Parvus 18980331 Karl Kautsky über Kolonialpolitik

Parvus: Karl Kautsky über Kolonialpolitik

[Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 74 (31. März 1898)]

Die von uns bereits erwähnten Artikel von K. Kautsky über Kolonialpolitik gelangen im letzten Heft der “Neuen Zeit” zum Abschluss. Sie gipfeln in folgendem Resümee:

Die ostasiatische Politik unserer Reichsregierung, die Politik der Eroberungen und Gebietserwerbungen in China, die Politik der Isolierung Englands und Förderung Russlands, die Politik der Erhebung Deutschlands, das seine territoriale Begrenzung schon zu übermäßiger Belastung durch das Landheer drängt, zu einer Seemacht, die auch noch das Wettrennen in den Flottenrüstungen mitzumachen hat, diese Politik ist selbst vom bloßen bürgerlichen Standpunkt, vom Standpunkt der Förderung der industriellen Entwicklung verwerflich. Sie ist nicht fortschrittliche, sondern reaktionäre Politik, nicht moderne bürgerliche Politik, sondern ein Zweig jener Wiedererweckung der absolutistischen feudalen Politik, die auf dem europäischen Kontinent allenthalben als ebenso bornierte wie brutale Reaktion gegen die der Entwicklung dienenden Seiten des Manchestertums grassiert. Sie ist, schon von einem etwas höheren bürgerlichen Standpunkt aus, ebenso zu bekämpfen, wie die Lebensmittelzölle, wie die Prämien und Liebesgaben, wie Innungswesen und Unterbindung der Freizügigkeit, wie die Beschränkung der Koalitionsfreiheit und die Staatswirtschaft zu fiskalischen Zwecken. Die moderne deutsche Kolonialpolitik ist ein würdiges Glied dieses reaktionären Rattenkönigs.

Muss selbst der bürgerliche Freund der industriellen Entwicklung der deutschen Kolonial- und Flottenpolitik widerstehen, so noch weit energischer die deutsche Sozialdemokratie, die Selbstmord begehen und das Proletariat aufs Tiefste schädigen würde, wollte sie die Machtmittel des deutschen Systems Posadowsky-Stumm vermehren. Sie darf und kann dem heutigen Regierungssystem keinen Mann und keinen Groschen bewilligen. Aber sie würde der heutigen Kolonial- und Flottenpolitik unter allen Umständen entgegentreten müssen, auch dann, wenn diese von einem Regierungssystem ausginge, das dem aufstrebenden Proletariat nicht grundsätzlich feindselig gegenüberstände.”

Wie man es bei Kautsky gewöhnt ist, beruht auch diese schriftstellerische Arbeit auf einer soliden geschichtlichen Grundlage und enthält eine Menge wertvoller wirtschaftlicher und politischer Rückblicke und Ausblicke. Wir wollen an dieser Stelle nur noch einen Passus zitieren und müssen unsere Leser um übrigen auf die Artikel selbst verweisen (“Neue Zeit”, Nr. 25, 26, 27)

Der industrielle Aufschwung Euroopas durch die Erschließung Chinas wird also nicht allzu lange dauern; bald wird das Land anfangen, aus einem Abnehmer ein Konkurrent zu werden, aus einer Hoffnung eine Verlegenheit für die europäische Industrie. Es ist sehr wohl denkbar, dass die chinesische Konkurrenz für die Industrie dann einen Zustand hervorruft, wie ihn die überseeische Konkurrenz bereits für die europäische Landwirtschaft geschaffen. Die Industrie kann aber nicht, wie die Landwirtschaft, ihre Lasten auf andere Produktionszweige abwälzen. Die Industrie ist der für das Gedeihen der ganzen Gesellschaft entscheidende Produktionszweig geworden. Ist sie in einem Stadium permanenter Krisis angelangt wie heute schon die Landwirtschaft, dann ist die kapitalistische Warenproduktion am Ende ihres Latein angelangt. So kann die chinesische Konkurrenz ein Mittel werden, den Untergang der bestehenden Produktionszweige zu beschleunigen.”

Diese Beurteilung der bevorstehenden Entwicklung des Weltmarktes lässt erwarten, dass auch die Antwort Kautskys auf die von uns an ihn anlässlich der Bernstein-Polemik gerichteten Fragen im sozialrevolutionären Sinne ausfallen wird. Dann beruhte freilich seine bekannte Anmerkung zum Bernsteinschen Artikel (“Neuer Gedankengang”) auf einem sehr fatalen — Missverständnis! Immerhin besser, als wenn Kautsky seine ganze bisherige Tätigkeit bei der “Neuen Zeit” als Missverständnis aufzufassen hätte. Der Schreiber dieser Zeilen wäre sehr erfreut, wenn die Angelegenheit eine solche Lösung findet; am liebsten wäre es ihm freilich, wenn ihm jene öffentliche Fragestellung — die unter den gegebenen Verhältnissen unvermeidlich war — überhaupt erspart geblieben wäre.

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