Parvus 18980127 Soziale Revolution und Kolonialpolitik

Parvus: Soziale Revolution und Kolonialpolitik

[Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 21 (27. Januar 1898)]

Ed. Bernstein veröffentlicht in der ”Neuen Zeit” eine Abhandlung über ”den Kampf der Sozialdemokratie und die Revolutionierung der Gesellschaft”. Das soeben erschienene Heft enthält den Artikel II unter dem besonderen Titel ”Die Zusammenbruchstheorie und die Kolonialpolitik”. Wir wissen nicht, ob die Arbeit eine Fortsetzung findet, auch haben wir den ersten Artikel nicht gelesen — aber der vorliegende Teil ist für sich durchaus abgeschlossen und kann einer kritischen Erörterung unterworfen werden. Die Aktualität des Gegenstandes, das Ansehen, welches der Verfasser in der gesamten Öffentlichkeit als Wortführer des wissenschaftlichen Sozialismus genießt, sowie die Stelle, an der die Ausführungen erschienen sind, zwingen uns, zu ihnen Stellung zu nehmen.

Ed. Bernstein tritt für eine oppositionelle Stellungnahme der Sozialdemokratie zu der gegenwärtigen Kolonialpolitik ein, aber nur aus Nebengründen — dagegen grundsätzlich wendet er sich vielmehr mit aller Schärfe gegen diejenigen in unserer Partei, welche die Kolonialpolitik grundsätzlich bekämpfen wollen. Das erscheint als Widerspruch und ist es auch; aber wir werden bald sehen, dass das Schwergewicht der Bernsteinschen Argumentation nicht in der Bekämpfung, sondern in der Verteidigung der Kolonialpolitik liegt. Bernstein Stellungnahme für die Kolonialpolitik gipfelt in folgenden Sätzen:

Die Vorstellung, dass man durch Bekämpfung aller und jeder Kolonialpolitik den Umsturz daheim beschleunigen könne, ist ganz und gar hinfällig, abgesehen davon, dass die Sache selbst utopisch ist. Bevor man an so etwas denkt, müsste man die Dampfschiffe und Eisenbahnen aus der Welt schaffen. Wie utopistisch der Gedanke ist, zeigt sich schon daraus, dass er am stärksten in der Kindheit der sozialistischen Bewegung die Gemüter erfüllt. Wenn wir die sozialistische Literatur der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts nachschlagen, so finden wir dort schon den Gedanken verfochten, man müsse der Kolonialpolitik entgegenwirken, weil sie den Sieg der Volkssache hinausschiebe. ”Keinem einzigen jungen Menschen”, schreibt der ”Poor Man’s Guardian” vom 15. Februar 1831, ”sollte man erlauben, außer Landes zu gehen, bevor er die Neugeburt dieses Landes erlebt hat”, und er donnert gegen die Kolonial- und Emigrationspolitik, die Leute in die ”kanadischen Sümpfe” und die ”Wildnis von Neu-Südwales” [in Australien] verlockt. Wenn man das liest und sich dann vergegenwärtigt, was Kanada und Neu-Südwales geworden sind, so wird man notwendigerweise zur Vorsicht gegenüber solchen Schlagworten getrieben.”

Zunächst sei auf die seltsame Schlussfolgerung verwiesen: weil Kanada nach vielen Jahrzehnten ein kultiviertes Land geworden — übrigens steht es damit gar nicht so weit — deshalb hatte der ”Poor Man’s Guardian” Unrecht, die Verschiffung englischer Arbeiter nach Kanada, die zumal damals, bei der gänzlichen Abwesenheit von Dampfschiffen, mit unendlichen Gefahren und Strapazen verbunden war, zu verdammen? Hat denn der ”Poor Man’s Guardian” bestritten, dass man die Sümpfe Kanadas kultivieren kann? Er hat nur gemeint, dass man das englische Volk nicht erst in die unwirtlichen Gegenden des kalten Nordens von Amerika zu schicken braucht, dass es auch im eigenen Lande Arbeit und Brot finden könnte … wenn nicht eben die Kapitalisten Herren des Landes wären! Und darin hatte er durchaus Recht. Man müsste sich denn auf den Boden des Malthusschen Überbevölkerungsgesetzes stellen, wollte man dies bestreiten, und dann wäre nicht nur die Auffassung des ”[Poor Man’s] Guardian” widerlegt, sondern das Verdammungsurteil gefällt über den gesamten Befreiungskampf der Arbeiterklasse. Wir aber wissen, dass die europäische Auswanderung nicht durch natürliche Überbevölkerung erzeugt wird, sondern durch die kapitalistische Proletarisierung der Bauernmassen und das rasche Anschwellen der Reservearmee der Arbeiter. Dass die Mühsal der europäischen Auswanderer nach Kanada nicht umsonst verloren gegangen ist, dass die menschliche Arbeit auch dort befruchtend gewirkt hat, ist noch kein Grund, sich mit der kapitalistischen Gesellschaft zu versöhnen, welche nicht weiß, diese wertvollen Arbeitskräfte im eigenen Lande zum Nutzen der Allgemeinheit zu verwenden. Auch die Pyramidenbauten waren Wunderwerke der menschlichen Arbeit.

So sehr wir uns an jeder Äußerung der menschlichen Tatkraft erfreuen, so hindert das uns nicht, vor allem ihre Befreiung von dem Drucke der Ausbeutung zu erstreben. Was kann der menschliche Fleiß nicht alles leisten! Auch die Wildnisse Afrikas werden kultiviert, selbst die Wüste Sahara kann urbar gemacht werden. In diesem Augenblick drängt sich, von den Goldfunden angelockt, ein gewaltiger Menschenstrom nach Klondyke: es sind mörderische Gegenden, aber zweifellos werden sie nun in wenigen Jahren nach allen Gesetzen der kapitalistischen Kolonisationskunst ”kultiviert” werden, — aber gibt es denn wirklich jetzt in der Welt nichts wichtigeres zu tun, als die Eisfelder nach Goldklumpen abzusuchen? Gewiss steht sich das arbeitende Volk in Amerika und in Australien besser als in Europa, obwohl auch dort der Pressdruck des Kapitals immer stärker wird — aber deshalb sich mit der kapitalistischen Auswanderung versöhnt fühlen, heißt, nachträglich auch die Einfuhr von Negersklaven nach den amerikanischen Südstaaten zu billigen, denn dadurch ist nicht nur das Land in einen höheren Kulturzustand versetzt worden, sondern auch die Neger selbst sind der Zivilisation zugeführt worden. Wenn jemand, so wussten die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus die Werke der kapitalistischen Produktionsentwicklung zu würdigen, nichtsdestoweniger riefen sie die ”Proletarier aller Länder” auf, um diese Produktionsweise zu stürzen.

Der ”Poor Man’s Guardian” hat mit sozialrevolutionärem Scharfsinn entdeckt, dass die Auswanderung wie die Kolonialpolitik als Ableitungskanal der zerstörenden Kräfte der kapitalistischen Entwicklung dienen. Darin hatte er durchaus Recht. Aber freilich sind für uns die 67 Jahre seit 1831 nicht umsonst vergangen, wir haben was hinzugelernt und sind über die Auffassung des ”Poor Man’s Guardian” hinausgekommen. Das bezieht sich aber nicht darauf, dass wir seine richtige Erkenntnis leugnen, sondern dass wir seine Illusion nicht teilen, durch Verbote die Auswanderung beseitigen zu können. So lange die kapitalistische Produktion besteht und es noch Kolonial- und Ansiedlungsgebiete gibt, wird es auch Auswanderung und eine Kolonialpolitik geben. Aber das Vorhandensein der anderen Weltteile — Amerika, Asien, Afrika, Australien — ergibt sich keineswegs aus der kapitalistischen Entwicklung Europas, sondern ist eine geographische Tatsache, welche sich das Kapital zugute kommen lässt. Deshalb ist es auch keineswegs Gesetz der geschichtlichen Entwicklung, dass die Erde von Pol zu Pol kapitalistisch ausgebeutet und die Bevölkerung gleichmäßig über die ganze Erdoberfläche verteilt werden muss, bevor die kapitalistische Gesellschaftsform durch eine andere ersetzt wird. Die ”Eisenbahnen und Dampfschiffe” schaffen selbst noch ebenso wenig Kolonialpolitik wie die Spinnmaschine die niedrigen Arbeitslöhne — beides schaffen die Kapitalisten in ihrer Eigenschaft als Eigentümer der Produktionsmittel und unter Zuhilfenahme der politischen Organisation des Staats. Uns entgegen zu werfen, wir müssten die Eisenbahnen und Dampfschiffe beseitigen, wenn wir die Kolonialpolitik bekämpfen wollen, ist deshalb ebenso albern wie der alte bürgerliche Vorwurf, wir wollten die Fabriken zum Boden schleifen, weil wir die Ausbeutung der Arbeiter beseitigen wollen.

Der ”Poor Man’s Guardian” wollte die Auswanderung verbieten, um so die sozialrevolutionären Kräfte anzusammeln, welche notwendig sind, um die Herrschaft des Kapital zu brechen. Das gelang ihm nicht — was ihm sicher gelang, war, durch diese Kritik der Kolonialpolitik das Klassenbewusstsein der Arbeiter zu wecken und auf diese Weise die sozialrevolutionäre Armee zu sammeln, und insofern erwes sich auch für seine Zeit die von ihm angeschlagene Taktik als die richtige. Wir nun aber, nach 67 Jahren, erklären: die sozialrevolutionäre Armee ist bereits vorhanden. Die Produktions-Entwicklung hat bereits eine derartige soziale Zersetzung geschaffen, dass die soziale Revolution zu einer rein politischen Frage geworden ist. Sie hängt weniger davon ab, ob noch ein China zu erschließen oder eine Eisenbahnlinie zu bauen ist, als davon, wie weit die Organisation und das Klassenbewusstsein des Proletariats fortgeschritten sind. Unsere Kampfesbrüder von 1831 haben sich getäuscht, aber, dass wir jetzt 1898 schreiben, ist uns eine Gewähr dafür, dass wir jetzt mehr Recht haben. Die zwei Menschenalter der geschichtlichen Entwicklung sind nicht umsonst vergangen, und es ist durchaus unlogisch gedacht, dass, was 1831 misslang, weil die Vorbedingungen fehlten, unbedingt auch 1898 fehlschlagen muss. Dass nun der Verzicht auf die Kolonialpolitik für die Kapitalistenklasse den Verzicht auf ihre eigene Existenz bedeutet, wissen wir sehr gut — aber deshalb bekämpfen wir sie. Wir fordern nicht von dem kapitalistischen Staat, dass er eine andre Politik treibe — aber wir erklären, dass wir eine andere Politik treiben wollen — deshalb verweigern wir ihm die Gefolgschaft, agitieren und organisieren die politische Armee, um seinen Sturz und die politische Herrschaft des arbeitenden Volkes herbeizuführen. Nicht durch die Hinderung der Kolonialpolitik wollen wir den kapitalistischen Staat stürzen, sondern wir stürzen ihn mitsamt seiner Kolonialpolitik, und zwar jetzt schon, nicht erst in der blauen Zukunft.

Ed. Bernstein ist konsequent genug, um sich darüber klar zu sein, dass der Verzicht auf eine grundsätzliche Bekämpfung der Kolonialpolitik mit dem sozialrevolutionären Charakter der Sozialdemokratie, wie er bis jetzt aufgefasst wurde, im Sinne der Ergreifung der politischen Macht, um die Produktion sozialistisch umzugestalten, unvereinbar ist. Und mit der Aufrichtigkeit, die ihn stets als Schriftsteller auszeichnete, gesteht er auch offen, dass er sich aus der Idee des ”Zusammenbruchs”, der sozialen Revolution, wie wir sie bis jetzt auf unsre Fahnen schrieben, nichts mehr mache, dass nach seiner Ansicht die Vorbedingungen dazu fehlen und nichts anderes übrig bleibe als die langsame Reformarbeit. Wir haben es hier mit einem vollständigen zugestandenen Gesinnungswechsel eines der wenigen Theoretiker des Sozialismus und der angesehensten Männer der Partei zu tun. Das verpflichtet uns, näher auf die Sache einzugehen.

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