Spartakusbriefe‎ > ‎

Politische Briefe Nr. 16 19160330

NR. 16 VOM 30. MÄRZ 1916

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 127-133]

POLITISCHE BRIEFE

30. März 1916

W. G.!

Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen.

Mit Parteigruß Spartacus

NÜCHTERNE PRÜFUNG UND SCHARFE ENTSCHEIDUNG

Was war am 24. März 1916?

Die achtzehn Abgeordneten, die endlich am 21. Dezember 1915 die fünften Kriegskredite öffentlich verweigert hatten, stimmten nun, drei Monate danach, öffentlich gegen den Notetat. Und die am 21. Dezember 1915 zur Begründung der Kreditverweigerung eine Erklärung abgegeben hatten, suchten nun, drei Monate danach, die Etatverweigerung durch eine Rede zu motivieren.

Der Inhalt der Rede ging über eine Umschreibung der „Erklärung" vom 21. Dezember kaum hinaus. Selbst die „gesicherten Grenzen" kehrten wieder.

Was machte den 24. März zur Sensation?

Das wüste Geheul der Fraktionsmehrheit im Bunde mit den bürgerlichen Parteien, das skandalöse Eingreifen des Präsidenten, die Entfernung der achtzehn aus der Fraktion. Aber dabei waren die achtzehn Objekt und nicht Subjekt. Das war von ihnen so wenig gewollt, dass sie noch im Januar 1916 öffentliche Zusammenstöße mit der verräterischen Fraktionsmehrheit, ja sogar heftige Szenen mit den bürgerlichen Parteien burgfriedlich zu vermeiden suchten und dass sie jetzt nach dem 24. März die Miene der gekränkten Unschuld und nicht die geballte Faust der Rebellion zeigen.

Was bedeutet der 24. März?

Ein sicheres Urteil lässt sich nur im größeren Zusammenhang gewinnen.

Die neue „Arbeitsgemeinschaft", das sind dieselben achtzehn, die wir am 27. Januar betrachteten, dieselben, die noch am 22. März in der U-Boot-Frage und am 23. März bei der ersten Etatberatung völlig versagt hatten. Dass sie vom 23. bis 24. März, buchstäblich über Nacht, andere geworden seien, beweist der 24. März nicht. Wohl aber gibt es gute Gründe für das Gegenteil.

Gerade jetzt sind jene „Losen Blätter" erschienen. Sie stammen aus Kreisen, die hinter den achtzehn und der von uns am 9. März gekennzeichneten Berliner Opposition stehen. Sie bieten nicht einmal den Ansatz zu einer grundsätzlichen Erörterung der wichtigsten politischen Probleme. „Keine indirekten, sondern direkte Steuern!", darin erschöpft sich das Steuerprogramm der „Losen Blätter" im Weltkrieg. In unseren Beschlüssen1 heißt es:

Der Regierung des Belagerungszustandes, der sozialen Pflichtvergessenheit, des Lebensmittelwuchers, des Volksbetrugs und der Massenentrechtung, der Regierung des imperialistischen Kriegs ist jede materielle und moralische Unterstützung zu versagen. Während des Kriegs dient jede Steuer, die an sich ,gerecht' oder ,ungerecht', dem Krieg und seiner Verlängerung; Verweigerung aller Kriegssteuern, Sperrung aller finanziellen Mittel ist ein Gebot des Kriegs gegen den Krieg, der die Untergrabung der Regierungsmacht auf allen Gebieten fordert."

Den „Losen Blättern" ist der politische Leitstern in der Steuerfrage noch nicht aufgegangen. Nicht einmal die Einsicht des Chemnitzer Parteitagsbeschlusses, dass auch direkte Steuern auf die Massen abgewälzt werden können, dass die Lastenverteilung schließlich eine Machtfrage ist, nicht von der Steuerreform abhängt, sondern von der politischen und ökonomischen Gesamtlage, und dass so die Steuerpolitik ein organisches Stück der Gesamtpolitik darstellt. Nicht einmal die Einsicht, dass die schönste direkte Steuer, auf ein System indirekter Steuern aufgeschustert, nur allzu leicht zum schützenden Feigenblatt dieses Systems, zum Schlagbaum gegen seine gründliche Umgestaltung, zum Wegbahner für neue indirekte Steuern wird.

Unter der Marke „Wie lange noch?" reden die „Losen Blätter" vom Krieg, mit sentimentalen Wendungen und flügelmännisch-beschwörenden Gebärden, ohne ein Wort von den imperialistischen Triebfedern, die mit gesellschaftlicher Notwendigkeit zum Krieg geführt haben. „Unvermeidlich war der Krieg nur, weil der Mangel (??) an rechtzeitiger Erkenntnis des Notwendigen den sog. Staatenlenkern auf beiden Seiten gefehlt und sie zum Spielball von Kriegsinteressenten gemacht hat" – also der Krieg im Grunde eine Unvernunft der Regierungen! Dazu die Weisheit vom imperialistischen „Irrgarten", von der berühmten „Sackgasse", aus der die törichten Staatenlenker nur eben keinen Ausweg finden, so dass die „Losen Blätter" aus der Patsche helfen müssen! Wirklich ein böses Sammelsurium.

Und die Haltung der „Arbeitsgemeinschaft" bei ihrer ersten Probe in der Budgetkommission? Nachdem sie noch zwei Tage vor ihrer Verselbständigung die Verschleppung in der U-Boot-Frage2 geduldet hatte, versuchte sich ihr Vertreter in der Budgetkommission an der Humanisierung der Kriegsgräuel, indem er ein Verbot des warnungslosen Torpedierens forderte. Er erkannte noch immer nicht, dass es sich bei der U-Boot-Frage in erster Reihe um eine Frage des Kriegsziels handelt, um einen Kampf verschiedener Kapitalistenfraktionen um die Herrschaft in der Kriegspolitik und um eine kriegspolitische Scharfmacherei gröbsten Kalibers; zugleich um ein Stück innerpolitischen Machtkampfes und trotz alledem auch um ein Spiel mit verteilten Rollen: eine Wiederholung der schon öfter aufgeführten Hintertreppenkomödie, die den von Westarp und Bassermann bedrängten Reichskanzler als liberalen Staatsmann und gemäßigten Imperialisten popularisieren soll, nicht zuletzt, um so die Verräterpolitik der Partei- und Gewerkschaftsführer zu erleichtern. Er brachte es gar fertig, die Frage der Abschaffung des Seebeuterechts auch jetzt wieder aufzuwerfen und damit materiell gegen England zu hetzen, statt der deutschen Regierung, just da sie vor den wildesten Kriegsscharfmachern kapitulierte, den Daumen aufs Auge zu drücken: eine Fortsetzung der Ledebourschen „Baralong"-Politik vom 15. Januar3!

Gleichviel ob alle achtzehn, ob alle Anhänger der „offiziellen" Berliner Opposition die Aufsätze der „Losen Blätter" unterzeichnen, dieses Verhalten ihrer Parlamentarier billigen: Kreise, in denen solche Anschauungen an maßgebender Stelle vertreten werden, sind von prinzipieller Politik weit genug entfernt, mögen sie noch so lebhaften Anspruch darauf erheben. Die äußerliche Sammlung eines bunten Gemischs mehr oder weniger unklarer Oppositionsstimmungen und -motive bildet stets eine ernste Gefahr – die ernsteste in den Tagen einer Weltwende. Sie wirkt verwirrend; sie verbreitet die Seuche des Fortwurstelns; sie entzieht den tatkräftigen Elementen, die in die bunte Gemeinschaft geraten, ihre besten Kräfte, die sie fesselt und lähmt.

Welche Folgerungen ergeben sich für uns aus alledem?

Die Warnung vor kritiklosem Überschwang bei Einschätzung des 24. März und der achtzehn. Die Mahnung, die Augen aufzuhalten, nicht zu vergessen, dass vorbehaltloser Anschluss an die Aktion vom 24. März das sicherste Mittel wäre, die neue Fraktion zu einer Schutzvorrichtung für die Regierungspolitik und den 24. März zu einem geschichtlichen Spuk zu machen, so wie der 21. Dezember durch das Verhalten der achtzehn im Januar 1916 schon zu einem geschichtlichen Spuk geworden war.

Und eine doppelte Lehre.

Was der 24. März etwa an Fortschritt bietet, es ist nicht zuletzt der rücksichtslosen radikalen Kritik aller Halbheit entsprossen; es bestätigt die Fruchtbarkeit dieser Kritik für die Stärkung des oppositionellen Geistes.

Jene Taktik aber des vorsichtigen Lavierens, des Ausweichens vor schroffem Kampf, vor klaren Entscheidungen ist gerade durch den 24. März gerichtet. Vor der Posaune des Weltkriegs krachen alle Kompromisse elend zusammen. Wer zwischen kämpfenden Heeren herumirrt, wird im Kreuzfeuer zusammengeschossen, wenn er sich nicht in der letzten Not zu denen hüben oder zu denen drüben rettet, wo er dann freilich nicht als ein Held, sondern als ein Flüchtling anlangt. Der Weg der achtzehn war nur ein weiter Umweg und kein erfreulicher. Kein Vorteil, der von ernsten Politikern in dieser ernsten Zeit geschätzt werden könnte, ist durch die Verzögerung erzielt. Die Massen waren wahrlich reif, viel früher, gleich im Beginn des Krieges, auf die entscheidende Probe gestellt zu werden. Sie hätten nicht versagt. Der einzige „Erfolg" des Zauderns und Schwankens ist die Ausbreitung des opportunistischen Geistes, ein Vorteil des Sumpfes.

Ganze Grundsätze, ganzer Kampf, ganze Entscheidung! Ganzer Kampf, sozialistischer Kampf gegen den Krieg. Gegen den Krieg, gegen die, die ihn entfesselt haben, die ihn führen, denen er dient und die ihn unterstützen – als Helfershelfer des Imperialismus; auch gegen die Helfershelfer, die den Namen Sozialdemokrat schänden, indem sie ihn tragen. Gegen die Politik der Fraktionsmehrheit, gegen Parteivorstand und Parteiausschuss, gegen die Generalkommission der Gewerkschaften und alle Partei- und Gewerkschaftsinstanzen, die diese verräterische Politik betreiben. Gerade sie mit allen Mitteln unschädlich zu machen ist jetzt ein Hauptstück des Krieges gegen den Krieg. Ecrasez l'infâme.4

Längst haben wir die Fahne der Empörung gegen sie erhoben. Jetzt tritt die Rebellion in das Stadium der äußersten Verschärfung. Es geht ums Ganze: Kampf um die Partei, nicht gegen die Partei – wie die Demagogen der Mehrheitspolitik lügen. Kampf für die Demokratie in der Partei, für die Rechte der parteigenössischen Massen, gegen die pflichtvergessenen Führer, die heute die stärksten Stützen des Krieges sind, die die im Frieden erschlichenen Zügel der proletarischen Klassenbewegung in die Hände der Militärdiktatur gespielt haben, als deren allergetreueste Mameluken sie jetzt in den Vorzimmern des Generalstabs und der Ministerien herumscharwenzeln.

Jetzt ist die Stunde, die letzte Rücksicht abzustreifen. Die Parteiinstanzen haben ihre Verräterei und Obstruktion zum Gipfel getrieben. Immer skrupelloser verwenden sie den Organisationsapparat zur Durchzwingung ihrer Politik. Längst hatten sie den Stab über sich gebrochen. Nachdem sie selbst eine so schwächliche Opposition wie die der achtzehn nach Puttkamerschen Rezepten geknebelt und gebüttelt, nachdem sie zur Erdrosselung selbst dieser Opposition die verruchten Methoden preußisch-russischer Polizeiwirtschaft angewendet haben, Arm in Arm mit den Oertel und Bassermann ihr Jahrhundert in die Schranken fordernd, nachdem die Ebert und Scheidemann die „Baralong"-Politik eines Noske zum System erhoben, nachdem sie sich in dem berüchtigten gemeinsamen U-Boot-Antrag der Budgetkommission mit den schlimmsten Scharfmachern der Eroberungspolitik solidarisch erklärt und ohne jede Bemäntelung für das imperialistische Kriegsziel, für die deutsche „Seegeltung", eingesetzt haben – nach alledem haben sie selbst für die vorsichtigsten Gemüter, die noch einen Funken sozialistischen Bewusstseins in sich tragen, den letzten Anspruch verwirkt, als Vertreter der deutschen Sozialdemokratie angesehen zu werden. Sie sind nicht nur Unwürdige und Verräter – sie sind Usurpatoren ihrer Ämter, ihrer Mandate. Sie müssen aus diesen Ämtern und Mandaten schimpflich verjagt werden.

Staatsstreich auf Staatsstreich haben sie gehäuft. Immer schamloser werden ihre Eingriffe in die Selbständigkeit der Parteipresse. Soweit ihre Macht reicht, führen sie, Recht und Parteistatut verhöhnend, eine Zensur ein, vor der die Zensur der Militärdiktatur verblasst. Jetzt erdreisten sich diese gelehrigen Schüler des Belagerungszustandes, der „Vorwärts"-Redaktion die Verfügung über das Druckereipersonal und über den technischen Apparat, den der Parteivorstand nur als Treuhänder der parteigenössischen Massen verwaltet, rechtswidrig zu entziehen. Ihr sauberer Plan ist, die „Vorwärts"-Redaktion auf die Knie vor der Fraktionsmehrheit zu zwingen oder ob ihres Widerstandes gegen die Verräterpolitik zu beseitigen und durch eine Redaktion nach dem Herzen Bethmann Hollwegs, ihres Schutzpatrons, zu ersetzen. Solche Rücksichtslosigkeit kann nur durch größere Rücksichtslosigkeit niedergerungen werden.

Unsere Resolution sagt:5

Gegenüber der Verräterei und Obstruktion, die heute von Partei- und Gewerkschaftsinstanzen unter Missbrauch der Losungen ,Disziplin' und ,Einigkeit' und unter Ausnutzung des Organisationsapparates betrieben wird, um die Arbeiterschaft den Zwecken der imperialistischen Klassen dienstbar zu machen, ist der zielklare sozialistische Wille der proletarischen Massen bei jeder Gelegenheit von unten auf rücksichtslos durchzusetzen, um die Organisation ihrem Berufe wieder zuzuführen: als schneidige Waffe des Klassenkampfes zu dienen."

Das gilt es, jetzt zur Wahrheit zu machen.

Von unten auf! Die breitesten Reihen der Genossen in Partei und Gewerkschaft müssen aufgerufen werden: zum Kampf um die Partei, für die Partei! Vor aller Öffentlichkeit muss die Verräterei gebrandmarkt werden. Keinen Burgfrieden mehr für sie! Der Kampf gegen sie ist in die Parlamente zu tragen und unerbittlich zu führen als ein integrierender Teil, als das wichtigste und dringendste Stück des Kampfes gegen Regierung und Krieg. Bei jeder Gelegenheit muss öffentlich festgestellt werden, dass jene Instanzen keine Vertreter des Proletariats mehr, sondern Klopffechter der herrschenden Klassen sind. Die Verräter-Abgeordneten müssen zur Niederlegung der Mandate, die Verräter-Funktionäre zur Niederlegung ihrer Ämter gezwungen werden. Weigern sie sich, den Willen der Mitglieder auszuführen, so haben die Massen ihren eigenen Willen selbst zu vollziehen. Weigern sie sich, Generalversammlungen und Sitzungen zu veranstalten, so müssen sie von den Massen beiseite gestoßen, so müssen die Veranstaltungen über ihre Köpfe hinweg von den Massen selbst getroffen werden. Alle finanziellen Mittel sind diesen Kammerdienern der herrschenden Klassen zu sperren: dem Parteivorstand und allen Instanzen und Funktionären, die die Kürassierstiefel küssen, die auf den Arbeitermassen herum trampeln. Keinen Groschen mehr denen, die alle Mittel nur gegen das Proletariat, gegen die heiligsten Interessen des internationalen Sozialismus missbrauchen. Die Fesseln dieser Parteibürokratie müssen gesprengt werden.

Nicht Spaltung oder Einheit, nicht neue Partei oder alte Partei heißt die Parole, sondern Zurückeroberung der Partei von unten auf durch Rebellion der Massen, die die Organisationen und ihre Mittel in eigene Hände nehmen müssen, nicht durch Worte, sondern durch Taten der Rebellion.

Fort mit allen Halbheiten und Zaghaftigkeiten! Fort mit allem Kompromiss und Sumpf! Fort mit den Lauen, den Schwachherzigen und Weichmütigen! Sie können heute nicht bestehen. Sie taugen nichts, wo es hart auf hart geht.

Der Entscheidungskampf um die Partei hat begonnen. Er muss ohne Erbarmen mit den Tempelschändern, mit den Fahnenflüchtigen, mit den Überläufern des Sozialismus geführt werden.

Diesem System der Parteipolitik keinen Mann und keinen Groschen, sondern Kampf aufs Messer!

Und wer dabei nicht für uns ist, der ist wider uns.

1 Siehe Politische Briefe Nr. 17, Anlage III

2 Am 28. Februar 1916 gab die deutsche Regierung Anweisung zur warnungslosen Torpedierung bewaffneter feindlicher Handelsschiffe. Die oberste Marineleitung verlangte sogar — allerdings vorläufig vergeblich — den verschärften U-Boot-Krieg auch gegen Schiffe neutraler Länder. Die Behandlung der U-Boot-Frage im Reichstag wurde mit Hilfe der sozialdemokratischen Fraktion verhindert. Als Karl Liebknecht in der Reichstagssitzung am 22. März 1916 gegen die Kriegspolitik und die „Fortsetzung der diplomatischen Geheimpolitik im Parlamente" energisch protestierte, wurde er von der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft nicht unterstützt.

4 Zerschmettert die Niederträchtige. (Ein von Voltaire häufig polemisch gebrauchter Ausdruck gegen die Kirche.)

5 Siehe Politische Briefe Nr. 17, Anlage III

Kommentare