Parvus: Partei-Angelegenheiten [Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 90 (21. April 1898)] Zur Kampfesweise des “Vorwärts”. Wir erhalten vom Genossen G. Ledebour folgende Zuschrift: In der Artikelnummer der “Sozialistischen Monatshefte” habe ich in einem Artikel “Wie die Sozialdemokratie an den Opportunismus gewöhnt wird” nachgewiesen, dass die zeitweilige Redaktion des “Vorwärts” auf die Adoption einer opportunistischen Taktik durch die Partei hinarbeitet, indem sie 1. Ausführungen zu Gunsten einer solchen Taktik veröffentlicht, 2. Erwiderungen eines persönlich Angegriffenen darauf unterdrückt und 3. dann unverfroren opportunistische Gedanken in eigenen Artikeln weiter propagiert. Das alles habe ich unter möglichst knapper eigener Argumentation durch Tatsachen bewiesen, die zum Teil dem Leser der “Sächsischen Arbeiter-Zeitung” bereits bekannt sind. Tatsachen sind hartnäckige Dinge, sie lassen sich nicht aus der Welt schaffen. Absolut unfähig, sachlich zu erwidern, hat die Redaktion des “Vorwärts” ihrem Schmerzgefühl jetzt schon dreimal durch persönliches Geschimpfe Luft gemacht. Die “Sächsische Arbeiter-Zeitung” hat dieses klägliche Gebaren bereits gebührend gekennzeichnet und auch andere Parteiblätter haben ihrer Entrüstung Ausdruck gegeben. Ich könnte meinerseits nunmehr darauf verzichten, mich mit dem Geschimpfe des “Vorwärts” zu befassen, wenn nicht die Redaktion unseres Zentralorgans in ihrem Drange, mich persönlich zu diskreditieren zu dem sehr “geschmackvollen” Mittel der Fälschung gegriffen hätte. Wie ich mich jetzt wieder überzeugt habe, bleibt von derartigen Basilio-Streichen “immer etwas hängen”, wenn man nicht sofort für Entkräftung der Insinuation sorgt. Da nun die Redaktion des “Vorwärts” meine Erwiderung einfach wie früher unterdrücken würde — sie rühmt sich dessen sogar — so bin ich genötigt, abermals die parteigenössische Gastfreundschaft der “Sächsischen Arbeiter-Zeitung” für eine Erörterung in Anspruch zu nehmen. Die Redaktion des “Vorwärts” sagt in ihrer Notiz vom 14. April in Bezug auf meine Ausführungen in den “Soz. Monatsheften”: “… so beneiden wir den Genossen weder um das darin hervortretende Defizit an gutem Geschmack, noch um die hohe Überzeugung der Wichtigkeit seiner Person als des “Schärfers des Parteigewissens”, wie er sich selbst öffentlich bezeichnet hat.” Hätte ich mich selbst öffentlich als den Schärfer des Parteigewissens bezeichnet, so wäre das sicher eine ebenso alberne wie übertriebene Redensart, die zu rügen jeder Parteigenosse berechtigt wäre. Worauf gründet sich aber die Behauptung des “Vorwärts”? Bei der Kandidaten-Versammlung im 3. Berliner Reichstagswahlkreis, in der Heine offiziell durch den Vertrauensmann für die Reichstagskandidatur vorgeschlagen wurde, hatten eine Anzahl Genossen, die wegen Heines vorher schon bekannt gewordener Äußerungen mit dessen Kandidatur nicht einverstanden waren, die einen den Genossen Börner, die anderen mich in Vorschlag gebracht. Ich setzte meine Ansichten, wie ich mir meine Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter denken würde, in einer etwa halbstündigen Rede auseinander. Der Bericht des “Vorwärts” darüber war in etwa 30 Zeilen abgefasst, selbstverständlich in den Worten des Berichterstatters, die, wie das nicht anders zu erwarten, nur den Sinn, nicht den Wortlaut meiner Ausführungen wiedergaben. In diesem Bericht findet sich nun folgender Satz: “Genosse Ledebour bemerkte weiter, er halte es für seine Pflicht, die opportunistische Richtung, deren Gegner in die Minderheit geraten sind, zurückdrängen zu helfen und werde auch — falls er gewählt würde — innerhalb der Fraktion dem Opportunismus entgegenwirken und bestrebt sein, das Parteigewissen zu schärfen.” Durch die indirekte Form konzentriert sich dieser Satz ausdrücklich als Fassung des Berichterstatters. Ich habe aber, wie gesagt, gar nichts dagegen, ihn als sinngemäße Wiedergabe meiner längeren Ausführungen anzuerkennen, und gestehe einem jeden das Recht zu, daran Kritik zu üben. Aber damit hätte ja der “Vorwärts”, um mir etwas anzuhängen, nichts anfangen können und deshalb fälscht er munter darauf los in der ruhigen Zuversicht, dass von seinen 50.000 Abonnenten nur vereinzelte eine Widerlegung zu Gesicht bekommen werden. Er verdreht die Berichterstatterworte dazu, dass ich mich als den “Schärfer des Parteigewissens” bezeichnet hätte, indem er obendrein Gänsefüßchen gebraucht, um den Glauben zu erwecken, er zitierte mich wörtlich. Die Perfidie dieser Kniffe steht völlig in Einklang mit früheren Streichen der “Redaktion”, die durch eine unglückliche Verkettung von Umständen die Leitung unseres Zentralorgans in die Finger bekommen hat. Die “Frankfurter Volksstimme” hat ganz recht: Es wird eine der Aufgaben des nächsten Parteitages sein, da Wandel zu schaffen. Berlin-Halensee, 19. April G. Ledebour Es ist das alte Lied vom “Vorwärts”, das bereits sattsam bekannt ist. Noch nie hat er eine sachliche und offene Antwort gegeben, sondern stets suchte er, entweder durch schwülstige oder verschwommene Redensarten die Spuren seiner eigenen Albernheiten zu verwischen, oder seinem Gegner die Worte im Munde umzudrehen, dass auf ihn ein gehässiger oder lächerlicher Schein fällt, oder beides zugleich. In dem Verballhornisieren von allem, was geschieht, hat die Redaktion des “Vorwärts” sogar unbestreitbar eine gewisse Fingerfertigkeit erlangt. Man sehe, wie schlau sie es in diesem Fall gemacht hat. Statt die von Ledebour angeführten Tatsachen zu widerlegen, wirft sie ihm das Stinkgeschoss nach: Seht diesen eitlen Menschen! Er nennt sich selbst den Schärfer des Parteigewissens!” Das ist zwar gar nicht wahr, aber was wollt Ihr nun dagegen tun? Wollt Ihr es einfach ignorieren? Dann bleibt es eben hängen. Die Spitze liegt ja in der giftigen Insinuation, dass es Ledebour nur auf die Befriedigung seiner persönlichen Eitelkeit ankommt, dass es ihm gar nicht ernst um die Sache ist, dass er sich nur den Nimbus eines “Schärfers des Parteigewissens” geben will. Für diese Behauptungen fehlt zwar jeder Beweis — warum hat sich ja auch die Redaktion gehütet, den Vorwurf direkt zu erheben — aber man hat es dem Leser deutlich zu verstehen gegeben, und sie stehen schon unter einem gewissen Eindruck, sie sind gegen den Mann voreingenommen. Sich dagegen wehren? Dann heißt es, “der Mann muss doch sehr eitel sein, wenn er wegen einer solchen Lappalie zur Feder greift.” Der Pfeil ist heraus, aber das Gift bleibt stecken, und die Redaktion des “Vorwärts” wird selbstverständlich nicht verfehlen, noch eine Dosis hineinzutröpfeln. Schließlich, wenn man sie hart anpackt, so erklärt sie, sie habe es doch gar nicht so böse gemeint und schreibt etwa, sie habe nicht vermutet, dass Ledebour sich beleidigt fühlen würde, wenn man ihn einen Schärfer des Parteigewissens nennt, oder Ähnliches!… Es ist für alle Fälle gesorgt, nur für den einen nicht: dass man das ganze Gebaren dieser Redaktion aufdeckt! Doch freilich dann — schweigt sie. Auch das ist ein Kampfmittel, obwohl ein passives. Wenn die 50.000 Abonnenten des “Vorwärts davon Kenntnis hätten, was dieser ihnen bereits alles unterschlagen hat, die er z.B. auch jetzt, abgesehen schon vom Fall Heine, auch in der Bernstein-Angelegenheit, die seit mehreren Wochen die gesamte Parteipresse beschäftigt, nur die Auslassungen Bernsteins getreulich und schleunigst wiedergibt, aber nicht ein einziges Wort von dem, was in der Parteipresse gegen Bernstein geschrieben wurde, obwohl viele Parteizeitungen in energischer Weise und mit vielen sachlichen Gründen gegen Bernstein aufgetreten waren, sie würden aufschreien vor Wut und Empörung, denn das Spiel, welches mit ihnen da getrieben wird, ist empörend. Es sind aber leider nur wenige Arbeiter in der Lage, neben dem “Vorwärts” noch ein anderes Parteiblatt regelmäßig zu verfolgen, und darauf spekuliert die Redaktion. So fasst sie die wichtigste politische Aufgabe der Presse auf: Aufklärung zu verbreiten! Ihr dient das Zentralblatt vielmehr dazu, die sozialrevolutionäre Aufklärung zu hintertreiben. |