannigfaltigkeit von neuen produktiven Möglichkeiten eröffnen. Und schon die Expropriation, wenn auch teilweise, der kapitalistischen Profite, wird genügend Mittel gewähren, um den Herren ihre hohen Gehälter zu bezahlen. Dieselbe Macht, die sie jetzt zu knechten des Kapitals macht, der Besitz an den Produktionsmitteln, wird sie dann zu Dienern der Revolution machen.

  6. Die politische Organisation der Gesellschaft wird nach demokratischen Grundsätzen umgestaltet. Wir brauchen diese Änderungen nicht auseinanderzusetzen, da sie bereits in unserem Parteiprogramm spezifiziert sind. Die von einer kapitalistischen Regierung eingesetzte Polizei und die im kapitalistischen Sinne gedrillten Richter verschwinden, das Volks sitzt selbst zu Gericht und sorgt für die öffentliche Sicherheit, und aus einer Organisation zur Beherrschung des Volkes wird so der Staat vielmehr zu einer Organisation, welche die Freiheit des Volkes schützt.

  7. Auf diesen neuen wirtschaftlichen und politischen Grundlagen entwickeln die Gemeinden eine rege Verwaltungstätigkeit. Nicht nur, dass ihr Wirkungskreis besonders in den Großstädten durch die Übernahme der Wohnhäuser erweitert wird, sondern dadurch, dass ihnen jetzt der Zutritt in die Häuser eröffnet wird, ist erst die Möglichkeit gegeben zu einer vollendeten Organisation der Wasserleitung, Beleuchtung und selbst Heizung der städtischen Wohnhäuser. Das sind alles Dinge, die schon in der nächsten Zeit nach der Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat durchgeführt werden können und zweifellos der Bevölkerung große wirtschaftliche Vorteile gewähren.

  8. Zu gleicher Zeit geht eine immer weitere Ausbildung der gesellschaftlichen Organisation der Produktion vor sich, eine zweckmäßigere Verteilung der Arbeitskräfte, eine Konzentration der Betriebe, Einführung von Maschinen, die jetzt nicht mehr an kapitalistische Profitbildung gebunden ist — kurz, eine schrankenlose Erweiterung der Produktion, die mit keinen Absatzschwierigkeiten mehr zu rechnen hat und den allgemeinen Wohlstand fortgesetzt hebt.

Dies ist die soziale Revolution, wenn auch nur in flüchtigen Strichen gezeichnet. Wer zweifelt noch, dass sie ein mächtiger Hebel der sozialistischen Entwicklung sein muss? Wer spricht da von einer ”kolossalen Niederlage”, welche das Proletariat erleiden wenn es die Regierungsgewalt erobert? wenn es derartige Machtmittel in Besitz bekommt, derartige materielle Interessen in Bewegung zu setzen vermag, um seine Pläne durchzuführen? Und da tritt man scheu davor zurück und will den Sozialismus in den Kapitalismus einschmuggeln! Wie närrisch, anzunehmen, die kapitalistische Regierung und das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das seien die Vorbedingungen, um den Sozialismus einzuführen! Vielmehr stehen die Dinge so, dass, wenn wir einmal in den Besitz der politischen Macht gelangt sind und sie in sozialrevolutionärem Sinne ausgenutzt haben, eine Rückkehr zum kapitalistischen Regime nicht mehr möglich ist. Oder glaubt man, die Arbeiter werden sich die Ausbeutung, die lange Arbeitszeit, die hohen Mietzinse, die Bauern die Zinsenlast, [glaubt man,] dass das gesamte arbeitende Volk, das durch die soziale Revolution zur politischen Geltung kommt, zum Herrn wird in Staat und Gemeinde, die Vorteile der Produktion für sich ausbeutet, seinen Wohlstand steigen sieht, sich die alte Ausbeutung und Knecht wird aufhalsen lassen? O nein, eine Umkehr gibt es nicht nach der sozialen Revolution, wie es keine Umkehr gab, als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde! Demagogen mögen das Volk zu ihren persönlichen Zwecken irreführen können, aber das bleibt sicher: nach der sozialen Revolution haben die Parteien keinen anderen Stützpunkt als die materiellen Interessen des Volkes.

Die wirtschaftlichen Vorbedingungen der sozialen Revolution sind vorhanden — um die politische Macht handelt es sich. Und wenn das Proletariat mittels der politischen Macht die Wege ebnen will für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, so befolgt es damit nur das Beispiel, welches die Kapitalistenkasse wiederholt gegeben hat. Man sehe sich nur um, was jetzt geschieht. Was anderes unternimmt jetzt das Kapital in China, als eine soziale Revolution? China ist ein Land, das durch seine wirtschaftliche und soziale Organisation vom Kapitalismus viel weiter entfernt ist als dieser vom Sozialismus. Wie stellt man es nun an, um es kapitalistisch zu revolutionieren? Man rückt mit Panzerschiffen und Militär heran, man bricht den politischen Widerstand mit den Waffen in der Hand, man unterjocht die Regierung, man setzt sich in den Häfen, den Eingangspforten des Landes, fest, man stellt die Finanzen unter kapitalistische Kontrolle, man bürdet dem Staat mit Gewalt eine Schuld auf, man zwingt ihn zu einer gewünschten Handelspolitik, man lässt ihn administrative Maßregel bestimmter Art ergreifen, man verpflanzt nach China das eigene Maß-, Gewichts- und Geldsystem, man dringt ins Land, trotz des Widerstandes der Bevölkerung, man erzieht die Bevölkerung zu einem europäischen Tauschverkehr, schließlich baut man Eisenbahnen, erschließt Bergwerke, errichtet Fabriken und nach einer Anzahl von Jahren ist die kapitalistische Produktionsform so tief eingewurzelt, dass eine Rückkehr zu der alten Ordnung nicht möglich ist. Ohne politische Machtmittel, ohne direkte politische Eroberung wäre diese ganze Entwicklung undenkbar. Die kapitalistischen Regierungen tun das alles und lassen sich ebenso wenig von Ed. Bernstein auf Grund der materialistischen Geschichtsauffassung wie von einem Hohepriester auf Grund der Tiereingeweide vorhersagen, ob es gelingen wird. Und siehe: Ed. Bernstein meldet sich selbst und erklärt, diese Kolonialpolitik, die in einer gewaltsamen Revolutionierung Chinas besteht, sei grundsätzlich der materialistischen Geschichtsauffassung entsprechend — wenn aber das Proletariat in einem parlamentarischen Staat sich anschickt, die politische Macht zu erobern, um mit ihrer Hilfe die sozialistische Umwälzung zu fördern, so sei das grundsätzlich der materialistischen Geschichtsauffassung widersprechend und führe nur zu einer ”kolossalen Niederlage”!

Wir aber erklären: Gebt uns auf ein halbes Jahr die Regierungsgewalt, und die kapitalistische Gesellschaft gehört der Geschichte an.

Nun hat sich der kritische Leser wohl schon längst gesagt: ”Ja, die politische Macht, wie erreichen wir diese? Das ist der Haken!” Das soll uns im nächsten Artikel beschäftigen.3

* Der beschränkte Raum der Zeitung und die beschränkte Zeit, die dem Artikelschreiber für theoretische Arbeiten zur Verfügung steht, bringen es mit sich, dass unsere Auseinandersetzungen mit E. Bernstein mehrfach unterbrochen werden müssen. Aus diesem Grunde sind auch Wiederholungen unvermeidbar, indem mancher bereits früher in die Diskussion geworfene Gedankengang später wieder aufgegriffen wird, um weitergesponnen zu werden.

1 Nach dem damaligen Wahlsystem gab es Stichwahlen, bis einer der Kandidaten die absolute Mehrheit der abgegeben Stimmen bekam, die Zahlen drücken also eine niedrige Wahlbeteiligung aus.

2 ”Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.” (Karl Marx, ”Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte” (1852), Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 8, S. 117)

3 vgl. die Artikelserie „Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die soziale Revolution“, die im Sommer 1898 in der „Sozialistischen Rundschau“, der neu geschaffenen Theorie-Beilage der SAZ erschien

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