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Zur Information Nr. 8 19150300

NR. 8 VON 1915

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 60-64]

ZUR INFORMATION

DIE „HUMANITÉ" ÜBER MÜLLERS BESUCH VOM 1. AUGUST 1914 IN PARIS

Um den angeblich unzutreffend durch Südekum in Italien gegebenen Bericht über Müllers Besuch zu widerlegen, hatte Pierre Renaudel in der „Humanité" vom 26. Februar 1915 eine Darstellung gegeben, die jetzt im Wesentlichen durch einen gleichfalls in dem französischen Parteiblatt veröffentlichten Brief des belgischen Genossen Henri de Man bestätigt und ergänzt wird. Wir geben nachstehend den Wortlaut in Übersetzung.

P. S.

L’Humanité" vom 4. März 1915

Eine Bestätigung

Ich habe vom Bürger Henri de Man nachstehenden Brief erhalten, welcher bestätigt, was ich vor einigen Tagen hier zur Kenntnis gebracht habe über den durch Müller, Mitglied des Parteivorstandes, der französischen sozialistischen Partei vor der Kriegserklärung abgestatteten Besuch. Das Zeugnis Henri de Mans ist besonders schätzbar. Unser Genosse war in Brüssel den Sekretariatsdiensten des Internationalen Sozialistischen Büros zugeteilt. In dieser Eigenschaft und als Übersetzer begleitete er Müller. Unser Freund de Man ist gegenwärtig Unterleutnant der belgischen Armee.

Pierre Renaudel


Sonntag, den 28. Februar 1915

Mein teurer Renaudel!

Durch die „Humanité" von vorgestern sehe ich, dass Dich eine ungenaue Darstellung über Müllers Besuch vom 1. August, weiterverbreitet durch Südekum in Italien, gezwungen hat, die Sache richtigzustellen.

Ich habe unglücklicherweise die Notizen zerstört, deren ich mich bediente, um während der zwei Zusammenkünfte, die Müller mit der sozialistischen Kammerfraktion hatte, meine Übersetzertätigkeit auszufüllen. Aber, bevor sich meine Erinnerungen trüben, bestätige ich Deine Darstellung von Müllers Besuch, ihr damit eine größere Genauigkeit verleihend. Du darfst von meinem Schreiben den Gebrauch machen, den Du für nützlich hältst.

Müller war tatsächlich für den Parteivorstand gereist, nicht um dem Leichenbegängnis für Jaurès beizuwohnen, von dessen Tod er erst im Verlauf seiner Fahrt in Brüssel erfuhr, sondern zu dem Zweck der gegenseitigen Information. Das war sein wirklicher Auftrag. Der Parteivorstand hielt sich für verpflichtet, die französischen Genossen über den Stand der Dinge und über den Geist in Deutschland zu informieren und wollte sich gleichzeitig unterrichten über die voraussichtliche Haltung der französischen sozialistischen Kammerfraktion bei der Abstimmung über die Kriegskredite. Er wünschte die Auskünfte im Hinblick auf die für kommenden Dienstag angezeigte Sitzung des Reichstages, welcher eine Sitzung der Reichstagsfraktion vorangehen sollte, wo diese ihre Haltung in Betreff der Kredite für den Krieg festlegen werde.

Müller wurde empfangen nicht „in einer unerhörten Weise", wie Südekum sagt, sondern mit einer außergewöhnlichen Herzlichkeit, die die tragischen Umstände des Augenblicks besonders ergreifend machten.

Sobald wir in die Sitzung eingetreten waren, präzisierte Müller die Bedeutung seiner Mission und der Erklärungen, die er abzugeben gekommen war, darüber sagend, dass weder der Parteivorstand noch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Frage ihrer Haltung bezüglich der Kriegskredite diskutiert hätte und dass sich übrigens die Situation noch ändern könne. Bevor sie das nicht getan, würde er sich darauf beschränken, die Situation der sozialistischen Partei Deutschlands im Augenblick seiner Abreise so objektiv als möglich darzulegen. Er fügte hinzu, dass die deutschen Sozialisten in ihrer Mehrzahl wünschten, bevor sie selbst Stellung nehmen, sich über die voraussichtliche Haltung der französischen Genossen zu unterrichten, um, wenn möglich, für sich eine ähnliche Richtlinie verfolgen zu können.

Müller erklärte in formeller Weise und zu verschiedenen Malen, dass eine Abstimmung der sozialdemokratischen Fraktion zugunsten der Kriegskredite ganz gewiss nicht zu erwarten sei. „Dass man für die Kriegskredite stimmt, das halte ich für ausgeschlossen" (im Original deutsch), waren seine wirklichen Ausdrücke. Es waren, erklärte er, unter den Führern der Partei und unter den Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion nur zwei nennenswerte Meinungen: die zugunsten der Abstimmung gegen die Kriegskredite; die andere die Stimmenthaltung befürwortend. Die Anhänger der Abstimmung gegen schienen übrigens, fügte er hinzu, in der Mehrzahl zu sein gegenüber denjenigen der Stimmenthaltung.

Auf den Hinweis eines französischen sozialistischen Deputierten, dass ein brutaler und plötzlicher Angriff von Seiten eines der an dem Konflikt interessierten Länder inzwischen einen Fall der rechtmäßigen Verteidigung des [einen] oder [mehrerer] der angegriffenen Länder schaffen könnte, erklärte Müller als die Meinung der deutschen Sozialisten, die Unterscheidung zwischen angreifenden und angegriffenen Staaten, welche die Sozialisten unlängst noch als wesentlich erwogen haben, sei überholt. Der gegenwärtige Konflikt leite sich ab von allgemeinen Ursachen, welche zusammenlaufen in der imperialistisch-kapitalistischen Bewegung, und die Verantwortung dafür falle auf die herrschenden Klassen aller interessierten Länder zurück. Müller erklärte dann, er betrachte die Hypothese als höchst unwahrscheinlich, dass die Ereignisse eines der beteiligten Länder als den einzigen Angreifer erscheinen lassen würden (wie wenn z. B. die russische Armee plötzlich einen Einfall in die östlichen Provinzen Deutschlands machte); die einzige Hypothese, fügte er hinzu, wo die Sozialdemokratie eines Landes dieses als im Zustand rechtmäßiger Verteidigung betrachten könnten. Gerade deshalb, weil die Hypothese wenig wahrscheinlich wäre, fügte er hinzu, wäre es wünschenswert, dass die Sozialisten in allen Ländern eine nahezu identische Haltung einnehmen, namentlich auf beiden Seiten der Vogesen.

Der Meinungsaustausch, welcher darauf folgte, hatte gezeigt, dass die französischen Genossen überzeugt waren, die Regierung der Republik wolle aufrichtig die Erhaltung des Friedens, und dass in Konsequenz dessen, wenn der Krieg trotzdem ausbräche, sie nur zwischen zwei Alternativen zu wählen hätten: der Alternative zugunsten der Kriegskredite oder Stimmenthaltung. Müller schloss sich schließlich der Meinung an, die durch den Präsidenten der Sitzung zum Ausdruck gebracht wurde, dass die Stimmenthaltung das einzige Mittel sein würde, um die Einheitlichkeit der Aktion der sozialistischen Parteien von Frankreich und Deutschland zu sichern. Überdies blieb vorausgesetzt, dass in dieser Hinsicht keine Vereinbarung getroffen werden könne und dass der Austausch der Meinungen, der soeben stattgefunden hatte, kein anderes Ziel haben würde, als gegenseitig die Entscheidung zu erleichtern, die im entscheidenden Moment jede der beiden Parteien ihrerseits in voller Autonomie fällen würde, aber mit dem Wunsche, soweit wie möglich die internationale Einheitlichkeit der Aktion des Proletariats zu wahren.

In Summa: die Erklärungen Müllers hinterließen den sehr klaren Eindruck:

1. dass die Majorität der deutschen sozialdemokratischen Fraktion dem Votum gegen die militärischen Kredite günstig gestimmt sei;

2. dass, wenn trotzdem die Anhänger der Stimmenthaltung die Überhand gewinnen sollten, dies hauptsächlich geschähe, um die Einheitlichkeit mit den französischen Sozialisten zu bewahren;

3. dass die einzige Hypothese, die nicht ins Auge zu fassen wäre, die der Abstimmung der deutschen Sozialdemokraten zugunsten der Kriegskredite sei.

Damit über die Tragweite meiner Erklärung kein Zweifel möglich ist, möchte ich hinzufügen, dass sich mein Freund Müller vollkommen im guten Glauben befand und dass seine Erklärungen übrigens sehr wahrscheinlich in einer sehr genauen Weise den Geisteszustand der Führer der deutschen Sozialdemokratie bis zu den letzten Julitagen verdeutlichten.

Ich benutze die Gelegenheit, mein lieber Renaudel, um Dir meine volle Bewunderung auszudrücken für die mutige und klare Art, in welcher die „Humanité" hauptsächlich seit der Konferenz von London1 den sozialistischen Standpunkt verteidigt in dem Kampf, den wir gegen den preußischen Militarismus führen. Man kann sagen, belgische Sozialisten, die sich gegenwärtig unter den Waffen befinden – zum großen Teil als Freiwillige –, würden sich genauso wie die französischen Kameraden, nicht schlagen, wie sie es tun, wenn sie nicht wüssten, dass der Einsatz des Kampfes weder die Eroberung deutschen Landes noch die Zerstörung der nationalen deutschen Einheit ist, sondern im Gegenteil, die Befreiung der Nationalitäten, die Unterwerfung des preußischen Junkertums, das Ende selbst des Krieges und des Militarismus.

Herzlichst Dein

H. de Man

Müller hat durch eine Erklärung, die kürzlich durch die Parteipresse ging, einzelne Teile der Darstellung des Genossen de Man ausdrücklich bestätigt, die andern jedoch nicht berichtigt, so dass man sie also wird als zutreffend ansehen dürfen. Die Tatsache bleibt also bestehen, dass die deutschen Parteiführer innerhalb 24 Stunden „umgelernt haben".

P. S.

AUS DER REDE DES HERRENHAUSPRÄSIDENTEN, GRAFEN VON WEDEL-PIESDORF, VOM 15. MÄRZ 1915 WIEDERGEGEBEN NACH DEM AMTLICHEN STENOGRAMM, S. 685

Nach einem längeren historischen Exkurs führte dieser Herr über die Friedensaussichten wörtlich aus:

Wir haben den größten Teil unserer Kolonien verloren. Das ist schmerzlich, aber nicht von entscheidender Bedeutung. Dagegen ist der deutsche Boden mit Ausnahme einiger Dörfer im Elsass frei von Feinden, und wir sind in der Lage, Belgien und einen großen Teil von Frankreich und Polen als in unserer Macht befindlich zu betrachten. Man kann aussprechen, dass damit das Vorhaben unserer Feinde, Deutschland zu vernichten, zuschanden geworden ist, dass wir insofern als Sieger dastehen.

Und wenn wir weiter nichts wollten, als diesen Angriff abschlagen, so glaube ich, würde es nicht allzu schwer sein, einen Frieden in kurzer Frist zu erlangen. Damit kann aber Deutschland sich nicht befriedigt erklären. (Lebhaftes: „Bravo!") Nach den ungeheuren Opfern, die wir gebracht haben, an Menschen sowohl wie an Hab und Gut, müssen wir mehr fordern.

Wir können das Schwert erst wieder in die Scheide stecken, wenn Deutschland eine Sicherung erlangt hat dagegen, dass in ähnlicher Weise wie diesmal die Nachbarn wieder über uns herfallen. Worin diese Sicherung bestehen soll, meine Herren, das vermag ich nicht auszusprechen. Wenn man das aussprechen wollte, müsste man in eine Diskussion der Friedensbedingungen eintreten, und das würde ich im jetzigen Augenblick, wo die Entscheidung noch so ungewiss ist, den deutschen Interessen nicht förderlich halten." („Sehr richtig!") „Ich bemerke, dass zahlreiche Mitglieder dieses Hauses mich gebeten haben, dies auch in ihrem Namen auszusprechen." („Bravo!")

1 Gemeint ist die Londoner Konferenz der Sozialisten der Ententemächte vom 14. Februar 1915.

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