Leo Trotzki: Meine Rede vor Gericht (gehalten in der Sitzung der Besonderen Delegation des Petersburger Obergerichtshofes am 17. Oktober 1906) [Nach Russland in der Revolution. Druck und Verlag von Kaden & Comp., Dresden 1910, S. 282-295] Meine Herren Richter und Ständevertreter! Gegenstand der gegenwärtigen Gerichtsverhandlung wie auch des Untersuchungsverfahrens ist hauptsächlich die Frage über den bewaffneten Aufstand, eine Frage, die – wie sonderbar das auch dem Gerichtshof erscheinen mag – während der fünfzigtägigen Existenz des Arbeiterdelegiertenrates auf keiner seiner Sitzungen aufgeworfen worden sie. Auf keiner unserer Sitzungen wurde die Frage über den bewaffneten Aufstand als solche weder aufgeworfen noch debattiert, – ja noch mehr: auf keiner unserer Sitzungen wurde die Frage über die konstituierende Versammlung, über die demokratische Republik, ja sogar über den allgemeinen Streik als solchen, die Frage seiner prinzipiellen Bedeutung als einer Methode des revolutionären Kampfes weder angeregt noch selbständig debattiert. Diese fundamentalen Fragen, die während einer ganzen Reihe von Jahren zuerst in der revolutionären Presse und darauf auf Meetings und Versammlungen debattiert wurden, hat der Arbeiterdelegiertenrat nicht in den Kreis seiner Verhandlungen gezogen. Ich werde im Weiteren darauf zurückkommen, wodurch dieser Umstand erklärt wird, und werde auch den Standpunkt des Delegiertenrates in der Frage des bewaffneten Aufstandes präzisieren. Doch bevor ich zu dieser vom Standpunkte des Gerichtes zentralen Frage übergehe, erlaube ich mir, die Aufmerksamkeit des Gerichtshofes auf eine andere Frage zu lenken, die im Verhältnis zur ersten als eine mehr allgemeine, doch nicht minder akute erscheint: auf die Frage über die Anwendung von Gewalt überhaupt. Sah sich der Delegiertenrat in Gestalt dieses oder jenes seiner Organe berechtigt, in bestimmten Fällen Gewalt und Repressivmaßregeln anzuwenden? Auf diese in so allgemeiner Form gestellte Frage antworte ich: Jawohl! Ich weiß es nicht minder gut wie der Vertreter der Anklage, dass das Monopol der Gewalt- und Repressivmaßregeln in jedem „normal" funktionierenden Staatswesen, unabhängig von seiner äußeren Form, der Regierung gehört. Das ist ihr „unverrückbares“ Recht, und dieses Recht behütet sie mit eifersüchtiger Sorgfalt, darüber wachend, dass keine private Korporation ihr Monopol antaste. Die staatliche Organisation kämpft auf diese Art um ihre Existenz. Es genügt, sich die moderne Gesellschaft, diese komplizierte widerspruchsvolle Kooperation – sagen wir in solch einem ungeheuren Lande wie Russland – zu vergegenwärtigen, um sofort zur Erkenntnis zu gelangen, dass bei der jetzigen, von inneren Widersprachen zerrissenen sozialen Ordnung, Repressalien ganz unvermeidlich sind. Wir sind nicht Anarchisten, wir sind Sozialisten. Die Anarchisten nennen uns „Staatsrechtler", denn wir erkennen die historische Notwendigkeit des Staates an und folglich die historische Unvermeidlichkeit der staatlichen Repression. Allein bei den vom allgemeinen politischen Streik geschaffenen Bedingungen, dessen Wesen darin besteht, dass er den staatlichen Mechanismus lahmlegt, erwies sich die alte längst überlebte Regierungsgewalt, gegen die der politische Streik eben gerichtet war, als vollkommen unfähig, etwas zu unternehmen; sie war vollkommen außerstande, die öffentliche Ordnung sogar mit jenen barbarischen Mitteln zu regulieren und aufrecht zu erhalten, die allein zu ihrer Verfügung standen. Unterdessen hatte der Streik hunderttausende Arbeiter aus den Fabriken auf die Straße geworfen, zu öffentlich-politischem Leben erweckt. Wer konnte die Leitung dieser Massen übernehmen, wer Disziplin in ihre Reihen tragen? Welch ein Organ der alten Regierungsgewalt? Etwa die Polizei? Oder die Gendarmerie? Oder die politische Schutzabteilung? Ich frage mich – wer konnte das? Und finde keine Antwort. – Niemand, mit Ausnahme des Arbeiterdelegiertenrates! Der Delegiertenrat, der diese ungeheuren Massen beherrschte, stellte sich die unmittelbare Aufgabe, die inneren Reibungen in ihrer Mitte auf ein Minimum zu reduzieren, Exzesse abzuwenden und die Zahl der unvermeidlichen Opfer des Kampfes möglichst zu verringern. Unter diesen Bedingungen war der Delegiertenrat im politischen Streik, der ihn geschaffen hatte, nichts anderes als ein Selbstverwaltungsorgan der revolutionären Massen, ein Organ der staatlichen Gewalt. Er befehligte einzelne Teile des Ganzen, gestützt auf den Willen des Ganzen. Das war eine demokratische Gewalt, der man freiwillig Folge leistete. Doch insofern der Delegiertenrat die organisierte Macht der ungeheuren Mehrheit darstellte, musste er gegenüber jenen Elementen der Masse, welche Anarchie in ihre geschlossenen Reihen hinein trug, notwendigerweise Gewalt anwenden. Solchen Elementen seine Macht gegenüberzustellen, hielt der Arbeiterdelegiertenrat sich für berechtigt, als neue historische Macht, als die einzige Macht zu einer Zeit des moralischen, politischen und technischen Bankrotts des alten Regierungsapparats, als einzige Garantie der Unantastbarkeit der Person und der öffentlichen Ordnung im besten Sinne des Wortes. Die Vertreter der alten Gewalt, die voll und ganz auf blutiger Repression aufgebaut ist, sollen sich nicht herausnehmen, mit moralischer Entrüstung von den Gewaltmitteln des Delegiertenrates zu sprechen. Die historische Gewalt, in deren Namen hier der Staatsanwalt spricht, ist nichts anderes als die organisierte Vergewaltigung der Majorität durch die Minorität. Die neue Gewalt dagegen, deren Vorgänger der Delegiertenrat war, repräsentiert den organisierten Willen der Majorität, die die Minorität zur Ordnung ruft. Dieser Unterschied verleiht dem Delegiertenrat das revolutionäre Recht der Existenz, das alle juristischen und moralischen Zweifel bewältigt. … Der Delegiertenrat sieht sich berechtigt Gewaltmittel anzuwenden. Doch in welchen Fällen und in welchem Grade? Das haben Sie von Hunderten von Zeugen erfahren. Ehe der Delegiertenrat zur Anwendung von Repressalien überging, versuchte er es stets mit Worten der Überzeugung. Das war seine wahre Methode, und in der Anwendung derselben war er unermüdlich! Durch seine revolutionäre Agitation, mit der Waffe des Wortes, rüttelte der Delegiertenrat stets neue Massen auf und unterwarf sie seiner Autorität. Stieß er auf den Widerstand unentwickelter oder irregeführter Gruppen in den Reihen des Proletariats, so sagte er sich, dass es stets noch früh genug sein werde, sie durch physische Macht unschädlich zu machen. Wie Sie aus den Zeugenaussagen ersehen konnten, bemühte er sich stets, andere Mittel und Wege ausfindig zu machen. Er appellierte an die Einsicht der Fabrikadministration, indem er sie aufforderte, die Arbeit einzustellen; er wirkte auf die unentwickelten Arbeiter durch die Techniker und Ingenieure ein, die mit dem allgemeinen Streik sympathisierten. Er sandte Delegierte an die Arbeiter, um sie zur Arbeitseinstellung zu bewegen und drohte den Streikbrechern nur in den äußersten Fällen, Gewalt gegen sie anzuwenden. Wurde sie aber in der Tat angewandt? Derartige Fälle haben Sie, meine Herren Richter, weder in den Materialien der Voruntersuchung gefunden, noch trotz allem Bemühen bei der Gerichtsverhandlung feststellen können. Sollten sogar jene mehr komischen als tragischen Beispiele von „Gewaltanwendung" ernst genommen werden, die vor dem Gericht angeführt wurden (irgend jemand betrat eine fremde Wohnung mit der Mütze auf dem Kopfe, ein anderer „arretierte" jemand – nach gegenseitiger Einwilligung) so verlohnt es sich, diese Mütze, die man abzunehmen vergessen hatte, jenen hunderten von Köpfen gegenüberzustellen, die das alte Regime aus Schritt und Tritt versehentlich abschlägt – und die Gewaltmittel des Arbeiterdelegiertenrates nehmen in unseren Augen ihren wahren Charakter an. Mehr aber brauchen wir nicht. Unsere Ausgabe ist es, die Ereignisse jener Zeit, in ihrer unverfälschten Gestalt zu rekonstruieren; nur deshalb haben wir Angeklagten an der Gerichtsverhandlung aktiv teilgenommen. Ich stelle nun eine andere, für das Gericht wichtige Frage: Stand der Arbeiterdelegiertenrat in seinen Handlungen und Deklarationen auf dem Boden des Rechts und im Besonderen auf dem Boden des Manifestes vom 30.Oktober? In welcher Beziehung standen die Resolutionen des Delegiertenrates zur konstituierenden Versammlung, zur demokratischen Republik und zum Oktobermanifest? Diese Frage hat uns damals nicht im Geringsten beschäftigt – ich erkläre das hier mit aller Schärfe – sie ist aber jetzt für das Gericht unzweifelhaft von ungeheurer Bedeutung. Wir hörten hier, meine Herren Richter, die Aussage des Zeugen Lutschinin, die mir persönlich außerordentlich interessant und in einigen seiner Schlussfolgerungen tief und treffend erschienen. Er sagte unter anderem, dass der Arbeiterdelegiertenrat, obwohl er nach seinen Losungen, Prinzipien und politischen Idealen republikanisch war, de facto, unmittelbar und konkret die Freiheiten verwirklichte, die prinzipiell vom Zarenmanifest proklamiert worden waren und die von allen denen, die das Manifest vom 30. Oktober selbst zur Welt gebracht hatten, mit allen Mitteln bekämpft wurden. Jawohl, meine Herren Richter und Ständevertreter! Wir, der revolutionäre proletarische Delegiertenrat, verwirklichten de facto die Rede-, Press- und Versammlungsfreiheit, die Unantastbarkeit der Person – das heißt alles das, was dem Volke unter dem Druck des Oktoberstreiks versprochen wurde. Dagegen wies der alte Regierungsapparat nur dann Lebenszeichen auf, wenn es galt, die legalisierten Errungenschaften des Volkes in Stücke zu reißen. Meine Herren Richter, das ist eine unzweifelhafte objektive Tatsache, die schon der Geschichte angehört, sie kann nicht bestritten werden, denn sie ist unbestreitbar. Wenn Sie mich jedoch fragen sollten – und wenn Sie meine Genossen fragten – ob wir uns subjektiv auf das Manifest vom 30. Oktober stützten, so antworten wir ganz kategorisch: nein! Weshalb? Weil wir fest überzeugt waren – und wir gingen hierin nicht fehl! – dass das Manifest vom 30. Oktober keinen Rechtsboden konstruiert, die Grundlage für ein neues Recht nicht abgibt, denn eine neue Rechtsordnung wird nach unserer Überzeugung nicht durch Manifeste geschaffen, sondern durch reale Reorganisation des ganzen staatlichen Apparates. Da wir diesen materialistischen – ich möchte sagen, diesen einzig richtigen Standpunkt vertraten, so fühlen wir uns berechtigt, der immanenten Kraft des Manifestes vom 30. Oktober nicht das geringste Vertrauen zu schenken und wir gestanden das auch offen ein. Allein unsere subjektive Stellungnahme, als Mitglieder einer Partei, als Revolutionäre bestimmt meiner Ansicht nach für das Gericht noch nicht unsere objektive Stellungnahme als Staatsbürger zum Manifest als der formalen Grundlage der existierenden Staatsordnung. Denn das Gericht, insofern es wirklich Gericht ist, muss im Manifest diese Grundlage sehen oder es muss seine Existenz aufgeben. In Italien gibt es bekanntlich eine bürgerliche republikanische Partei im Parlament, die auf Grund der monarchischen Konstitution des Landes existiert. In allen Kulturländern kämpfen und führen sozialistische Parteien eine legale Existenz, die ihrem Wesen nach republikanisch sind. Es fragt sich nun: umschließt das Manifest vom 30. Oktober auch uns, russische Sozialisten-Republikaner? Diese Frage muss das Geeicht entscheiden, ob wir Sozialdemokraten im Rechte waren, als wir fortgesetzt daraus hinwiesen, dass das konstitutionelle Manifest bloß eine nackte Aufzählung von Versprechungen darstellte, die niemals freiwillig erfüllt werden würden; es muss entscheiden, ob unsere revolutionäre Kritik papierner Garantien berechtigt war, und ob wir im Rechte waren, als wir das Volk zum offenen Kampf für wahre und volle Freiheit aufforderten? Oder waren wir etwa nicht im Recht? Möge dann das Gericht erklären, dass das Manifest vom 30. Oktober tatsächlich einen Rechtsboden darstellt, auf dem wir Republikaner als Männer des Gesetzes und des Rechts standen, als Männer die „legal" handelten entgegen unseren eigenen Vorstellungen und Absichten. Möge das Manifest vom 30. Oktober durch den Urteilsspruch des Gerichtes uns hier erklären: „Ihr habt meine Existenz geleugnet, ich existiere aber für euch wie für das ganze Land!" Ich bemerkte schon, dass der Arbeiterdelegiertenrat auf seinen Sitzungen kein einziges Mal die Frage der konstituierenden Versammlung und der demokratischen Republik angeregt hat – dessen ungeachtet nahm er zu diesen Losungen, wie wir aus den Reden der hier als Zeugen aufgetretenen Arbeiter ersahen, eine ganz bestimmte Stellung ein. Ja, konnte es denn anders sein? Der Delegiertenrat war ja nicht in einem luftleeren Raum entstanden. Er erschien als das russische Proletariat schon den 22. Januar, die Kommission des Senators Schidlowski, wie überhaupt die lange, nur zu lange Schule des russischen Absolutismus hinter sich hatte. Die Forderungen der konstituierenden Versammlung, des allgemeinen Stimmrechts, der demokratischen Republik waren neben der Forderung des Achtstundentages noch vor dem Delegiertenrat die zentralen Losungen des revolutionären Proletariats geworden. Das war der Grund, dass der Delegiertenrat diese Fragen kein einziges Mal prinzipiell zu erörtern brauchte –, er nahm sie einfach in seine Resolutionen auf als ein für allemal gelöst. Genau so verhielt er sich auch zur Idee des Aufstandes Ehe ich zu dieser wichtigsten Frage, der Frage des bewaffneten Aufstandes übergehe, muss ich bemerken, dass, so wie ich die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft und zum Teil auch des Gerichtes zur Frage des bewaffneten Aufstandes aufgefasst habe, diese sich von unserer Stellungnahme nicht nur in politischer oder Parteihinsicht unterscheidet, nicht nur im Sinne der Bewertung dieser Frage – dagegen wäre nutzlos, anzukämpfen – nein! selbst der Begriff des bewaffneten Aufstandes, der sich bei der Staatsanwaltschaft gebildet hat, unterscheidet sich in grundlegender, tiefster, unversöhnlichster Weise von dem Begriff, den der Delegiertenrat in dieser Frage hatte, und den, wie ich glaube, auch das gesamte Proletariat Russlands teilte und noch heute teilt. Was ist denn eigentlich, meine Herren Richter, ein Aufstand; keine Palastrevolution, keine Militärverschwörung, sondern ein Aufstand der Arbeitermassen? Einem Zeugen wurde hier vom Vorsitzenden die Frage vorgelegt: glaube er denn, dass der politische Streik ein Aufstand sei? Ich erinnere mich nicht, wie die Antwort lautete, ich glaube aber und behaupte es, dass der politische Streik, entgegen dem Zweifel des Herrn Vorsitzenden, seinem Wesen nach ein Aufstand ist. Das ist kein Paradoxon, obwohl es als solches vom Standpunkte der Anklageschrift erscheinen mag! Ich wiederhole es: meine Auslassung über den Ausstand hat, wie ich es gleich beweisen werde, mit der polizeilich.staatsanwaltlichen Konstruktion dieses Begriffes nichts gemeinsam als den Namen. Der politische Streik ist ein Aufstand, sagte ich. In der Tat, was ist ein allgemeiner, politischer Streik? Mit dem wirtschaftlichem Streik hat er nur das gemein, dass die Arbeiter in dem einen wie in dem anderen Falle die Arbeit einstellen, – sonst aber sehen sie sich nicht im geringsten ähnlich. Der wirtschaftliche Streik hat sein bestimmtes, eng begrenztes Ziel – auf den Willen des einzelnen Unternehmers einzuwirken, indem man ihn zu diesem Zweck aus den Reihen seiner Konkurrenten stößt. Der wirtschaftliche Streik hemmt die Arbeit auf der Fabrik, um Änderungen im Bereiche der Fabrik zu erzielen. Der politische Streik jedoch ist seinem Wesen nach ganz anders. Spezielle wirtschaftliche Forderungen stellt er in der Regel nicht auf. Seine Forderungen richten sich über die Köpfe der hart getroffenen Unternehmer und Konsumenten hinweg an die Staatsgewalt. Wie beeinflusst nun der politische Streik die Staatsgewalt? Er paralysiert ihre Lebenstätigkeit. Der moderne Staat stützt sich sogar in einem so rückständigen Lande wie Russland auf einen zentralisierten wirtschaftlichen Organismus, der durch das Skelett der Eisenbahnen und das Nervensystem des Telegraphen zu einem Ganzen verbunden ist. Und wenn der Telegraph, die Eisenbahnen, wie überhaupt alle Errungenschaften der modernen Technik, dem russischen Absolutismus nicht für kulturelle, wirtschaftliche Zwecke dienen, so sind sie für repressive Maßnahmen um so unentbehrlicher. Um Truppenteile aus dem einen Ende des Landes in das andere zu werfen, um die Tätigkeit der Administration im Kampfe mit den inneren Unruhen zu koordinieren und zu lenken, sind Eisenbahnen und Telegraph unentbehrlich. Was tut nun der politische Streik? Er paralysiert den wirtschaftlichen Apparat des Staates, zerreißt die Bande zwischen den einzelnen Teilen des administrativen Mechanismus, isoliert und schwächt die Regierung. Andererseits vereinigt er die Arteitermasse auf den Fabriken und Werken in politischem Sinne und steht diese Arbeiterarmee der Staatsgewalt gegenüber. Das aber, meine Herren Richter, ist das Wesen des Aufstandes! Die Massen des Proletariats in einem revolutionärem Protest vereinigen und sie der organisierten Staatsgewalt wie einem Feinde den Feind gegenüberstehen, – das, meine Herren Richter, ist das Wesen des Aufstandes, wie es vom Arteiterdelegiertenrat ausgesagt wurde und wie ich es auffasse! Einen solchen revolutionären Konflikt zweier feindlicher Lager hatten wir schon Gelegenheit während des Oktoberstreiks zu beobachten, der mit elementarer Macht ohne Arbeiterdelegiertenrat ausbrach und der den Arbeiterdelegiertenrat selbst schuf. Der Oktoberstreik gebar die „Anarchie" im Staate – und als Resultat dieser Anarchie erschien – das Manifest vom 30. Oktober. Das wird hoffentlich auch die Staatsanwaltschaft nicht leugnen, wie das die konservativsten Politiker und Publizisten inklusive die „Nowoje Wremja" nicht leugnen, die das von der Revolution geborene Manifest vom 30. Oktober aus einer ganzen Reihe gleichartiger ober ihm übersprechen Manifeste gern streichen möchte. Noch in den letzten Tagen schrieb die „Nowoje Wremja", dass das Manifest vom 30. Oktober das Resultat der Panik der Regierung war, die vom politischen Streik geschaffen wurde. Ist aber dieses Manifest die Basis der ganzen gegenwärtigen Ordnung, so müssen Sie, meine Herren Richter, anerkennen, dass der ganzen gegenwärtigen Staatsordnung die Panik zugrunde liegt und dieser wiederum der politische Streik des Proletariats. Sie sehen, der allgemeine Streik ist etwas Größeres als nur die einfache Arbeitseinstellung. Ich bemerkte früher, dass der politische Streik, sobald er aufhört, eine Demonstration zu sein, seinem Wesen nach zum Aufstand wird oder, richtiger gesagt – zur fundamentalsten, allgemeinsten Methode des proletarischen Aufstandes. Zur fundamentalsten, jedoch nicht zur erschöpfenden. Die Methode des politischen Streiks hat ihre natürlichen Grenzen. Das trat sofort hervor als die Arbeiter auf die Aufforderungen des Delegiertenrates am 3. November um 12 Uhr mittags die Arbeit wieder aufnahmen. Das Manifest vom 30. Oktober Wurde mit einem Misstrauensvotum empfangen; die Volksmassen hatten alle Ursache, zu befürchten, dass die Regierung die versprochenen Freiheiten nicht verwirklichen werde. Das Proletariat hat die Unvermeidlichkeit eines entscheidenden Kampfes erkannt und instinktiv strebte es zum Delegiertenrate hin, als dem Sammelpunkte seiner revolutionären Energie. Andererseits war der Absolutismus, der sich von der ersten Panik erholt hatte, dabei seinen halb zerstörten Apparat wieder herzustellen und Ordnung in die Reihen seiner Regimenter zu tragen. Und das Resultat davon war, dass nach dem Zusammenstoß im Oktober zwei Mächte sich gegenüber standen: die neue, die Volksmacht, die die Massen hinter sich hatte, der Arbeiterdelegiertenrat, und die alte Macht, die offizielle Macht, die sich auf die Armee stützte. Die beiden Mächte konnten nebeneinander nicht existieren denn die Erstarrung der einen bedeutete den Untergang des anderen. Der Absolutismus, der sich auf die Bajonette stützte, musste naturgemäß danach streben, Zwietracht, Wirrwarr und Zersetzung in jenen grandiosen Prozess der Zusammenschweißung der Volkskräfte hinein zutragen, dessen Mittelpunkt der Arbeiterdelegiertenrat war. Und andererseits musste der Delegiertenrat der sich auf das Vertrauen, die Disziplin, die Kampfbereitschaft und die Einmütigkeit der Arbeitermassen stützte, erkennen, welch eine Gefahr für die Freiheit des Volkes, seine bürgerlichen Rechte, seine persönliche Unantastbarkeit aus dem Umstande erwuchs, dass die Armee und überhaupt alle materiellen Machtmittel sich in denselben bluttriefenden Händen befanden, in denen sie vor dem 30. Oktober waren. So beginnt ein Titanenkampf dieser zwei Mächte um den Einfluss auf die Armee – die zweite Etappe des erstarkenden Volksaufstandes. Auf dem Boden des Massenstreiks, in dem das Proletariat dem Absolutismus feindlich gegenübertrat, entsteht das intensive Bestreben, die Armee auf seine Seite hinüber zu ziehen, ihre Seele zu gewinnen, sich mit ihr zu verbrüdern. Aus diesem Bestreben heraus erschallt der revolutionäre Appell an das Militär, auf das der Absolutismus sich stützt. Der zweite Massenstreik – im November – war eine kraftvolle Demonstration der Solidarität von Fabrik und Kaserne. Natürlich, ginge das Militär auf die Seite des Volkes über, dann brauchten wir keinen Aufstand. Ist aber solch ein friedlicher Übertritt der Armee in die Reihen der Revolution denkbar? Nein! Denn der Absolutismus wird nicht die Hände in den Schoß legen und ruhig und tatenlos zusehen, wie die Armee, vom demoralisierenden Drucke des Absolutismus befreit, sich mit dem Volke verbrüdert. So lange noch nicht alles verloren, nimmt der Absolutismus die Rolle des Angreifers für sich in Anspruch. Hatten das die Arbeiter Petersburgs erkannt? Ja! Glaubte das Proletariat, glaubte der Arbeiterdelegiertenrat, dass es unausbleiblich zu einem offenen Zusammenstoß beider Mächte kommen werde? Ja! Und man war fest davon überzeugt, dass früher oder später die Stunde der Entscheidung kommen werde. … Natürlich, wäre die Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte auf demselben Wege vor sich gegangen, den sie unter der Leitung des Arbeiterdelegiertenrates eingeschlagen hatte, wäre sie nicht unterbrochen worden von den Attacken der bewaffneten Konterrevolution, dann wäre das alte Regiment vernichtet, ohne dass die geringste Gewalt angewendet werden musste. Vor unseren Augen schlossen sich ja die Arbeiter an den Delegiertenrat als einem Mittelpunkt zusammen; der Bauernbund, der seine Wurzeln immer tiefer in die Bauernmassen schlug, entsandte seine Delegierten in unsere Sitzungen; mit dem Delegiertenrate vereinigten sich der Verband der Eisenbahner, der Verband der Post- und Telegraphenangestellten; zu ihm strebte auch die Organisation der freien Berufe, der „Verband der Verbände'' hin, Ja wir sahen, wie tolerant und sogar wohlwollend die Fabrikverwaltungen sich zum Delegiertenrat stellten. … Es schien, als spanne die ganze Nation heroisch ihre sämtlichen Kräfte an, als wolle sie in ihrem Schoße eine organisierte Gewalt gebären, die berufen wäre, wahre und unerschütterliche Grundlagen einer neuen Ordnung bis zur Einberufen einer Nationalversammlung zu schaffen, hätte sich die alte Staatsmacht dieser organischen Tätigkeit nicht widersetzt, wäre sie nicht bestrebt gewesen, eine wahre Anarchie im Leben der Nation hervorzurufen, hätte sich dieser Prozess der Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte frei entfalten können – es wäre dann ein neues wieder erwachtes Russland erstanden, ohne Gewalt und Blutvergießen. Aber das ist es eben, dass wir uns nie und nimmer vorstehen konnten, dass der Befreiungskampf sich so gestalten werde. Wir wussten nur zu gut, was eigentlich die alte Gewalt darstellte. Wir Sozialdemokraten waren ja überzeugt, dass der alte Regierungsapparat trotz des Manifestes, das einen endgültigen Bruch mit der Vergangenheit darstellen sollte, nicht freiwillig den Platz räumen werde, die Gewalt dem Volke nicht überlassen und keine seiner wichtigen Positionen abtreten werde; wir sahen voraus und sagten den Massen, dass der Absolutismus noch viele krampfhafte Anstrengungen machen werde, um die ihm gebliebene Gewalt in seiner Hand zu behalten und auch alles das zurückzuerobern, was er sich feierlich abgeschworen. Und eben darum war von unserem Standpunkte aus ein Aufstand, ein bewaffneter Aufstand, meine Herren Richter, unvermeidlich – er war und bleibt eine historische Notwendigkeit im Kampfe zwischen Volk und militärisch-politischer Staatsordnung. Im Oktober und November war dieser Gedanke auf den Meetings und Versammlungen vorherrschend, er beherrschte die gesamte revolutionäre Presse, er erfüllte die ganze politische Atmosphäre und war auf diese oder andere Weise im Bewusstsein eines jeden Mitgliedes des Delegiertenrates auskristallisiert; und eben darum war dieser Gedanke naturgemäß Bestandteil der Resolutionen unseres Delegiertenrates, und eben darum kamen wir gar nicht in die Lage seinetwegen zu debattieren. Der gespannte Zustand, den wir als Erbteil vom Oktoberstreik erhalten hatten, die revolutionäre Organisation der Masse die um ihre Existenz kämpfte, die sich stützte nicht auf das nicht vorhandene Recht, sondern auf die Macht, sofern sie vorhanden war, – und die bewaffnete Konterrevolution, die nur der Stunde ihrer Sache harrte, – dieser Zustand war, wenn man so sagen darf, die algebraische Formel' des Aufstandes. Die darauf folgenden Ereignisse verliehen ihr nur arithmetischen Ausdruck. Die Idee des bewaffneten Aufstandes – im Gegensatz zum oberflächlichen Schluss der Staatsanwaltschaft – hinterließ ihre Spuren nicht nur im Beschluss des Delegiertenrates vom 10. Dezember, also eine Woche vor der Verhaftung des letzteren, wo dieser Gedanke klar und deutlich zum Ausdruck gelangte, nein, gleich bei Beginn seiner Tätigkeit sprach der Arbeiterdelegiertenrat in der Resolution, in der er den Demonstrationszug nach dem Friedhofe abänderte, und in einer anderen, die das Ende des Novemberstreiks proklamierte, wie in einer ganzen Reihe anderer Beschlüsse vom bewaffneten Konflikt mit der Regierung, dem letzten Kampfe wie von einer unausbleiblichen Tatsache. Es lief die Idee des bewaffneten Aufstandes in verschiedener Form doch ihrem Wesen nach gleichlautend, wie ein roter Faden durch alle Beschlüsse des Arbeiterdelegiertenrates. Allein wie fasste der Delegiertenrat diese seine Beschlüsse auf? Vertrat er je die Ansicht, dass der bewaffnete Aufstand ein Unternehmen ist, das in Geheimzirkeln vorbereitet und als etwas Vollendetes auf die Straße hinausgehen wird? Dachte er je daran, dass es ein Akt der Insurrektion ist den man nach gefasstem Plane zu Ende führen kann? Befasste sich endlich das Exekutivkomitee mit der Ausarbeitung der technischen Seite des Straßenkampfes? Das war nicht der Fall. Diese Tatsache musste den Verfasser der Anklageschrift, der vor den einigen Dutzend Revolvern – die in seinen Augen das einige unanfechtbare Requisit des bewaffneten Aufstandes darstellen – wie vor einem Rätsel stehen blieb, in die ärgste Verlegenheit setzen. Allein die Ansicht der Staatsanwaltschaft ist bloß die unseres Strafrechtes, das nur verschwörerische Verbindungen kennt, jedoch keine Ahnung hat von der Organisation der Massen, das wohl Attentate und Revolten kennt jedoch von der Revolution keine Ahnung hat und haben kann. Die juristischen Begriffe, die diesem Prozess zugrunde liegen, sind hinter der Evolution der revolutionären Bewegung auf viele Jahre zurückgeblieben Die moderne russische Arbeiterbewegung hat nicht das geringste gemein mit dem Begriff der Verschwörung, wie ihn das Strafgesetzbuch behandelt das eigentlich seit Speranski, der zur Zeit der Carbonari lebte, unverändert geblieben ist. Eben darum erscheint der Versuch, die Tätigkeit des Delegiertenrates in die engen Rahmen der Artikel 100 und 101 hineindrängen, vom Standpunkte der juristischen Logik als vollkommen aussichtslos. Und dennoch war unsere Tätigkeit revolutionär! Und dennoch bereiteten wir uns wirklich zum bewaffnen Ausstand vor! Ein Russland der Massen wird nicht gemacht, meine Herren Richter, sondern vollzieht sich von selbst. Er ist das Produkt der sozialen Beziehungen und Bedingungen und nicht das eines papiernen Planes. Ein Volksaufstand kann nicht geschaffen, sondern nur vorausgesehen werden. Aus Gründen, die von uns ebenso wenig abhängen, wie vom Zarismus, war ein offener Konflikt unvermeidlich geworden. Mit jedem Tage rückte er näher heran. Vorbereitungen für ihn treffen, bedeutete für uns, alles aufzubieten, was möglich war, um die Opfer dieses unabwendbaren Konfliktes aus ein Mindestmaß zu reduzieren. Dachten wir etwa daran, dass es für diesen Zweck notwendig sei, Waffen zu beschaffen, einen Kriegsplan zu entwerfen, den Teilnehmern des Aufstandes bestimmte Plätze anzuweisen, die Stadt in bestimmte Rayons zu teilen, – mit einem Worte, dachten wir je daran, das zu tun, was Militärbehörden in Erwartung von „Unruhen" beständig tun, wenn sie Petersburg in Rayons teilen, für jeden derselben einen Obersten als Kommandanten ernennen und diesem eine bestimmte Anzahl Maschinengewehre und was sonst dazu gehört, übergeben? Nein, nicht so fassten wir unsere Rolle auf. Sich für den unvermeidlichen Aufstand vorbereiten – und wir, meine Herren Richter, bereiteten niemals einen Aufstand vor, wie ihn die Staatsanwaltschaft hier darstellt –, das bedeutete für uns vor allem, das Bewusstsein des Volkes klären, ihm darzulegen, dass ein offener Konflikt unvermeidlich sei, dass alles das, was ihm gegeben, wieder weggenommen werden könne, dass nur die Macht das Recht verteidigen könne, dass eine mächtige Organisation der revolutionären Massen notwendig sei, dass man Brust an Brust mit dem Feinde kämpfen und bereit sein müsse, den Kampf zu Ende zu führen. Sehen Sie, darin bestand für uns die Vorbereitung für den Aufstand! Unter welchen Bedingungen konnte unserer Ansicht nach der Aufstand zum Siege führen? – Wenn die Truppen mit uns sympathisierten! Vor allem also musste die Armee gewonnen, die Soldaten zur Erkenntnis gebracht werden, – das war die Aufgabe, die wir uns in erster Linie stellten. Ich sagte schon, dass der Novemberstreik, der ein selbstloser Ausdruck der brüderlichen Sympathie mit den Matrosen war, denen die Todesstrafe drohte, von ungeheurer politischer Bedeutung war: Er lenkte die Aufmerksamkeit und Sympathie der Armee auf das revolutionäre Proletariat. Unter welchen Umständen kann nun nach unserer damaligen und jetzigen Ansicht der Übergang der Armee auf die Seite der Revolution erwartet werden? Was ist für diesen Zweck notwendig? Etwa Schnellfeuergeschütze und Gewehre? Selbstverständlich, hätten die Arbeitermassen Schnellfeuergeschütze und Gewehre gehabt, so wären sie im Besitze einer ungeheuren Macht gewesen. Die schwankende Armee hätte ihre Waffen dem bewaffneten Volke vor die Füße gelegt. Doch die Massen besaßen und besitzen auch heute keine Waffen und können sie in großer Zahl auch gar nicht besitzen. Bedeutet das etwa, dass die Massen deshalb zur Niederlage verurteilt sind ? Durchaus nicht! Wie wichtig auch Waffen sind, doch nicht in ihnen, meine Herren Richter, steckt die größte Macht. Nein! Nicht die Fähigkeit der Massen, andere zu töten, sondern ihre große Bereitwilligkeit, selbst zu sterben, – das, meine Herren Richter, sichert von unserem Standpunkte aus in letzter Instanz den Sieg des Volksaufstandes Wenn die Truppen, zur Niederwerfung des Aufstandes auf die Straße kommandiert, dem Volke gegenüberstehen und dort zu der Überzeugung gelangen, dass dieser Menschenhaufe, dieses Volk, die Straße nicht früher räumt, ehe es nicht seinen Willen durchgesetzt hat, dass es bereit sei, auf der Straße zu sterben und ganze Berge von Leichen aufzutürmen; – wenn die Truppen, mit einem Wort, zu der Überzeugung gelangen, dass das Volk gekommen sei, mit blutigem Ernst zu kämpfen und seinen Kampf zum letzten Ende zu führen, dann wird und muss die Seele des Soldaten hier, wie in allen Revolutionen, eine gewaltige Erschütterung erfahren, er wird den Zweifel an die Unerschütterlichkeit der Ordnung, der er dient, er wird die Hoffnung auf den Sieg des Volkes nicht unterdrücken können und gemeinsame Sache mit seinen Brüdern und Schwestern machen. Man ist gewohnt, den Aufstand mit Barrikaden zu assoziieren. Wenn sogar die Tatsache außer acht gelassen wird, dass die übliche Vorstellung vom Aufstande zu sehr von der Barrikade beeinflusst wird, so muss auch dann in Betracht gezogen werden, dass sogar die Barrikade, die scheinbar ein bloß mechanisches Element des Aufstandes darstellt, in Wirklichkeit zum größten Teil von moralischer Bedeutung ist. Denn in allen Revolutionen hat die Barrikade durchaus nicht die Bedeutung gehabt, wie die Festung im Kriege, als physisches Hindernis, – die Barrikade diente dem Aufstande dadurch, dass sie, die Bewegung der einzelnen Truppenkörper hemmend, diese mit dem Volke in nahe Berührung brachte. Hier an der Barrikade hörte der Soldat zum ersten Mal in seinem Leben ehrliche, mutige Worte, einen brüderlichen Ruf, die Stimme des Volksgewissens, – und eben als Resultat dieser Berührung von Soldaten und Bürgern in der Atmosphäre des nationalen Enthusiasmus lösten sich die Bande der Disziplin, um endgültig zusammenzubrechen und zu verschwinden. Dies, und nur dies, sicherte den Sieg des Volksaufstandes. Eben darum ist der Volksaufstand nach unserer Meinung nicht dann „gesichert", wenn das Volk mit Maschinengewehren und Kanonen bewaffnet ist – denn in diesem Falle wäre er es niemals –, sondern dann, wenn das Volk von der tiefsten Bereitwilligkeit durchdrungen ist, in offenem Straßenkampfe zu sterben. Es versteht sich von selbst, dass die alte Regierungsgewalt angesichts des Anschwellens dieses großen Gefühls, dieser Tätigkeit, sich zu opfern für sein Land, sein Leben einzusetzen für das Glück künftiger Geschlechter; dass die von allen Seiten bedrängte Macht angesichts dieses Enthusiasmus, der, ihr selbst fremd und unbekannt, die Massen erfühle, sich zu der vor ihren Augen vollziehenden moralischen – ich möchte sagen: religiösen (im besten Sinne dieses Wortes) – Wiedergeburt der Nation nicht passiv verhalten konnte. Ruhig abwarten, bedeutete für die Regierung des Zaren, sich selbst zum Untergang verurteilen. Das war klar. Was blieb also zu tun übrig? Mit den letzten Kräften, mit allen Mitteln gegen die politische Betätigung der Nation anzukämpfen. Für diesen Zweck waren in gleicher Weise zu gebrauchen die Armee und das Schwarze Hundert, die Polizeibeamten und die käufliche Presse. Einen Teil der Bevölkerung gegen den anderen aufhetzen, die Straßen der Städte mit Blut besudeln, plündern, Weiber schänden, Häuser in Brand stecken, panische Furcht verbreiten, lügen, betrügen und verleumden, – das war alles, was der alten verbrecherischen Regierungsgewalt übrig geblieben war. Und alles dies verübte und verübt sie bis auf den heutigen Tag. War ein offener Zusammenstoß unvermeidlich, so waren jedenfalls nicht wir, sondern unsere Todfeinde bestrebt, ihn herbeizuführen. Sie hörten hier nicht einmal, dass sich die Arbeiter im Oktober und November bewaffneten, um sich vor dem Schwarzen Hundert zu schützen. Wenn nichts davon bekannt wäre, was außer dem Bereich dieses Sitzungssaales vorgeht, so muss es ganz unbegreiflich erscheinen, wie in einem revolutionären Lande, wo die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung auf der Seite der Freiheitsideale steht, wo die Volksmassen offen ihre Bereitwilligkeit bekunden, bis ans Ende zu kämpfen, weshalb in einem solchen Lande Hunderttausende von Arbeitern sich zum Kampfe gegen das Schwarze Hundert bewaffnen, das einen unbedeutenden, verschwindenden Teil der Bevölkerung bildet. Sind sie denn wirklich so gefährlich, diese Auswürflinge aller Schichten der Gesellschaft? Natürlich nicht! Wie leicht wäre unsere Aufgabe, wenn allein die elenden Banden des Schwarzen Hunderts dem Volke den Weg versperrten! Doch wir hörten nicht nur vom Zeugen, Rechtsanwalt Bramson, sondern auch von Hunderten von Zeugen aus den Arbeiterkreisen, dass hinter dem Schwarzen Hundert, wenn auch nicht die ganze Regierungsgewalt steht, so doch ein guter Teil derselben, dass hinter den Banden der Hooligans, die nichts zu verlieren haben und weder vor dem grauen Haar des Greises, noch vor dem schutzlosen Weibe und dem Kinde Halt machen, die Agenten der Regierung stehen, die die Schwarze Hundertschaften organisieren und bewaffnen, – allem Anschein nach aus den Mitteln des Staatsbudgets. Ja endlich, wussten wir denn das nicht auch vor dem gegenwärtigen Prozess? Lasen wir denn keine Zeitungen? Hörten wir denn nicht Augenzeugen, bekamen wir keine Briefe, sahen wir selbst nicht, was vorging, sind uns etwa die erschütternden Enthüllungen des Fürsten Urussow unbekannt geblieben? Die Staatsanwaltschaft glaubt nichts davon. Sie kann daran nicht glauben, sonst müsste sie die Anklage gegen die richten, die sie jetzt verteidigt, sie müsste anerkennen, dass der russische Bürger, der sich mit dem Revolver gegen die Polizei bewaffnet, im Zustande der Notwehr handelt. Es ist aber schließlich einerlei, ob das Gericht an die Pogromtätigkeit der Behörden glaubt oder nicht glaubt. Vor Gericht genügt es, dass wir daran glaubten, dass Hunderttausende von Arbeitern, die sich aus unsere Aufforderung hin bewaffneten, davon überzeugt waren. Für uns galt es als festgestellt, dass hinter den dekorativen Schwarzen Banden die mächtige Hand der regierenden Clique sichtbar war. Meine Herren Richter! Diese unheilbringende Hand sehen wir auch jetzt vor uns! Die Anklagebehörde fordert Sie, meine Herren Richter, auf, anzuerkennen, dass der Arteiterdelegiertenrat die Arbeiter für den direkten Kampf gegen die bestehende „Regierungsform" bewaffnete. Wenn man mich kategorisch fragte: „War das der Fall?" so antworte ich: Jawohl! … Ja, ich bin bereit, diese Anklage zu akzeptieren, doch nur unter einer Bedingung. Ich weiß nicht, ob die Staatsanwaltschaft und das Gericht diese meine Bedingung annehmen werden. Ich frage Sie: Was versteht eigentlich die Anklage unter dem Wort „Regierungsform"? Existiert denn überhaupt bei uns eine Regierungsform? Die Regierung hat schon längst mit der Nation gebrochen und stützt sich einzig und allein aus die Schwarzen Hundertschaften und ihren militärisch-polizeilichen Apparat. Was wir besitzen, ist keine nationale Regierungsgewalt, sondern ein Automat für Massenmorde. Anders kann ich die Regierungsmaschine nicht nennen, die den lebendigen Leib unseres Volkes in Stücke schneidet. Und wenn Sie mir sagen, dass die Pogrome, Brandstiftungen, Gewalttaten …, wenn Sie mir sagen, dass alles was in Twer, Rostow, Kursk, Sjedletz geschehen ist …, wenn Sie mir sagen, dass Kischinew, Odessa, Bialystok die Regierungsform des russischen Staates ist, – ja, dann erkenne ich zusammen mit der Staatsanwaltschaft an, dass wir uns im Oktober und November gegen die bestehende Staatsform des Russischen Reiches bewaffnet haben! |
Leo Trotzki > 1906 >