Leo Trotzki: Auf dem Weg zur zweiten Duma [Nach Schriften zur revolutionären Organisation. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149-180. Dort mit zahlreichen Fußnoten] Zwischen der sozialistischen Kritik des Liberalismus und der liberalen Kritik des revolutionären Sozialismus besteht fürwahr ein bedeutsamer Unterschied: Die Liberalen werfen uns vor, dass wir Sozialisten seien; wir werfen den Liberalen vor, dass sie schlechte Liberale sind. Wir lassen uns natürlich nicht die Hände für die Kritik des Liberalismus in seiner Gesamtheit binden. Die sozialistische Propaganda geht aus von der Entlarvung jeder politischen Ideologie, die offen oder stillschweigend die Unverletzlichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse anerkennt. Und der Liberalismus, auch der konsequenteste, ist eine solche Ideologie. Unsere täglichen politischen Auseinandersetzungen mit dem Liberalismus erheben sich jedoch noch viel zu selten bis zur Höhe dieser Wasserscheide. Unsere „Zusammenarbeit", unsere Konkurrenz, unsere polemischen Scharmützel mit dem Liberalismus entwickeln sich auf der tiefer gelegenen Ebene des Kampfes um die Demokratie. Das bestimmt die konkrete Phase der historischen Entwicklung. In Frankreich, wo der konsequenteste Liberalismus, der demokratische Radikalismus Clemenceaus, am Ruder der Republik steht, dreht sich der gesamte tägliche Kampf unserer Partei mit den Parteien der Bourgeoisie um die Frage: Kapitalismus oder Kollektivismus? In Russland, wo die Eroberung der demokratischen Ordnung die zentrale Aufgabe bildet, sind unsere Beziehungen zum Liberalismus in bejahender wie in ablehnender Hinsicht beinahe ausschließlich auf den Rahmen dieser primären Aufgabe beschränkt. Nur die theoretische Polemik und die sozialistische Propaganda, unerlässliche Teilelemente des proletarischen Klassenkampfes, die jetzt jedoch einen sehr bescheidenen Stellenwert in der Realität des Alltags unserer Partei besitzen, heben die tagtägliche politische Agitation auf die Höhe des Grundwiderspruchs zwischen der Welt kapitalistischer Exploitation und der Welt sozialistischer Gleichberechtigung. Die Sozialdemokratie schafft nicht für sich selbst ihre eigene historische Grundlage und sucht sich politische Aufgaben nicht aus Eigenmächtigkeit heraus. Sie arbeitet auf der Grundlage, die sie trägt, und nimmt die Probleme in Angriff, die durch die gesellschaftliche Entwicklung gestellt sind. Sie kann die natürlichen Phasen der politischen Entwicklung nicht überspringen – oder besser gesagt, sie kann das Proletariat nicht über die Phasen hinweg tragen, sie kann nicht die Geschichte aufgrund eines verkürzten Lehrgangs oder eines von ihr selbst zusammengestellten Konzepts umgehen. Jeder Versuch, die politischen Ausdrucksformen des Klassenkampfs künstlich zu forcieren, wird, soweit ein solcher Versuch sich nicht einfach als irreal erweist, einen reaktionären Gehalt bekommen. Nach einigen trügerischen politischen Fortschritten wird er unvermeidlich die politische Entwicklung rückwärts treiben. Mit diesen Überlegungen ist besonders auch unser Verhältnis zum Liberalismus angesprochen. Vor dem Land steht die Aufgabe des demokratischen Neubeginns – ganz offenkundig eine historisch beschränkte Aufgabe. Unsere Verpflichtung gegenüber dieser Aufgabe jedoch besteht nicht nur darin, theoretisch ihre Beschränktheit aufzuzeigen, sondern vor allem darin, sie praktisch zu überwinden. Wenn vor uns der Liberalismus existiert – nicht als bloße Doktrin, sondern als lebendige gesellschaftliche Bewegung – sind wir alles zu tun verpflichtet, um ihn im Interesse der historischen Sache zu nutzen, die an der Reihe ist. Den Liberalismus als solchen mit einem Anathem zu belegen, ihn in der Agitation einer oberflächlichen Negation zu unterwerfen, bevor er sich in gesellschaftlichen Strukturen realisiert, heißt ganz offenkundig, der Reaktion einen Dienst erweisen. All das ist ganz unbezweifelbar und altbekannt. Diese Binsenwahrheiten und elementaren Anfangsgründe jedoch sind völlig unzureichend für die Bestimmung einer sozialdemokratischen Taktik. Was bedeutet: den Liberalismus „nutzen"? Was heißt: ihn „anspornen"? Was heißt: den Liberalismus unterstützen, soweit er gegen die Reaktion gewendet ist, und ihn bekämpfen, soweit er danach trachtet, das Volk an der Hälfte des Wegs zurückzuhalten? Bislang hat der Liberalismus seine historische Mission nicht erfüllt, wir können ihn nicht allein als Liberalismus oder auch nur hauptsächlich als Liberalismus entlarven. Können wir ihn jedoch – und in welchen Grenzen – vor der Masse als schwankenden, unentschlossenen, inkonsequenten, kurzum als schlechten Liberalismus kritisieren? Kann eine solche Kritik nicht der Sache der Reaktion dienen? Und wenn sie es kann, in welchen Fällen? Dem Liberalismus selbst erscheint jede Kritik, die von links gegen ihn gerichtet wird, als Unterstützung des Absolutismus. Deshalb können wir nicht mit dem Selbstverständnis des Liberalismus als einem Kriterium rechnen – sonst müssten wir von Anfang an auf uns selbst verzichten und uns unter die Kappe des Liberalismus stellen, jenes real vorhandenen Liberalismus, wie er im gegebenen Augenblick existiert. Das fordert er im Grunde auch von uns. Die Sozialdemokratie findet nichtsdestoweniger, wie bekannt ist, andere Begründungen für ihre Existenz. Die Sozialdemokratie unterstützt den Liberalismus und „spornt ihn an“ – und zwar durchaus nicht mit seinem eigenen Einverständnis. Bei dieser Tätigkeit nehmen die Fälle direkter und unmittelbarer Unterstützung der Liberalen (Stimmabgabe für sie bei Wahlen/Abdruck ihrer Aufrufe, auch wenn bei ihnen selbst der Mut dazu nicht ausreicht) einen untergeordneten und völlig unwichtigen Platz in der allgemeinen Ökonomie unserer Beziehungen ein. Ihrem Wesen nach bildet die Unterstützung, die wir dem Liberalismus leisten, die Kehrseite unseres Kampfes mit ihm. Indem wir den Liberalismus kritisieren, indem wir ihn vor dem Angesicht der Bevölkerung, auf die er einwirken will, entlarven, zwingen wir ihn, vorwärts zu schreiten. Aus den Verpflichtungen, die der Liberalismus gegenüber dem Volke eingeht, machen wir eine logische Kette von Konsequenzen; diese Kette werfen wir ihm als Schlinge um den Hals und zerren ihn zu sich selbst. Wenn er sich zu widersetzen beginnt, zieht sich die Schlinge um seinen Hals ein wenig zusammen und schafft ihm Unbequemlichkeit. Freiwillig-unfreiwillig, häufig mit unterdrückten Verwünschungen, geht er vorwärts. Bei jedem Schritt versucht er, uns anzuhalten, redet uns zu, eine Atempause einzulegen, beschuldigt uns der Direktheit, Taktlosigkeit, Vergewaltigung und sagt sich von uns los. Da jedoch Richtung und Tempo unserer Bewegung durch die politische Entwicklung der Volksmassen und nicht durch das Selbstverständnis des Liberalismus bestimmt sind, vergrößern wir unseren Druck beständig in dem Maß, in dem die Massen vorwärts schreiten, und so zwingen wir den Liberalismus, die Marschroute einzuschlagen und voll zu Ende zu gehen, die seine soziale Qualität zulässt. Und wenn er schließlich seine „Grenze" erreicht und verharrt, zieht sich die Schlinge unerbittlich um seinen Hals zusammen – und auf der Straße der Geschichte bleibt eine Leiche zurück. So verwandelte die „Unterstützung" der deutschen Sozialdemokratie den deutschen Liberalismus in eine Leiche. Ist eine solche Taktik gegenüber der bürgerlichen Opposition in Russland gerechtfertigt? Wenn man die Begriffe: russischer Liberalismus, russische liberale Partei – verwendet, darf man darunter nichts historisch Abgeschlossenes verstehen, das es totaliter zu akzeptieren oder abzulehnen gelte. Tatsächlich haben wir einige liberale Parteien verschiedener Stärke, mit unterschiedlichem Grad von Demokratismus, mehr oder minder ungleichartig in ihrem Inneren (Mirnoe Obnowlenie, Partei Demokratischer Reformen, Kadetten, Trudowiki, Volkssozialisten und schließlich einen guten Teil der Sozialisten-Revolutionäre). All diese Parteien und Gruppen kämpfen um Einfluss, schlagen eine Richtung ein, passen sich an und wandeln sich. Es bilden sich die verschiedenartigsten Kombinationen, hier flüchtigere, dort beständige. Gestern erst entstandene politische Organisationen zerfallen heute schon, und ihre Bestandteile gehen in neue politische Gebilde ein. Das Chaos besteht noch, aber zwei Organisationen sind bereits dabei, es sich zu unterwerfen. Einen derartigen Anblick bot das biblische Land am ersten Tag der Schöpfung. Wie muss das Verhalten der Sozialdemokratie sein, die selbst als Teilelement in diesem Chaos erscheint, ihrerseits jedoch bewusst auf seine weitere Kristallisierung einwirken kann? Vor allem ist ausdrücklich festzuhalten: Die Sozialdemokratie kann sich in keiner Weise die Aufgabe stellen, irgendeine der bestehenden oppositionellen Gruppen zu fixieren und zu festigen – im Gegenteil, der wichtigste Dienst, den sie der Sache der Demokratie erweisen kann, besteht in der beharrlichen und erbarmungslos misstrauischen Kritik aller liberalen Parteien unter dem Blickwinkel eines konsequenten Demokratismus. Wenn wir unter faktischer Ignorierung der bestehenden liberalen Parteien lediglich danach strebten, den Liberalismus als solchen zu kompromittieren, dann würden wir reaktionär handeln. Wenn wir jedoch die bestehenden liberalen Parteien einer konkreten Kritik unterziehen, dann entlarven wir ihre Inkonsequenz eben unter dem Aspekt des Liberalismus als solchen, und unsere Kritik dient, wie scharf und hart sie auch sein mag, welchen Schaden sie dieser oder jener Fraktion des Liberalismus auch zufügen sollte, im großen Ganzen der Sache der Demokratie. II Insbesondere anlässlich meines BuchesA schreibt ein Rezensent, meine Kritik der bürgerlichen Demokratie werde allein unter dem Gesichtspunkt des unmittelbaren Kampfes um die Macht zwischen Bourgeoisie und Proletariat klar und verständlich; da jetzt jedoch in Wirklichkeit der Kampf zwischen bürgerlicher Opposition und Absolutismus stattfinde, „verliere" meine Kritik „ihren Wert" in bedeutendem Maße. Ich weiß nicht, ob hier vom Ton meiner Kritik gesprochen wird – der Rezensent notiert ihre „Leidenschaftlichkeit" – oder von ihrer Methode: von letzterer, wie es scheint, denn anders wären seine Folgerungen sinnlos. Aber wenn ich gedanklich meine Kritik der bürgerlichen Demokratie von diesem Gesichtspunkt aus rasch noch einmal durchgehe, so komme ich zu dem Schluss, dass der Rezensent unrecht hat. Sage ich etwa meinen Lesern, dass die bürgerliche Demokratie eine der Freiheit feindliche Kraft sei? Rufe ich die Massen auf, der bürgerlichen Demokratie den Rücken zuzukehren? Das ist nicht der Fall! Ich sage in meiner Kritik, dass die bürgerliche Demokratie, wenn sie sich auf die breiten Massen stützen will, ein demokratisches Programm und eine konsequente revolutionäre Taktik entwickeln müsse. Ich kritisiere das Bestreben der Demokratie, den liberalen Semstwo der Gutsbesitzer zur Achse der Opposition zu machen („Do dewjatogo janvarija")1; ich rufe die Demokratie auf, ihr biederes Wohlwollen dem kapitalistischen Liberalismus gegenüber durch ständiges Misstrauen zu ersetzen, ich kritisiere insbesondere das Programm der Oswoboschdentsi vom Standpunkt ihres eigenen Demokratismus aus und stelle meiner Kritik die Aufgabe, die Massen gegen die Idee der Souveränität einer einzigen Person, gegen die zwei Kammern, gegen das stehende Heer und gegen die bürokratische Investitur aufzurufen („Konstituzija ,oswoboschdenzew'")2. Hat diese Kritik vielleicht den Vorabend der Diktatur des Proletariats zur Bedingung? Kann sie vielleicht nicht zur Gänze in den Rahmen des Widerspruchs zwischen dem Russland der Selbstherrschaft und Fronarbeit und dem demokratischen Russland eingespannt werden? Ich zeige auf, dass die Kampagne für die (Erste) Reichsduma unter dem Zeichen einer revolutionären Massenorganisation hätte geführt werden müssen; ich kritisiere die kadettische Agitation, die die Erwartung verbreitete, die Duma werde die Revolution allein auf sich nehmen und ihre grundsätzlichen Aufgaben auf schmerzlosem Wege lösen; ich zeige die Unvermeidlichkeit des Konflikts zwischen Duma und Regierung auf und fordere, dass die Taktik in ihrer Gesamtheit auf der Vorhersehbarkeit dieses Konflikts hätte aufgebaut werden müssen („G. Petr Struve w politike").3 Baut sich eine solche Kritik vielleicht auf der Voraussetzung des unmittelbaren Kampfes der Sozialdemokratie um die Macht auf? Bildet den Ausgangspunkt meiner Kritik etwa der Gedanke, dass die vollständige Volksherrschaft eine große Fiktion sei, da in der kapitalistischen Gesellschaft die Souveränität des Volkes lediglich die äußere Form der Exploitation von Klasse durch Klasse ist? Nein, ich gehe von dem weit ursprünglicheren Gedanken aus, dass eine aufrechte und konsequente demokratische Bewegung, die nicht Angst vor der Masse hat und nicht mit ihren jahrhundertealten Feinden herum scharwenzelt, die Fahne der unbeschränkten Volksherrschaft erheben würde. Liegt meiner Kritik etwa der Gedanke zugrunde, dass Miliz und gewählte Gerichte in der gegenwärtigen Gesellschaft notwendigerweise Organe der Klassenherrschaft der Bourgeoisie würden? Nein, ich gehe von dem viel einfacheren Gedanken aus, dass eine umfassende demokratische Erneuerung des Landes ohne Miliz, ohne gewählte Verwaltung und gewählte Gerichte undenkbar ist. Ist das etwa ein Programm der Diktatur des Proletariats? Offensichtlich nicht. Warum ist dann dem Rezensenten meine Kritik ohne den Rahmen eines unmittelbaren Kampfes für eine Arbeiterregierung unverständlich? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es einfach die Folge seiner persönlichen Begriffsstutzigkeit. Es ist ganz richtig: Aus der Analyse der sozialen und politischen Verhältnisse komme ich zu der Schlussfolgerung, dass ein entscheidender Sieg des demokratischen Russland über das Russland der Leibeigenschaft das Ruder in die Hände des Proletariats legen muss, dass die Realisierung aller grundsätzlichen Losungen der Demokratie durch eine Organisation vollbracht werden wird, die sich unmittelbar auf die städtischen Arbeiter und durch sie auf die ganze plebejische Nation stützt. Meine Analyse mag falsch und meine Prognose unrichtig seinB; vielleicht kräftigt die weitere revolutionäre Entwicklung die bürgerliche Demokratie so weit, dass sie die Macht in ihre Hände zu nehmen und damit das Proletariat in die Opposition zu treiben in der Lage ist. Aber würde eine solche Perspektive etwa nicht von uns eine beharrliche und unversöhnliche Kritik der bürgerlichen Demokratie verlangen – unter dem Blickwinkel ihrer demokratischen und revolutionären Bereitschaft? Ich denke, dass eine solche Kritik nicht nur nicht das Wachstum der oppositionellen Kräfte behindert, sondern ihm im Gegenteil sogar unersetzliche Hilfestellung erweist, weil sie beständig den linken Flügel der Demokratie gegen ihren rechten unterstützt. Ich begreife vollkommen (wie ich meinem Rezensenten zu beteuern wage), dass ein politisches Hindernis literarisch zu überspringen nicht bedeutet, es praktisch zu überwinden. Ich meine absolut nicht, dass man der bürgerlichen Demokratie, wenn man sie gehörig vor dem Volk beschimpft, die staatliche Macht vor der Nase wegziehen kann. Genau diese Taktik jedoch schreibt mir allem Anschein nach der Rezensent zu, wenn er sagt, dass meine Kritik außerhalb des Rahmens des unmittelbaren Kampfes um die Macht unverständlich sei. Er will wahrscheinlich ausdrücken, dass meine Angriffe deshalb so unverschämt seien, weil ich auf diese Weise die Demokratie beiseite zu schieben und das Feld für die Arbeiterregierung freizumachen hoffte. Aber er irrt sich. Meine „uferlosen Phantasien" von einer Arbeiterregierung basieren auf viel ernsthafteren Überlegungen, deren Kritik ich – ich wiederhole es – erst noch erwarte. Und was meine Polemik mit den bürgerlichen Parteien betrifft, so kann sie als Bestandteil der gesamten agitatorischen Tätigkeit unserer Partei die bürgerliche Demokratie nur stärken. Natürlich stärkt sie zugleich auch die Sozialdemokratie, indem sie die Selbstbestimmung des Proletariats fördert. Aber tritt mein sozialistischer Kritiker nicht gerade dagegen auf? Man kann die Geometrie der Beziehungen beider Kräfte in der Periode, in der die Revolution das alte Regime endgültig beseitigt, verschieden darstellen. Aber diese Voraussicht kann unsere Kritik und die Einschätzung der Losungen wie der Taktik der bürgerlichen Demokratie in naher Zukunft nicht verändern – unter der einen Voraussetzung allerdings, dass wir nicht glauben, der Klassenkampf innerhalb der bürgerlichen Nation werde die bürgerliche Revolution verlangsamen. Kämen wir freilich zu einer solchen Schlussfolgerung – derer ich allerdings meinen Rezensenten nicht zeihe – dann müssten wir aufhören, Sozialdemokraten zu sein, weil unter solchen Bedingungen offensichtlich nur die Annullierung einer selbständigen Politik des Proletariats es der bürgerlichen Demokratie ermöglichen würde, die Macht zu erobern. Selbstannullierung – das ist es, was der Liberalismus von uns fordert. III Was sind die Kriterien unserer Einschätzung und unserer Kritik des Liberalismus? Ein formales Kriterium bildet unser Programm der bürgerlichen Revolution, d. h. unser Minimalprogramm. Die Methode unserer Kritik ist die materialistische Analyse jeder neuen politischen Situation. Wenn man von jenem Klasseninhalt abstrahiert, mit dem die sich entwickelnde Arbeiterbewegung unser Minimalprogramm erfüllt, dann steht es als logisch in sich geschlossenes Programm der Demokratie vor uns. In dieser Gestalt müssen wir es so häufig wie möglich für die Kritik der bürgerlichen Opposition benutzen. Das Minimalprogramm, das sind die Forderungen, auf die wir die Demokratie in der Periode ihres Kampfes um die Macht verpflichten wollen und zu deren Erfüllung wir sie zwingen werden, wenn die Macht in ihren Händen sein wird. Wir besitzen keine theoretischen oder taktischen Gründe für eine Beschränkung oder Verkürzung dieser bis ins letzte konsequenten Forderungen der Demokratie oder für ihre Ersetzung durch andere halbherzige, vorbereitende, nicht endgültige Losungen, und es kann sie auch nicht geben. Ich erlaube mir, dies hier mit zwei, drei Beispielen zu illustrieren. Der Achtstundentag – das ist die zentrale Losung der Arbeiterdemokratie. Man hat häufig gegen uns argumentiert (und wird das noch öfter tun), dass sich die rückständige russische Industrie nicht mit einer nur achtstündigen Ausbeutung der Lohnarbeit begnügen könne; sollten wir uns unter diesen Umständen nicht zeitweilig auf die Forderung eines Zehn- oder Neunstundentages beschränken? Nein! Genau die Frage, ob für die russische Industrie der Achtstundentag tragbar ist, kann nicht mittels statistischer Berechnungen oder auf Grund abstrakt theoretischer Überlegungen entschieden werden, sondern allein durch die Praxis der sozioökonomischen Entwicklung. Zu der Reihe der Faktoren, die ihre Entscheidung bestimmen, gehören: der Druck des Proletariats auf das Kapital, der Widerstand des Kapitals, die Anpassung des Kapitals an den Markt, an den technischen Weltstandard, usw. Wir können lediglich auf einen dieser Faktoren unmittelbar Einfluss ausüben, nämlich auf die Klassenenergie des Proletariats. Die Forderung des Achtstundentags als allgemeine Klassenforderung koordiniert und verallgemeinert den Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages, den verschiedene Gruppen des Proletariats zu verschiedenen Zeitpunkten führen. Die grundsätzlich internationale Losung dieses Kampfes bringt es mit sich, dass er mit höchster Anspannung geführt wird, und gerade deshalb wird es möglich, praktische Maximalziele anzustreben. Diese Taktik setzt keineswegs parlamentarischen „Nihilismus* voraus: Wenn das Schicksal einer Gesetzesvorlage zum Zehnstundentag von unseren Stimmen abhinge, würden wir ihr natürlich unsere Stimmen geben. Eine derartige Gesetzesvorlage hat jedoch um so größere Chancen, in einem bürgerlichen Parlament die Mehrheit hinter sich zu bringen, je energischer die Massen für den Achtstundentag eintreten. Eine andere Losung, der die Sozialdemokratie breite Popularität verschafft hat, ist die der unbeschränkten Volksherrschaft. Die Liberalen haben uns schon häufig auf die „Taktlosigkeit“ dieser Forderung hingewiesen, die ihrer Meinung nach in einem krassen Widerspruch zu den „naiven monarchistischen Vorurteilen der Massen" stehe. Im ersten Fall versucht man, uns mit volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten einzuschüchtern, im zweiten mit massenpsychologischen: Müssen wir nicht tatsächlich zugeben, dass die Forderung der Volkssouveränität unangebracht ist, wenn sie die Massen „einschüchtert“? Bevor wir das jedoch tun, müssen wir unsere Kritiker fragen, worin denn ihrer Meinung nach das Wesen der Propaganda ganz allgemein besteht, wenn nicht in der Befreiung des Bewusstseins der Massen von „naiven Vorurteilen“? Für uns wenigstens ist das Hauptziel politischer Agitation und Propaganda mit der Entwicklung des Bewusstseins der Massen umrissen. Und wenn wir den Achtstundentag und die Volkssouveränität nicht sofort für die Massen erobern können, dann müssen wir sofort die Massen für den Achtstundentag und die Volkssouveränität erobern. Ein drittes Beispiel sei aus der jüngsten Geschichte der taktischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb unserer Partei genommen – die Frage der Losungen „für die Duma“ oder „für die Konstituierende Versammlung“ Die Anhänger der ersten Losung wiesen völlig zu Recht darauf hin, dass uns die Duma der Konstituierenden Versammlung nur näher bringen kann, wie uns der Zehnstundentag dem Achtstundentag näher bringt. Aber sie haben sich schwer geirrt, wenn sie behaupteten, dass „uns der Kampf für die Duma gegen die Bürokratie tausendmal näher an die Konstituierende Versammlung heranbringen wird als das ganze Geschrei (?) von der Konstituierenden Versammlung". („Nasche Djelo“) Dagegen können wir mit vollem Recht einwenden, dass uns der Kampf für die Konstituierende Versammlung gegen den Absolutismus tausendmal näher an die Duma heranbringen wird, d. h. auch an die Konstituierende Versammlung, als das ganze Geschrei von eben dieser Reichsduma. Die Parteigänger der ersten Losung wendeten ein, dass die Konstituierende Versammlung jetzt nicht realisierbar sei; wir antworten, dass unsere Forderungen nicht daraufhin berechnet sind, dass etwas „jetzt“ realisierbar sei; sie stellen ein Programm weit radikalerer Maßnahmen dar, die unter den Bedingungen der bürgerlichen Revolution realisierbar sein werden. Wenn die Konstituierende Versammlung „jetzt“ nicht zu erreichen ist, dann war sie es noch viel weniger zu dem Zeitpunkt, als wir sie in unser Programm aufnahmen und eine gewaltige Agitation um diesen Punkt entfalteten. Bei der Entscheidung der Frage, was realisierbar und was nicht realisierbar ist, haben wir kein anderes Kriterium (und können kein anderes haben) als die objektive Analyse, auf Grund derer unser Minimalprogramm formuliert ist. Müssen wir von ihm abweichen, so erweisen wir uns als Opfer eines subjektiven Voluntarismus und vulgären Empirismus. Wir würden sonst in Abhängigkeit von der Schärfe unseres politischen Weitblicks bald die eine, bald die andere Losung aufstellen, unsere Forderungen dem jeweiligen politischen Niveau der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der mittleren Bourgeoisie und schließlich der jeweiligen Beschaffenheit der staatlichen Macht anpassen, und endlich würden wir unsere Losungen in Abhängigkeit von tausend Faktoren beschneiden müssen – von Faktoren, die sich permanent verändern und neu formen würden, bevor die Partei in ihrer jeweiligen Einschätzung zu Übereinstimmung gelangt wäre. Das wäre keine Taktik mehr, das wären „Millionen Qualen“. Eine solche Art des Vorgehens entwickelt das Bewusstsein der rückständigen Klassen, der Bauern und des Kleinbürgertums, kaum weiter und führt unbestreitbar Verwirrung in die Reihen des Proletariats. Nein, es genügt uns völlig, dass die Forderung nach der Konstituierenden Versammlung nicht nur nicht der bürgerlichen Revolution widerspricht, sondern im Gegenteil sogar die höchste Stufe ihrer Entfaltung voraussetzt und vorbereitet. Wenn die Revolution auf Grund ihres inneren Kräfteverhältnisses nicht bis zur Konstituierenden Versammlung gelangen wird, dann wird sie doch in jedem Falle dank unserer grundsätzlichen Taktik bis zum höchsten ihr erreichbaren Niveau gelangen. Auf Grund der augenblicklichen Lage ist dieser Streit jetzt von der Tagesordnung abgesetzt – wenigstens bis zur Sprengung der zweiten Duma. Wenn wir noch nicht darüber hinausgelangt sind, so ist das die Folge eines prinzipiellen Irrtums, der sich in ihm abzeichnet. Ein Genosse, mit dem ich über diese Frage korrespondierte, führte folgende grundsätzliche Überlegung zugunsten der Losung „für die Duma“ an: Unser Ziel, schrieb er, ist die sozialistische Gesellschaftsordnung; das hinderte uns freilich in keiner Weise, das Minimalprogramm voranzutreiben, weil es die Voraussetzung für das Maximalprogramm als Gesamtheit der Maßnahmen darstellt, die die Durchführung des Sozialismus erleichtern müssen. Eben diese politische Logik, so folgert der Genosse, veranlasst uns jetzt, nach der Reichsduma als der Voraussetzung für die Konstituierende Versammlung zu streben. Diese Schlussfolgerung gründet sich auf eine rein formale Analogie logischer Symmetrie. Wenn sie ihre Beweiskraft aus der Existenz des Minimalprogramms zieht, beseitigt sie in Wahrheit den Sinn seiner Existenz; denn sie beraubt es seiner Bedeutung für uns als Minimalprogramm und schafft freien Raum für die Aufstellung immer minimalerer Forderungen. Auf diesem Weg würden wir uns gar in Achilles verwandeln, der mathematisch immer kleinere Schritte machen muss und so die Schildkröte niemals einholen kann – das ewige Drama des Reformismus. IV Müssen wir bei den Wahlen die bürgerliche Demokratie unterstützen? Und falls ja, warum und unter welchen Bedingungen? Wir vernahmen unlängst die gewichtige Antwort des Genossen Plechanow auf die erste Frage, eine Antwort, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Wir müssen die liberale Opposition unterstützen, um die Reaktion zu isolieren. Diese Antwort ist zwar völlig richtig, zielt jedoch bedauerlicherweise auf ein anderes, viel allgemeineres Problem und entspricht nicht der Frage, die jetzt vor uns steht. Wir müssen die liberale Opposition unterstützen; aber folgt daraus etwa unmittelbar, dass wir ihre Parlamentskandidatur unterstützen müssen? Bevor man dies bejaht, ist zu klären, in welchem Verhältnis die gegenwärtige parlamentarische Kampagne zur Entwicklung der liberalen Opposition steht. Wir müssen die Reaktion isolieren; jedoch – lässt sich diese Aufgabe etwa auf die Sorge dafür beschränken, dass die Reaktion keine Sitze im Saal des Taurischen Palais erhalte? Und müssen wir nicht vor allem prüfen, welchen Stellenwert die Unterstützung der liberalen Opposition in unserer allgemeinen Arbeit besitzt, welche die Reaktion tatsächlich isoliert, indem sie sie aus dem Bewusstsein der Volksmassen verdrängt? Unsere Methode der „Unterstützung“ bzw. der „Isolierung“ ist ganz und gar nicht identisch mit den Methoden, die von den liberalen Professoren des Kongresses von Helsingfors ausgeklügelt werden. Das Gesamtinteresse der liberalen Opposition als solcher erkennen wir keineswegs in der gleichen Art wie ihre augenblicklichen Führer, und ich denke, dass die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie allein während der letzten beiden Jahre deutlich genug gezeigt hat, auf welcher Seite das tiefere Verständnis für diese Interessen vorhanden ist. Ich will damit nicht etwa sagen, dass wir nicht in bestimmten Fällen die Kandidaten der bürgerlichen Demokratie mit unseren Stimmen unterstützen müssten; ich denke nur, dass die Gründe, die uns dazu veranlassen, wesentlich realer sind und weit mehr dem Charakter der historischen Sache entsprechen, die wir durchführen. Jede neue revolutionäre Situation fordert von uns, dass wir sie ausnützen – erstens für die selbständige Organisation des Proletariats und zweitens für die Hereinnahme breiter demokratischer Massen in die unmittelbare revolutionäre Auseinandersetzung. Jeder unserer Schritte, der uns diesem zweiten Ziele näher bringt, stellt genau die Unterstützung dar, die wir der bürgerlichen Demokratie als politisch-sozialer Kraft erweisen; jeder solche Schritt macht es uns aber möglich, zu diesen oder jenen oppositionellen Organisationen in unterschiedlichste Beziehungen zu treten, Organisationen, die das augenblickliche Entwicklungsniveau der demokratischen Massen widerspiegeln. Das können die Kadetten – eine dieser momentan existierenden Organisationen – nicht verstehen, wir jedoch dürfen es niemals vergessen. Eine kraftlose Duma, die dem bewaffneten Absolutismus gegenübersteht, schafft eine revolutionäre Situation, d. h. einen Widerspruch, der auf „konstitutionellem“ Wege nicht mehr aufhebbar ist. Und wenn ich zu der Schlussfolgerung gelange, dass man in die Duma einen Kadetten schicken muss, so vor allem deshalb, um ihn zu kompromittieren. Wenn ich die sozialdemokratischen Wähler oder Wahlmänner aufrufe, für einen Kadetten zu stimmen, so keineswegs deshalb, weil ich dächte, einen Zettel mit dem Namen des Herren Petrunkewitsch in einem Holzkasten zu versenken, hieße direkt und unmittelbar die Demokratie unterstützen. O nein! Im angeführten Fall unterstütze ich die Demokratie dadurch, dass ich ihre morgigen Führer in eine revolutionäre Situation stelle und sie damit kompromittiere. Die rückständige bürgerliche Demokratie, die mich durch ihr Übergewicht gezwungen hat, für den Kadetten zu stimmen, stoße ich durch diese „Unterstützung* vorwärts; den Kadetten jedoch unterstütze ich, wie der Strick den Gehenkten unterstützt. Man kann mir sagen, das möge so sein, und im Grunde laufe es auch darauf hinaus. Meine Überlegungen hätten jedoch keinerlei selbständige Kraft; ein Faktum bleibe ein Faktum. Ich stimmte für die Kadetten, folglich unterstützte ich die Kadetten. Natürlich bleibt ein Faktum immer ein Faktum, würde ich antworten. Aber was ist im gegebenen Fall das entscheidende Faktum? Der in die Holzurne gesteckte Stimmzettel oder die revolutionär-sozialistische Agitation, die wir während der Wahlen entwickeln und in der wir ein und denselben Ton durchhalten, ob wir nun selbst gegen einen kadettischen Kandidaten antreten oder ob wir einen Kadetten gegen einen Oktobristen unterstützen? Die Frage, die in unserer Partei noch heftiger diskutiert wird – nämlich auf welcher Stufe unseres babylonischen Wahlturms es gestattet sei, nichtproletarische Kandidaten zu unterstützen – hat ohne Zweifel ernsthaftes Gewicht; nichtsdestoweniger wage ich zu behaupten, dass es sich dabei um ein Problem ganz und gar zweitrangiger Bedeutung handelt. Den ersten Rang nimmt die Frage nach der politischen Idee ein, die unsere Agitation strukturiert und unseren Aktionen einheitlichen Sinn verleiht, ob wir nun die Bevölkerung aufrufen, für den Genossen Plechanow zu stimmen, ob wir die Wähler auffordern, den kadettischen Wahlmännern ihre Stimmen zu geben, oder ob wir unseren Wahlmännern empfehlen, dem Herrn Miljukow zu helfen, die Schwelle zur Reichsduma zu überschreiten. Manche Genossen messen meiner Meinung nach der Frage, auf welcher Stufe des Wahlablaufs es Wahlübereinkommen geben wird, eine unverhältnismäßig große Bedeutung zu: in dem einen Fall, sagen sie, würden wir die Massen aufrufen, für die Kadetten zu stimmen, im anderen – eine Gruppe von Wahlmännern. Dieser Unterschied ist ohne Zweifel sehr wesentlich; aber schließlich denkt doch niemand von uns daran, dass die Wahlmänner ohne Einverständnis der Masse die Kadetten unterstützen sollen. Im Gegenteil, Sinn und Zweck unserer Teilnahme an den Wahlen verlangen geradezu, dass jeder Schritt unserer Bevollmächtigten oder Wahlmänner den Massen bekannt und von ihnen verstanden worden ist. Bekannt wird er auch ohne uns, dass er jedoch verstanden wird, das können nur wir selbst erreichen. Und wir werden das allerdings erreichen müssen, wenn wir nicht wollen, dass die Massen zu dem Schluss kommen, die sozialdemokratischen Wahlmänner hätten sie betrogen und sich an die Kadetten verkauft. Sind wir aber der Überzeugung, es sei, wenn wir eine unversöhnliche Agitation gegen die Kadetten führen und die Massen aufrufen, immer und überall für die sozialdemokratischen Wahlmänner zu stimmen, gleichzeitig durchaus möglich, diesen gleichen Massen verständlich zu machen, weshalb unsere Wahlmänner in bestimmten Fällen für die Kadetten stimmen – könnten wir dann nicht in anderen Fällen unter Beibehaltung eben dieser agitatorischen Position die Wähler aufrufen, unmittelbar für Kadetten zu stimmen? Ich denke, dass hier kein prinzipieller Unterschied besteht; beide Methoden setzen genau das gleiche politische Niveau beim Wähler voraus. In Europa kommen Wahlübereinkommen gewöhnlich beim zweiten Wahlgang zustande; diese Reihenfolge bringt viele Vorteile, über die ich mich hier nicht weiter auslassen werde. Ich mache die Genossen jedoch darauf aufmerksam, dass sich die Wahlen zum zweiten Wahlgang keineswegs so wie die Wahlen in der zweiten Phase abseits von der Masse oder hoch über der Masse abspielen; an den Wahlen zum zweiten Wahlgang nimmt der gleiche Massenwähler teil wie bei den allgemeinen Wahlen – und dieser einfache Menschentypus hat viele Hindernisse zu überwinden: Sieben Tage zuvor gab er auf Grund intensivster Agitation durch die Partei seine Stimme dem Sozialdemokraten gegen den Liberalen; heute, eine Woche später, soll er auf Appell desselben Sozialdemokraten seine Stimme dem Liberalen geben. Und wenn sein Kopf mit diesem Widerspruch bis zum Zeitpunkt des zweiten Wahlgangs fertig wird, so verstehe ich nicht, weshalb er gegenüber der gleichen Kombination bei den allgemeinen Wahlen in Verwirrung geraten sollte. Man kann Mutmaßungen mit mehr oder minder hohem Wahrscheinlichkeitsgrad darüber anstellen, ob und in welchem Umfang Übereinkommen mit den Kadetten in der ersten Phase der Wahlen notwendig sein werden; die Möglichkeit solcher Übereinkommen selbst prinzipiell verneinen, das kann man jedoch nicht. Überhaupt wäre der Gedanke seltsam, dass in dieser speziellen Sphäre, in der Fragen der Wahltechnik eine entscheidende Rolle spielen, irgendwelche absoluten, indiskutablen Prinzipien existieren sollten; die in allen Fällen unser Verhalten zu bestimmen hätten. Könnte eine zwar sehr ernstzunehmende, aber doch rein technische Schwierigkeit wie etwa das Nichtvorhandensein zweiter Wahlgänge für uns das politische Ziel aufheben, das wir mit Übereinkommen zu erreichen trachten? Natürlich nicht. Ich wiederhole: Entscheidende Bedeutung für unsere politische Selbständigkeit hat weniger das taktische Wahlverhalten für sich als vielmehr die diesbezügliche Methode, die all unserer Agitation ihre Schärfe gibt. Lassen wir uns von einer Abstraktion leiten – wie etwa von der These, dass wir durch Unterstützung der Kadetten die „Reaktion isolieren“ würden –, dann müssten uns Übereinkommen mit den Kadetten in mehr oder minder starkem Maße in Verteidiger der Kadettenpartei gegenüber der Bevölkerung verwandeln. An erster Stelle müsste dann für uns die Überlegung stehen, dass neben uns Sozialdemokraten noch andere Möglichkeiten bestünden, dass außer uns noch andere Parteien existierten, die für die Freiheit kämpfen, dass die Kadetten eine progressive Partei seien, dass sie sich für „Land und Freiheit“ einsetzen usw. usf. Wenn wir jedoch auf dem Standpunkt stehen, zur Isolierung und Zermalmung der Reaktion sei es unter anderem notwendig, im Bewusstsein der Bevölkerung politische Vorurteile zu zerstören, welche die Kadetten zu festigen bemüht sind, und dieses Ziel werde am besten dadurch erreicht, dass wir den Kadetten zu der Lage verhelfen, um die sie sich so bemühen und welche Qualitäten erfordert, die sie derzeit nicht einmal in ihren Träumen besitzen, dann bleiben wir ihre erbarmungslosen politischen Entlarver – sowohl auf der Ebene, auf der wir unmittelbar mit ihnen konkurrieren, als auch da, wo wir für sie stimmen werden. Freilich sind die Kadetten eine progressive Partei, sicherlich ist Herr Petrunkewitsch unvergleichlich „besser" als Herr Purischkewitsch oder auch Herr Gutschkow, und natürlich setzen die Kadetten sich für „Land und Freiheit“ ein. Wir Sozialdemokraten jedoch müssen den Kadetten die Möglichkeit geben, selbst all diese „unbestreitbaren Wahrheiten“ zu beweisen: Sie sind daran hinreichend interessiert, und sie haben dazu einen gewaltigen Apparat an legalen Zeitungen und eine entsprechende Menge von Rednern, die über einen ganzen Katalog von Würden und Verdiensten der kadettischen Partei verfügen. In diese liberale Agitation müssen wir unser sozialdemokratisches Korrektiv einbringen: Sicherlich, so werden wir sagen, ist der Herr Petrunkewitsch besser als der Herr Purischkewitsch („das kleinere Übel“); der Kern des Problems ist jedoch, dass die Taktik des Herrn Petrunkewitsch nicht geeignet ist, euch, Bürger, vor der Regierungsdiktatur des Herrn Purischkewitsch zu bewahren. Natürlich treten die Kadetten für „Land und Freiheit“ ein, ihre politische Hegemonie jedoch wird dem Volk weder das eine noch das andere bringen. Ihr allerdings, Bürger Wähler und Bürger Wahlmänner, teilt diese unsere Ansicht in eurer Mehrzahl nicht. Ihr fordert, dass wir euch mit unseren Stimmen helfen, die Schwarzhundertleute zu erdrücken und den Herrn Petrunkewitsch in die Duma zu entsenden. Wir werden das auch tun, denn wenn der Herr Purischkewitsch in die Duma gelangt, wird er euch euren Glauben an Herrn Petrunkewitsch unversehrt bewahren helfenC, und in eurem Bewusstsein wird alle Verantwortung auf uns fallen. Das wollen wir nicht: Wir kommen euch entgegen; wir stimmen für euren Kandidaten, um euch zu zeigen, dass ihr auf der falschen Bahn seid. So werden wir auf den Wahlversammlungen sprechen. Und wenn unsere Motive für die Bürger, die ohnehin für die Kadetten zu stimmen willens sind, vorläufig noch bedeutungslos sein mögen, so werden sie für die sozialdemokratisch gestimmten Wähler, wenn wir sie veranlassen, für einen Abgeordneten zu stimmen, über den sie politisch bereits hinausgewachsen sind, absolut nicht bedeutungslos sein. V Wie weiter oben gesagt, würden wir mit der ersten Argumentationsweise als Verteidiger der Kadetten auftreten, mit der zweiten — als ihr Entlarver. Natürlich will ich dem Genossen Plechanow damit keineswegs die Empfehlung unterschieben, wir sollten uns mit den Kadetten identifizieren oder auch nur ihre Fehler alle verschweigen. Wird doch auch der Verteidiger nicht mit dem Angeklagten identifiziert und leugnet nicht dessen Verbrechen; er verteidigt ihn nur und hebt grundsätzlich seine guten Seiten und die mildernden Umstände hervor. Auf eine kurze Formel gebracht, könnte die Agitation in der ersten Argumentationsweise folgendermaßen vor sich gehen: Obwohl der Kandidat NN als Kadett tausend Fehler aufweist, hat er mit all diesen Fehlern sowohl als oppositioneller Politiker wie auch als Streiter für „Land und Freiheit“ die Qualitäten, das Volk in der Reichsduma zu vertreten. Die zweite Formel wäre: Obwohl der Kandidat NN als Kadett tausend Qualitäten hat, ist er trotz all dieser Qualitäten völlig unbrauchbar für den Kampf um „Land und Freiheit“ – und um euch das zu beweisen, helfen wir euch, ihn in die Reichsduma zu entsenden. In diesem Unterschied liegt eine ganze Welt politischer Agitation. Man kann hier einwenden, dass man die „Tauglichkeit“ bzw. „Untauglichkeit“ eines Kadetten zur Erfüllung revolutionärer Aufgaben nicht absolut erfassen könne; heute noch untauglich, würden sie morgen tauglich sein unter dem Einfluss von Verpflichtungen, denen sie unwissentlich entgegengingen. Das ist ganz richtig. Ich denke jedoch, dass gerade die Agitation des zweiten Typs in höchstem Maße der revolutionären Umformung der entwicklungsfähigen Elemente in der konstitutionell-demokratischen Partei förderlich sein wird. Ich möchte hier noch einmal wiederholen, worauf zu beharren ich nie müde werde: Man darf nicht die marxistische Analyse mit der sozialdemokratischen Agitation gleichsetzen. Es kann zwischen ihnen kein Widerspruch bestehen – sie sind jedoch nicht ein und dasselbe; sie verhalten sich zueinander wie die Naturwissenschaft zu ihrer technischen Anwendung, wie die Theorie zur Praxis. Die objektive Analyse der gesellschaftlich-historischen Verhältnisse mag uns vielleicht sogar zu der Schlussfolgerung zwingen, dass der Sieg der demokratischen Nation die Diktatur der Kadetten bedeute; als Sozialdemokraten jedoch werden wir zur Beschleunigung des Prozesses einer künftigen bürgerlich-demokratischen Diktatur und zur Vertiefung ihres sozialen Inhalts am meisten beitragen, wenn wir jetzt erbarmungslos die völlige Untauglichkeit der kadettischen Partei für die Rolle des politischen Führers der revolutionären Nation aufdecken. Das ist die Dialektik der Politik! Die bürgerliche Revolution unterstützen heißt, sie auf den Weg der Revolution stoßen… „Retsch“ antwortet darauf folgendermaßen: „Uns zu unterstützen, erlauben wir euch gerne; eurer Doktrin zuliebe erlauben wir euch sogar, uns bürgerliche Demokratie zu nennen. Aber uns zu stoßen – das, ihr müsst schon entschuldigen, erlauben wir euch keinesfalls!" In der Nummer vom 15. November steht buchstäblich das Folgende geschrieben: „Dieses Bestreben der Sozialdemokratie („die ganze bürgerliche Demokratie auf den Weg der Revolution zu stoßen und aus der Duma in ihrer Gesamtheit ein Werkzeug der Revolution zu machen") muss auf den schärfsten und entschlossensten Widerstand dieser „bürgerlichen Demokratie“ treffen, sogar auch jenes Teils der „bürgerlichen Demokratie“, der für ein Abkommen eintritt. … Es ist unbedingt notwendig, ein für allemal festzustellen, dass es der Sozialdemokratie nicht gelingen wird, die „bürgerliche Demokratie“ und die Duma, wohin auch immer, zu treiben. Die „bürgerliche Demokratie“ geht in die Duma, um legislativ tätig zu sein."D Trotz der ganzen Komik dieses Tons der adeligen Dame aus der Provinz, die um eines „Übereinkommens“ mit dem Proletariat willen dritter Klasse fährt, aber beständig fordert, dass man sie, bitte, nicht stoßen möge, trotz aller kindlichen Naivität des kadettischen Denkens, wie sie sich hier zeigt, sind die angeführten Zeilen ungemein lehrreich und veranlassen sozusagen zu tiefem Nachdenken. Die Sozialdemokratie hat sich entschlossen, bei den Wahlen in bestimmten Fällen kadettische Kandidaturen zu unterstützen. Das Organ der kadettischen Partei wendet sich daraufhin an uns und sagt: „Ihr wollt für die Konstituierende Versammlung kämpfen? Das ist reine Utopie. Wir verzichten ein für alle Mal auf diese Losung."E Ihr wollt die Duma in ein Organ des revolutionären Kampfes verwandeln? Rechnet nicht auf unsere Hilfe; wir werden legislativ tätig sein. Die Zeitung des Herrn Miljukow ereifert sich ganz besonders, auf dass kein „Missverständnis“ entstehe, sie gerät in große innere Unruhe und besteht darauf, dass man das den Sozialdemokraten sehr klar und kategorisch zu verstehen gebe. Beinahe in jeder Nummer bringt die verehrungswürdige Zeitung die dornenreiche Frage erneut aufs Tapet: Auf der einen Seite die Vorteile eines „Übereinkommens“, auf der anderen die Perspektive unhöflicher Püffe. Wenn man jedoch auf ein Übereinkommen verzichtete, würde dann die Sozialdemokratie auch auf ihre revolutionären Absichten verzichten? „Aber wir werden es ihnen beharrlich und entschieden zu verstehen geben", ermutigen sich die Kadetten gegenseitig. „Ach, werden sie verstehen wollen?" ertönt als wehmütiges Echo die Stimme der Frau Kuskowa im „Towarischtsch“. Dieser gute und uneigennützige „Towarischtsch“ zweier Parteien – er zerreißt sich beinahe in Stücke, um den Block auf einem Silbertablett zu präsentieren. Die Frage sei im Grunde ganz einfach, versichert die Zeitung: Wer für die Konstitution sei, der komme auf die linke Seite in den großen Koalitionssack, wer für die Wasserklosettfabrik Lidwal sei, nach rechts. Natürlich würden alle dabei im großen Sack des Blocks ihre volle Selbständigkeit bewahren. Es sei wahr, die Sozialdemokraten drohten mit Stößen; betrachte man diese Frage jedoch im Lichte realistischer Politik, so seien die Sozialdemokraten im Grund doch deshalb mit in den Sack aufgenommen worden, dass sie die Stöße selbst nicht allzu bequem austeilen könnten. Sie würden das schließlich auch selbst verstehen müssen. – „Ach, ob sie das wirklich verstehen werden?" härmt sich Frau Kuskowa auf ihrem Zweiglein. Wir wollen diesen Herrschaften nach Kräften offene und beruhigende Aufklärung geben. Die Sozialdemokratie wäre höchst naiv, wollte sie ihre Perspektiven auf den offiziellen Erklärungen anderer Parteien aufbauen. Wir bewahren die klassischen Worte unseres alten Marx sehr wohl im Gedächtnis, dass man das Wesen einer Partei so wenig nach ihren Deklarationen beurteilen könne wie den Charakter eines Menschen danach, was er sich selbst dünkt. Die Erklärungen der Kadetten mögen standfest, kategorisch und völlig offenherzig sein, sie können jedoch in keiner Weise als objektives Material zur Bestimmung ihrer Taktik dienen. Im Oktober 1905 forderten die Kadetten die Konstituierende Versammlung und schworen, all ihr Gewicht in die Waagschale der Revolution zu werfen. Vor den Wahlen verpflichteten sie sich, keine „systemkonforme“ Arbeit zu leisten. Nach ihrem Eintritt in die Duma entschlossen sie sich, verharrend auf streng „konstitutionellem“ Rechtsboden, allein „legislativ tätig zu sein“. Nach der Sprengung der Duma veröffentlichten sie den Wyborger Aufruf, der gleichwohl die Paragraphen des oktroyierten „konstitutionellen“ Rechts in keiner Weise in Frage stellte. Danach distanzierten sie sich wieder von dem Wyborger Aufruf, ohne allerdings die oben genannten Paragraphen abzulehnen. Jetzt verzichten sie auf die Konstituierende Versammlung und schieben die Waagschale der Revolution von sich: Sie wollen erneut legislativ tätig sein. Offensichtlich sind all diese Manöver und Manipulationen, die unserem vulgären Blick wie das Umherirren politischer Schildbürger zwischen drei Kiefern erscheinen, in Wirklichkeit von hohen staatsmännischen Überlegungen diktiert. Da wir diese hohen staatsmännischen Überlegungen, wie Frau Kuskowa ganz richtig ahnt, jedoch niemals verstehen werden, können wir unsere Politik nicht darauf abstimmen. Sind aber in solchen Fällen Übereinkommen möglich? Gewiss – denn wir ziehen nur jene revolutionäre Situation in Betracht, die sich aus der Existenz der Duma selbst ergeben wird, nicht jedoch die subjektiven Pläne kadettischer Deputierter. Das soll keineswegs heißen, dass die augenblicklichen Pläne der Kadetten für uns uninteressant wären: Wenn auch die Meinung eines Menschen von sich selbst seinen Charakter nicht bestimmt, so bildet sie doch einen wichtigen Bestandteil gerade dieses Charakters. Ebenso verhält es sich auch mit den Deklarationen einer Partei; wir müssen grundsätzlich immer die Worte der Kadetten ihren Taten gegenüberstellen – in den Fällen, in denen sie mehr versprechen, als sie erfüllen, und in den Fällen, in denen sie gezwungen sind, weiter zu gehen, als sie eigentlich wollten. Wir werden während der Wahlen von den Kadetten fordern, deutlich und klar auszuweisen, was sie zu tun beabsichtigen und auf welche Weise sie zu handeln gedenken, und wir werden ihre Antworten im Gedächtnis der Wähler festhalten. Zum notwendigen Zeitpunkt werden wir alle Widersprüche aufzudecken und alle Konsequenzen zu ziehen wissen. Sind jedoch Wahlübereinkommen mit den Kadetten für uns überhaupt möglich, wenn sie von vornherein durch die Federn ihrer Publizisten erklären, das Ziel solcher Übereinkommen, nämlich die bürgerliche Demokratie auf den Weg des revolutionären Kampfes zu treiben, werde auf ihrer Seite entschiedenem Widerstand begegnen? Sie sind nicht nur möglich, sie sind sogar obligatorisch. Glauben wir denn, auf dem Weg über das Bewusstsein der bürgerlichen Publizisten Einfluss auf die Politik der Demokratie nehmen zu können? Oder stellen wir uns die Aufgabe, die kadettischen Deputierten in der Duma von einer anderen Meinung zu überzeugen und sie mit Logik, Überredungskunst, Takt und tausend anderen Fähigkeiten in das Lager der Revolution zu ziehen? Hoffnungen und Pläne dieser Art wären lachhaft. Wir würden dann unsererseits gegenüber den Kadetten jene klägliche Taktik anwenden, mit der sie selbst so viele Male versucht haben, die Regierung auf den Weg des Liberalismus zu ziehen. Nein, wir gründen unsere Taktik auf die objektive Logik der Ereignisse. Der naive und doch – in seiner Spontaneität und Massenhaftigkeit – gewaltige proletarische Aufstand vom 9. Januar, nicht jedoch unsere Überzeugungskraft veranlasste die bürgerliche Demokratie, die Losung der Konstituierenden Versammlung und des allgemeinen Wahlrechts aufzunehmen. Es war der Oktoberstreik, der die damals im Entstehungsprozess befindliche konstitutionell-demokratische Partei zum Treueschwur auf die Revolution veranlasste, und es war die Sprengung der Duma, nicht jedoch unsere Überredungskunst, die die Kadetten dazu veranlasste, den Wyborger Aufruf zu verfassen und zu unterzeichnen. Aber später distanzierten sie sich doch von all diesen Losungen, Schwüren und Aufrufen! Trugen sie doch das ganze Gepäck ihres politischen Philistertums ohne einen Kratzer durch alle Prüfungen! Wo ist da Grund zu hoffen, dass ein neuer Zusammenbruch sie kurieren würde? Und wen unter ihnen? Die Herren Miljukow, Petrunkewitsch oder Roditschew? Besteht unsere Arbeit etwa in der Umerziehung liberaler Politiker? Nein, sie beschränkt sich darauf, die von den Kadetten mobilisierten gesellschaftlichen Gruppen vorwärts zu stoßen, indem man sich auf die kadettischen Eroberungen in den rückständigen Schichten des Kleinbürgertums stützt, und die liberalen Führer damit auf andere, noch rückständigere und konservativere Schichten zurückzudrängen. Die Miljukows und Petrunkewitschs ändern sich nicht – aber erhalten sie vielleicht ihre Armee in unverändertem Bestand? Spielte der Wyborger Aufruf – seine Anerkennung wie die Lossage von ihm – etwa nicht die Rolle eines antikadettischen Impfstoffs, den die Kadetten selbst zubereitet hatten? Welche Bedeutung kann denn die Tatsache für uns haben, dass die Kadetten sich gegen die Verwandlung der Duma in eine Waffe der Revolution zu stellen drohen? Es genügt der Hinweis, dass bestimmte soziale Elemente, auf die die Revolution allen Anspruch hat, noch unter kadettischem Einfluss stehen. Wir müssen ihr helfen, diese Ansprüche zu realisieren. Wo den Kadetten reaktionäre Kandidaten gegenüberstehen werden und wo die Entscheidung von uns abhängt, da werden wir unsere Stimmzettel in die kadettischen Urnen werfen und die Kadetten mit ruhigem sozialistischem Gewissen ihrem Schicksal entgegenschicken. VI Unsere Einstellung zu den Wahlübereinkommen, wie wir sie verteidigen, schließt per se die Möglichkeit einer, wie auch immer gearteten gemeinsamen Wahlplattform mit anderen Parteien oder entsprechender gemeinsamer, speziell für ein Wahlübereinkommen aufgestellter Wahllosungen aus. Den Versuch des Genossen Plechanow,beiden Parteien als Einigungsformel die Losung einer „omnipotenten Duma" vorzuschlagen, halten wir für ein totgeborenes Kind. Die erbarmungsloseste Kritik des Plechanowschen Vorschlags allerdings stammt von der Zeitung „Retsch" – dem Zentralorgan eben jener Partei, für die sich Plechanow mit der Bildung seiner „algebraischen Formel" bemühte. Die Zeitung schreibt völlig zu Recht: „Können wir – und darin liegt das ganze Problem – mit einem algebraischen Zeichen operieren, hinter dem sich zwei einander ausschließende arithmetische Größen verbergen?" „Retsch" verneint diese Frage. Es ist richtig, seinerzeit hatte die „ambivalente" Losung der Konstituierenden Versammlung einigende Wirkung. Der Kern des Problems jedoch ist, dass ihre Ambivalenz von keiner Seite beabsichtigt war; die ganze weitere Agitation enthüllte jedoch diese Ambivalenz und brachte die Kadetten dazu, sich von der Formel selbst zu distanzieren. Jetzt schlägt der Genosse Plechanow vor, künstlich und im Bewusstsein ihrer offensichtlichen Ambivalenz die Losung der „omnipotenten Duma" aufzustellen. Worin würde denn eine Agitation mit dieser Losung inhaltlich bestehen? In dem Versuch, diese Ambivalenz zu verbergen und damit die künstlich aufgestellte Fiktion einer einheitlichen Losung zu stützen? Oder in seinem Gegenteil, nämlich in der Aufdeckung dieser Widersprüchlichkeit, sobald sie im politischen Kampf erscheint? Bislang hatten wir in unserer Agitation die Gewohnheit, Ambivalenzen aufzudecken, nicht jedoch sie zu schaffen. Die Partei hat ganz und gar keinen Grund, mit dieser Gewohnheit zu brechen. „Retsch" ist im Grunde nicht gegen die Ambivalenz als solche (was geschähe mit dem liberalen Denken, wenn es sich nicht mehr aus ambivalenten Formeln und Wendungen speisen könnte!), o nein, „Retsch“ ist deshalb gegen besagte Formel, weil ihre innere Widersprüchlichkeit zu durchsichtig und sie durch die Revolution schon zu sehr kompromittiert ist. Die Zeitung schreibt: „Die „omnipotente Duma" – diese Losung wurde schon einmal von einer Partei benutzt, und zwar im Widerspruch zu dem Verständnis der Aufgaben der Duma, wie es die Partei der Volksfreiheit besitzt. Und es war obendrein gerade die Propagierung der Idee der omnipotenten Duma, die als Vorwand der Sprengung der Duma einen gewissen äußeren Schein von Berechtigung gab. Wenn daher vom Standpunkt der Partei der Volksfreiheit aus irgendeine Losung existiert, die – weil nicht nur ambivalent, sondern sogar äußerst gefährlich – nicht angewendet werden darf, dann ist das vor allem die Losung der „omnipotenten Duma"." „Retsch" seinerseits schlägt eine Einigungsplattform vor, die einmalig ist in ihrer heiligen Einfalt: 1. Rückkehr der alten (d. h. kadettischen) Dumamehrheit in die zweite Duma; 2. Bildung eines Ministeriums aus der Dumamehrheit, d. h. aus den Kadetten. Mit anderen Worten, der gute und gescheite „Retsch" schlägt uns eine Taktik vor, bei der nur noch zu fragen bliebe: Wie würden wir denn handeln, wenn wir einfach Kadetten würden? Gerade so, wie es „Retsch" empfiehlt: Wir würden alle aufrufen, für die Kadetten zu stimmen, und wir würden ein kadettisches Ministerium fordern. Da wir jedoch das neue Russland nicht aus dem Portefeuille des Herrn Miljukow zu ziehen hoffen, da unserer Meinung nach für die Säuberung des autokratischen Augiasstalls, dessen Insassen noch nicht entfernt worden sind, etwas mehr nötig sein wird als fünf oder sechs zur Macht „berufene" liberale Biedermänner, und da wir darüber hinaus noch einige Verpflichtungen gegenüber dem Proletariat haben, die niemand für uns erfüllen kann – deshalb sind wir gezwungen, mit aller Ehrerbietung die uns vorgeschlagene Verwandlung in einen Arbeiterchor hinter kadettischen Solisten auszuschlagen. Aus den Überlegungen des „Retsch" ergeben sich in jedem Falle zwei Konsequenzen. Die erste haben wir aus anderem Anlass bereits weiter oben formuliert: Die Sozialdemokratie entlarvt die Liberalen anhand der Inkonsequenz ihres Liberalismus, anhand der Inkongruenz ihrer Taktik und ihres eigenen demokratischen oder halb demokratischen Programms. Die Liberalen werfen uns unentwegt vor, dass wir mit unserer Taktik auf dem Boden des Klassenkampfes stünden, dass wir revolutionäre Sozialisten seien, dass wir keine Liberalen bzw. dass wir nicht schlechte Liberale seien, dass wir nicht das Ebenbild unserer Kritiker und Gegner darstellen. Wir fordern von den Liberalen, sie sollten sich selbst gegenüber aufrichtig sein; die Liberalen verlangen von uns, dass wir uns in unser Gegenteil verwandeln. Deshalb erhält die sozialistische Kritik moralische Unterstützung und ist praktisch wirksam, während die vom Liberalismus geübte Kritik in gegenstandslose Jeremiaden zerfließt, und deshalb zieht die sozialistische Kritik dem Liberalismus überall, bei jedem Schritt, den Boden unter den Füßen weg. Die zweite Konsequenz steht mit der ersten in engem Zusammenhang: Angesichts des verschärften vielgestaltigen und komplizierten Kampfes zwischen sozialer Demokratie und bürgerlicher Demokratie wäre der Traum von der Errichtung eines „paradiesischen Friedens" zwischen ihnen während der Periode der Wahlen naiv, und es wäre noch naiver zu glauben, man könne diesen Frieden über ambivalente Formeln und verbale Umgehungsmanöver erreichen. Der Liberalismus hält sich wie die Quecksilbersäule des Barometers lediglich unter äußerem Druck auf einer bestimmten Höhe – unter dem Druck der revolutionären Massen. Wir können auf den Liberalismus nur insoweit Einfluss nehmen, als wir die Massen beeinflussen können. Wenn wir damit anfangen, zwischen revolutionären und liberalen Losungen hin und her zu lavieren und temporären Stimmungen der bürgerlichen Demokratie entsprechend die einen mit den anderen zu vertauschen, wenn wir in jene pseudorealistische Politik eintreten, die in Wahrheit nichts anderes ist denn kläglicher Impressionismus, dann tragen wir lediglich Verwirrung in das Bewusstsein der Massen und unterstützen den eitlen Snobismus und die Sterilität des Liberalismus – Sterilität gegenüber dem Absolutismus, anspruchsvollen Snobismus uns gegenüber. Gehen wir morgen einen Schritt in Richtung Liberalismus, so wird der Liberalismus unvermeidlich zwei Schritte auf die Reaktion zu machen, und zu guter Letzt ist er weiter von uns entfernt als gestern. Noch vor ganz kurzer Zeit träumten die Liberalen von einem Übereinkommen ohne alle Bedingungen und Einschränkungen, jetzt, nachdem die Frage eines Übereinkommens mit den Kadetten einen unverhältnismäßig großen Stellenwert in unserer aktuellen Parteipolitik bekommen hat, nachdem begonnen wurde, aus unserer Mitte heraus Einigungsformeln zu entwickeln, die die rein technischen Übereinkommen tendenziell in einen politischen Block verwandeln könnten, gehen uns die Kadetten nicht nur nicht entgegen und begrüßen diese Entwicklung in keiner Weise, sie schrauben im Gegenteil ihre Ansprüche in solche Höhen, dass sogar Frau Kuskowa all ihre Geduld verlor: Wie es scheint, nährt unser übergroßes „Feingefühl“ die Taktlosigkeit der Kadetten. Sie sagen uns: Ihr wollt ein Übereinkommen? Ausgezeichnet! Hier habt ihr eure Losung: eine kadettische Duma und kadettische Minister mit schriftlicher Berufung aus Zarskoje Selo; Was darüber hinaus geht, ist von Übel! Erlauben Sie, verehrte Herren, Sie vergessen ein wenig den Umstand, dass wir Sie absolut nicht um Ihre Losungen gebeten haben – behalten Sie sie gefälligst bei sich, solange die Massen, auf die wir uns stützen, Sie nicht zwingen, sie zu verändern, oder Sie gar zusammen mit Ihren Losungen vor die Tür setzen. Alles, was wir wollen, sind Wahlabkommen in jenen konkreten Fällen, in denen die Notwendigkeit, die Wahl schwarzer Kandidaten zu verhindern, eine Vereinigung der Stimmen erforderlich macht. Diese Übereinkommen sind möglich, sobald Sie es auch nur persönlich für vorteilhafter halten, in der Duma links von Ihnen Sozialdemokraten sitzen zu haben als rechts Schwarzhundertleute. Um Ihnen jedoch diese Einsicht uns betreffend zu vermitteln, werden wir kein Haar auf unserem Kopf von der Stelle bewegen. Nicht doktrinäre Haltung, sondern tiefste realistische Einschätzung verbietet es uns, zwischen der Partei und der Masse im Namen einer angeblichen Vereinheitlichung den schützenden Vorhang ambivalenter Losungen aufzuhängen. „A force de se cacher aux autres, on finit par ne plus se retrouver soi-même", heißt es in einem Drama von Maeterlinck: Wenn du deine Seele vor anderen versteckst, wirst du sie einmal selbst nicht wiederfinden. Das bezieht sich nicht nur auf die Seele von Einzelindividuen, sondern auch auf die Kollektivseele politischer Parteien. VII In der Duma müssen wir eine Gruppe von sozialdemokratischen Abgeordneten haben, die fähig sind, nicht nur die Partei ehrenvoll in den politischen Debatten zu vertreten, sondern auch im Zentrum jeder Volksbewegung zu stehen, welche sich im Umkreis der Duma entwickeln und sich die Duma unterordnen wird. Speziell hierfür hat die Frage, ob wir 10, 15 oder 30 Abgeordnete in die Duma schicken werden, keine gesonderte Bedeutung. Auf die Mehrheit hoffen wir selbstverständlich nicht. Jeder Abgeordnete wird als einzelner für uns nur insoweit Wert besitzen, als er die Aufmerksamkeit seiner Wähler auf sich als den Vertreter einer klar definierten Partei zieht und diese Wähler damit um die Sozialdemokratie organisiert. Das wird jedoch lediglich dann zu erreichen sein, wenn der jeweilige Kandidat unserer Partei im Endergebnis eines scharfen politischen Konkurrenzkampfes mit allen anderen Parteien akzeptiert werden wird. Jedes allgemeine Übereinkommen, das einer Wahlagitation zuvorkommt und sie an eine Einheitsplattform bindet, entwertet von vornherein einen etwaigen günstigen Wahlausgang für uns Sozialdemokraten. Ich behaupte ganz offen, dass es unserer Partei ganz unwürdig ist, soviel Aufmerksamkeit und Passion auf ein so drittrangiges Problem wie das eines Übereinkommens mit den Kadetten zu verschwenden. Ob es Abkommen geben wird oder nicht, ob an vielen Orten oder an wenigen, ob im ersten oder im zweiten Stadium der Wahl – jetzt müssen wir all unsere Energie darauf konzentrieren, günstige Bedingungen für solch mögliche Übereinkommen und ganz allgemein für den Erfolg der gesamten Wahlkampagne zu schaffen. Derartige Bedingungen jedoch kann man nur mit einer freien, durch nichts gebundenen politischen Agitation erreichen. Vertritt man den Standpunkt eines Übereinkommens auf der Grundlage einer gemeinsamen Plattform und einer vorab bestimmten Verteilung von Rollen und Plätzen, dann muss man Frau Kuskowa zur Führerin wählen; bei ihr sind die Noten, sie wird uns anweisen, wie wir sitzen müssen. Als richtige Realistin geht Frau Kuskowa nicht von dem realen Parteikampf aus, der verschiedene Interessen und Ansichten zum Ausdruck bringt, sondern von ihrem persönlichen (und gerade deshalb für alle Parteien verbindlichen) Begriff der Duma und ihrer notwendigen Beschaffenheit: der Duma als eines politischen Mikrokosmos. Deshalb müsse sich die bürgerliche Opposition von Anfang an darum kümmern, dass die sozialistische Demokratie vertreten sei, und diese wiederum dafür sorgen, dass die bürgerliche Demokratie repräsentiert werde. Nach dem Plan der Frau Kuskowa muss die Vertretung der einflussreichen Parteien, die immer und überall das Ergebnis von politischem Wettbewerb und Wahlkonkurrenz ist, in der Duma durch ein vorausgehendes gültiges Übereinkommen der Parteien entschieden werden, ein Übereinkommen auf der Grundlage einer so gearteten Auffassung von den Dumaufgaben, wie sie – die Frau Kuskowa besitzt. Dieser vortreffliche politische Realismus, dem noch der Geruch der Intellektuellen-Schreibstube anhaftet, hat im „Towarischtsch“ eine ganze Reihe von Parteigängern gefunden. Herr Chischnjakow nahm es auf sich, die Partei im Namen des parteilosen Wählers zu warnen. Er schreibt: „Keine Partei stellt uns allein und für sich zufrieden, denn allein kann sie nicht alle Schichten und alle aktiven progressiven Kräfte repräsentieren. Keinesfalls darf die Taktik, die von irgendeiner Partei in einem bestimmten Moment aufgestellt worden ist, für das Verhältnis zu den von ihr präsentierten Kandidaten ausschlaggebend sein. Denn die Taktik der Zukunft ist allein Sache der Zukunft (!). Sie muss von den Vertretern aller Taktiken in der Duma so entschieden werden, wie sie vom Land bestimmt wird. Nur ein Übereinkommen zwischen den Parteien – wobei jede der Parteien annähernd eine den Sympathien, die sie genießt, entsprechende Anzahl von Sitzen erhalten haben müsste – gibt eine richtige Lösung der Frage." Hier sieht man, wie heute die politischen Realisten urteilen (die allerdings eine fatale Ähnlichkeit mit politischen Gymnasiasten aus bestenfalls der vierten Klasse besitzen). Es stellt sich heraus, dass die Wahl der Abgeordneten „keinesfalls" von Fragen der Taktik bestimmt werden dürfe, weil „die Taktik der Zukunft allein Sache der Zukunft" sei. Selbst Prutkow hätte das Problem nicht tiefgründiger ausgelotet. Weiterhin stellt sich heraus, dass die Taktik in der Duma so durch die Exponenten aller Taktiken entschieden werden solle, wie das Land es bestimme. Wie allerdings in der Duma die notwendigen Vertreter „aller Taktiken" vorhanden sein sollen, wenn doch die Wahl „keinesfalls" durch Überlegungen der Taktik bestimmt sein darf, das zeigt uns der Verfasser nicht. Und dann folgt bei ihm das schon längst als reaktionär erkannte Geschwätz, dass nur der parteilose Wähler, der „frei ist von einem Parteistandpunkt, d.h. einem speziellen und ausschließlichen Standpunkt, in der Lage ist, eine Sache vom Standpunkt der allgemeinen Interessen zu betrachten". Die Parteilosigkeit des Normalbürgers, d. h. seine politische Rückständigkeit, Ungeformtheit, Unbildung und Passivität, wird zu seiner besonderen Tugend erhoben. Der Position einer Partei wird ganz im Geiste der seligen 80er Jahre ein „Standpunkt der allgemeinen Interessen" gegenübergestellt. Wenn Sie einen solchen Standpunkt besitzen, dann sind Sie verpflichtet, ihn zur Grundlage Ihres Programms zu machen und auf der Basis dieses Programms eine neue Partei zu errichten. Und wenn Sie das nicht tun, dann bedeutet das nur, dass Ihr Standpunkt bezüglich der „allgemeinen Interessen" kein faules Ei wert ist. Nichtsdestoweniger haben wir jetzt keineswegs die Absicht, all den politischen Realisten, den Gymnasiasten und Gymnasiastinnen vorgerückten Alters die Verbindung zwischen Parteizugehörigkeit und allgemeinen Interessen zu erläutern. Es genügt die Feststellung, dass die Mühe, die Herr Chischnjakow darauf verwendet, sich im Namen des parteilosen Wählers zu äußern, völlig für die Katz ist. Dieser parteilose Wähler nämlich zeichnet sich keineswegs durch jenes aparte Wesen aus, mit dem ihn der Publizist des „Towarischtsch" aus eigenem Überfluss versieht. Der Normalbürger ist einmal parteilos, weil er hoffnungslos passiv ist, zum anderen, weil er noch nicht so weit gekommen ist, seine Sympathien auf bestimmte Parteien festzulegen. Ihm dabei zu helfen, ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Eifer für die „allgemeinen Interessen" in die Sprache des Programms zu überführen und in politisches Handeln zu transformieren – das ist die Aufgabe der Parteien. Eine Blockbildung zwischen ihnen würde die politische Selbstbestimmung des Normalbürgers ohne Zweifel erschweren; die freie Konkurrenz dagegen wird seine Wahl erleichtern. Diesen rückständigen Wähler mit irgendeiner geheimnisvollen überparteilichen Qualität auszustatten, die auf die höher stehenden Interessen des Landes gerichtet wäre, das bringen nur die Doktrinäre der Parteilosigkeit fertig, jene kläglichen Kreaturen aus der Intelligenz, die in jeder Ritze zwischen den Parteien hausen. Die Politik der Doktrinäre des „Towarischtsch" ist eine Politik der Diagonale. Am realen Leben sind die lebendigen gesellschaftlichen Kräfte beteiligt, von denen die politischen Parteien ausgehen. Die Rolle der Parteien ist durch ein Kräfteverhältnis bestimmt. Die allgemeine politische Entwicklung folgt der Diagonale, d.h. der Resultante des Kräfteparallelogramms, dessen Seiten die wirkenden Kräfte bilden. Diese Diagonale ist nichts Selbständiges, sie ist lediglich das abgeleitete Resultat der Grundlinien. Jeder bewusste Proletarier weiß als Teil eines gewaltigen Ganzen sehr genau, dass man allerhöchste Energie entwickeln und auf seine eigenen Klasseninteressen konzentrieren muss, will man die Resultante in die eigene Richtung lenken. Dieses Gesetz ist allen sozialen Elementen mit mehr oder minder ausgebildeter Klassenphysiognomie in irgendeiner Weise bewusst. Der von der Praxis unter den Massen abgelöste Intellektuelle aber kommt leicht, vor allem, wenn es sich um einen mit literarisch-politischen Spekulationen vertrauten Publizisten handelt, auf die Idee, es sei vorteilhafter, die Resultante nicht im freien Spiel der realen Kräfte auszubalancieren, sondern sie im Voraus theoretisch festzulegen und beide Seiten aufzurufen, sich ohne Kampf auf sie einzuspielen; es sei klar, dass das einen großen Gewinn an Kräften zur Folge haben werde. Diese Herren, Rationalisten von Kopf bis Fuß, mögen den Klassenkampf „anerkennen", soviel es ihnen beliebt, er bleibt desungeachtet für sie ein Gegenstand der reinen metaphysischen Spekulation; in der Praxis ist es ihr unveränderliches Bestreben, ihn zu paralysieren und durch „ökonomischere" Entwicklungsmethoden zu ersetzen. Für uns Sozialdemokraten ist jede Eroberung, die wir als Ergebnis eines politischen Kampfes der Massen machen, unermesslich wertvoller als eine Errungenschaft, die mittels hinter den Kulissen geschlossener Übereinkünfte erreicht wurde; im ersten Falle nämlich wird etwas Unvergängliches in die Schatzkammer des Bewusstseins der Massen eingebracht, während es sich im zweiten Fall um einen praktischen Gewinn handelt, der ebenso leicht verloren geht, wie er erlangt wurde. Die Wahlen sind für uns nicht einfach eine Jagd nach einem Preis in Form von Abgeordnetensitzen, sondern ein Kampf auf breiter Front, Agitation, Enthüllung, Konfrontation, Mobilisierung der Massen um die sozialistische Fahne. Und dazu benötigen wir vor allem völlig freie Hand. Herr Bogutscharski, noch ein Doktrinär der Parteilosigkeit, ist sehr beunruhigt ob des Bestrebens politischer Parteien, im Wahlkampf ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Dieser Politiker des „Gewesenen“ schreibt: „jede Partei will ihre Jungfräulichkeit bewahren; dabei vergisst sie jedoch ganz, dass Jungfräulichkeit neben all ihren hoch zu schätzenden Eigenschaften auch einen großen Mangel hat: Sie ist immer unfruchtbar." Uns ist zwar keineswegs klar, was Herr Bogutscharski unter Jungfräulichkeit in der Politik versteht; völlig klar jedoch ist für uns, dass das Verhalten, zu dem ehemalige Marxisten und verabschiedete Oswoboschdenie-Leute die Sozialdemokratie unermüdlich zu überreden suchen (wir bitten um Entschuldigung und benutzen – mit Erlaubnis von Herrn Bogutscharski – seine Metapher noch weiter), das Adulterium (in russischer Übersetzung: der Ehebruch) in Permanenz ist. Und diese „Praxis" ist bekanntermaßen auch nicht sehr fruchtbar. Nachdem nun schon einmal von „Unfruchtbarkeit" die Rede ist, erlaube ich mir, Herrn Bogutscharski. zu fragen: Was kann unfruchtbarer sein als ein politischer Klugscheißer aus dem Kreis der vaterländischen parteilosen Revisionisten, die in der Tat niemand mehr der Jungfräulichkeit verdächtigt? VIII Wie man sieht, flößt der parteilose Normalbürger, oder besser noch die Idee vom parteilosen Normalbürger, einer ganzen Reihe von Intellektuellen, die zwischen den Parteien stehen, außergewöhnliches Selbstvertrauen ein; kaum brüstet sich Herr Bogutscharski gehörig mit dem Nichtvorhandensein irgendwelcher Zeichen von Jungfräulichkeit, als auch schon zwischen den Parteien stehende Dunkelmänner auftreten mit dem unverhohlenen Bestreben zu zeigen, dass sie bei dieser Rechnung keineswegs die Rolle von Dummköpfen spielen. Sie versuchen gar nicht zu überreden – sie drohen geradezu: Der Normalbürger in der Masse sei parteilos, aber oppositionell gestimmt. Er wolle die Vertreter aller Parteien, die der herrschenden Macht feindlich seien, in der Duma haben. Auf diesen Normalbürger besitze die parteilose Intelligenz einen gewaltigen Einfluss. Wenn die Kadetten nicht ihren Eigensinn bereuten und den Linken entgegenkämen, die auf einer gemeinsamen Plattform sich zu einigen bereit seien, dann werde für sie der Normalbürger ebensowenig sichtbar wie ihre eigenen Ohren! Hört man diesen parteilosen Politikern zu, so könnte es scheinen, als seien sie längst in ein Abkommen mit dem „Normalbürger" (wer ist das?) getreten und bildeten gar insgeheim mit ihm eine Partei zwischen den Parteien. Der Ton der parteilosen Führer dieser zwischenparteilichen Partei ist äußerst selbstbewusst, und niemand würde glauben, dass sich diese Leute von jeher am Schwanze der Kadetten einher schleppen. Die Kadetten selbst jedoch scheinen sie ein wenig zu fürchten. Und so entspann sich folgender Dialog: - Erlauben Sie, sagen die Kadetten, wir negieren keineswegs das Vorhandensein des parteilosen Wählers und den Einfluss der parteilosen Intelligenz auf ihn; gerade das Gegenteil ist der Fall. Gerade bei den letzten Wahlen erlebten wir sehr wohl, dass er hier bei uns sitzt (Prof. Miljukow zeigt mit der Hand). Das bedeutet – und das wollten wir eigentlich sagen –, dass wir der parteilosen Intelligenz unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden. Aber verzeihen Sie, wir können keine Losungen anerkennen, die unserem ganzen politischen Wesen fremd sind! Wir können die Agitation nicht auf der politischen Plattform einer Partei führen, die mit uns im Kampf steht! Die Anhänger dieser Partei (und nicht einmal „sie" alle, sondern nur einer von ihnen) sprechen von der „omnipotenten Duma": Das riecht doch schon nach dem Konvent. Überlegen Sie doch selbst: Können wir für den Konvent eintreten? Kann Herr Kutler auf die Rolle Marats prätendieren? Gleicht Herr Struve einem Saint-Just? Sehen Sie sich ihn doch an: Besteht da Ähnlichkeit? - Es handelt sich keineswegs darum, ob Herr Struve Saint-Just ähnelt, antworten die Vertreter der parteilosen Legion. Herr Struve hier kann gar keine Ähnlichkeit haben. Es handelt sich auch nicht um diese oder jene Formulierung, und der Schöpfer der Formel von der „omnipotenten Duma" ist kein Sektierer, der auf dem Buchstaben bestünde. Wichtig ist die prinzipielle Bereitschaft, ein Bündnis einzugehen mit dem Ziel einer ausgewogenen Verteilung der Dumasitze. Auf der linken Seite sehen wir hier Bereitwilligkeit und Toleranz (die Kadetten machen große Augen), Sie jedoch beweisen eine völlig unverständliche und anmaßende Unduldsamkeit. Zur Grundlage eines Übereinkommens könnten eine Dumaadresse und die Forderung nach einem der Duma verantwortlichen Ministerium gemacht werden. Wir fragen Sie, rufen die Parteilosen in ultimativem Ton: Ja oder nein? - Erlauben Sie, werte Herren, wenden die Kadetten ein, hier liegt anscheinend ein gewisses Missverständnis vor. Wir lehnten den Konvent ab, Sie jedoch sagen: Dumaadresse? – und: Dumaministerium? Das ist doch unsere Forderung, unsere Wahlplattform! Sie fragen uns, ob für uns ein Bündnis mit den Sozialdemokraten auf der Grundlage unserer Plattform möglich ist? Natürlich ist es möglich! Wie können Sie uns solcher Unduldsamkeit verdächtigen? Wir pflegen die Dinge immer mit Weitblick zu betrachten. - Soll das heißen, dass Sie einverstanden sind?, fragen die Parteilosen; bedeutet dies, dass Sie von Ihrer ursprünglichen Position abgehen? Das ist alles, was gefordert wurde. Wir sind zufriedengestellt, vollständig zufriedengestellt! - Wir sagten doch schon, dass hier ein Missverständnis besteht, winden sich die Kadetten beflissen. Aber sind Sie betreffs der Linken überzeugt? Bis jetzt sprach einzig und allein Plechanow von einer Einheitsplattform, und auch dabei kam im Grunde der Konvent heraus. Was werden die Übrigen sagen? Was werden die Arbeiter sagen, die während eines ganzen Jahres gegen uns aufgehetzt wurden? Fragen Sie sie, werden sie damit einverstanden sein, dass die Agitation auf unserer Plattform geführt wird? Oder haben Sie sich ihres Einverständnisses vielleicht schon versichert? Und außerdem, beginnen die Kadetten mit dem Angriff, soeben beliebten Sie uns Unduldsamkeit vorzuwerfen; das ist doch eine reine Ungerechtigkeit! Wir kommen Ihnen wie immer entgegen: Hier ist unsere Plattform, nehmt sie an, agitiert auf ihr. Die Sozialdemokraten mögen auf ihr agitieren, wenn sie nur damit einverstanden sind. Aber klopfen Sie bei ihnen an: Dort werden Sie im gegenwärtigen Augenblick die Unduldsamkeit finden! Dort sitzen die Doktrinäre und Fanatiker! Dorthin müssen Sie die Spitze Ihrer Polemik wenden! Nachdem die Kadetten in so glänzender Weise die Frage zurückgegeben haben, beginnen sie, ausgelassen in ihren Bart zu kichern. Und die parteilosen „Sieger" murmeln verlegen: Nun vortrefflich, die Kadetten haben kapituliert, sie sind völlig damit einverstanden, dass die Sozialdemokraten die Agitation mit kadettischen Losungen führen. Also ist eine Position erobert. Damit kam – am 3. dieses Dezembers – der Dialog vorläufig zum Stillstand. Womit er seinen Abschluss finden wird, ist freilich leicht vorherzusehen. Die Herren Parteilosen werden an die „Eroberung" der zweiten Position gehen und bei den Sozialdemokraten anklopfen. Wenn diese sich kadettischen Charmes und kadettischen Weitblicks erfreuten, würden sie auch ihrerseits zur Antwort geben: Wie können Sie an unserer Bereitschaft zweifeln, in ein politisches Bündnis mit den Liberalen zu treten? Verzeihen Sie: Nur müssten die Kadetten sich verpflichten, keine gefährlichen Illusionen über die Lösung der grundsätzlichen historischen Aufgabe der Nation zu verbreiten, und sie müssten damit einverstanden sein, die Agitation auf der Grundlage unserer programmatisch-taktischen Losungen zu führen. Dann kommen wir natürlich ihnen und Ihnen entgegen. Nach diesen Worten würden unsere parteilosen Einfaltspinsel endgültig verschwinden. Beide Seiten sind einverstanden, folglich gilt es nur noch, die programmatischen und taktischen Losungen der liberalen Bourgeoisie und des sozialdemokratischen Proletariats in Übereinstimmung zu bringen, und Frau Kuskowa wird sagen können: Requiescat in pace. Freilich steht zu vermuten, dass die Sozialdemokraten den stupiden parteilosen Heiratsvermittlern wesentlich direkter und entschiedener Antwort erteilen und darauf verweisen werden, dass ihre Vorschläge gänzlich unangebracht seien. Natürlich wird dann die gesamte Verantwortung für das Nicht-Zustandekommen eines Bündnisses auf die Köpfe dieser Wböswilligen Fanatiker" geschoben werden. Dass es Frau Kuskowa nicht gelingen wird, Unvereinbares zu vereinen, wird dann nicht mit ihrem überaus naiven und unhaltbaren Utopismus begründet werden, nicht mit der Klassennatur des Liberalismus und nicht einmal mit der Klassennatur der Sozialdemokratie, sondern allein mit dem bösen Willen der sozialdemokratischen Doktrinäre. C'est simple comme bonjour – das ist klar wie Gottes Tag. Und dieselbe parteilose Intelligenz, die scheinbar von dem Vorhaben ausging, die Chancen der Partei des Proletariats auf Repräsentation in der Duma zu erhöhen, wird sich damit begnügen, mühsam hinter den Kadetten her zu kriechen und zu versuchen, nach Maßgabe ihrer Kräfte den parteilosen „Normalbürger" anzulocken. Nur breite Konkurrenz zwischen den Parteien kann die Kräfte des Volkes tatsächlich um die Duma zusammenschließen. Es stellt sich jedoch die Frage: Erlauben unser empörendes Wahlgesetz und seine Ergänzung durch die im Geiste Stolypins abgegebenen Erklärungen des Senats eine Vertretung der Arbeitermassen, die ihrer tatsächlichen Bedeutung in irgendeiner Weise entsprechen würde? Und wenn nicht (und es ist klar, dass nicht), kann diese unnormale Situation dann nicht behoben werden durch ein allgemeines Übereinkommen wenigstens der Parteien, die das Prinzip des allgemeinen und gleichen Wahlrechts anerkennen? Einige Publizisten des „Towarischtsch" setzen sich offen dafür ein. Sie versuchen die Kadetten davon zu überzeugen, sie seien als Demokraten verpflichtet, ein wenig beiseite zu rücken und den Vertretern des Proletariats auch dann Raum zu geben, wenn unser Wahlsystem sie, die Kadetten, im Petersburger oder Moskauer Wahlmännerkollegium zu Herren der Situation mache. Wer die Berechnungen des Genossen Losizki kennt, der weiß, welch empörende Ungleichheit das Wahlsystem vom 6. August bis 11. Dezember schafft. Mehr als alle anderen ist das Proletariat beeinträchtigt, und die Sozialdemokratie ist infolgedessen unter die schlechtesten Bedingungen gestellt. Auch die Senatserklärungen lasten mit all ihrem Gewicht auf Proletariat und Bauernschaft. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass die Kadetten als einzelne Partei, nicht jedoch als Bestandteil der Opposition, in vielen Fällen unmittelbaren Vorteil aus den Senatserklärungen ziehen, die in der Stadt beinahe ausschließlich die Sozialdemokratie benachteiligen und auf dem Land die Trudowiki. Es ist keineswegs unmöglich, dass in Petersburg, wo der Rat der Arbeiterdeputierten nicht weniger als die Stimmen von 200.000 erwachsenen Arbeitern auf sich vereinigte, kein einziger Vertreter des Proletariats einen Sitz in der Duma erhalten wird. Dafür würde genügen, dass die Kadetten im Wahlmännerkollegium die relative Mehrheit hätten und damit von der Notwendigkeit befreit wären, die Unterstützung der sozialdemokratischen Wahlmänner zu suchen. Wenn uns aber kein anderes Mittel als die Hoffnung auf das demokratische Gewissen der Kadetten zur Verfügung stünde, wären die Chancen für eine Arbeitervertretung denkbar niedrig. Sie würden natürlich in keiner Weise durch die wohlmeinende Einmischung der Mittler vom „Towarischtsch" verbessert, die auf beiden Seiten recht wenig Autorität besitzen. Allerdings haben wir ein wirksameres Mittel: Es besteht in der Ausweitung der Wahlkampagne über den Rahmen hinaus, den das offizielle System setzt. Natürlich werden wir als Bevollmächtigte, als Wahlmänner und als Abgeordnete keine Personen durchsetzen können, die den Anforderungen des Gesetzes nicht genügen, und wir werden dabei die Grenzen nicht überschreiten können, die vom Gesetz und seinen offiziellen Falschauslegern festgesetzt sind. Was wir jedoch tun können und müssen, das ist die Sammlung einer möglichst hohen Anzahl „nichtoffizieller" Stimmen um jeden offiziellem Wahlmann und Abgeordneten. Die Arbeiter der Industrieunternehmen, die weniger als hundert Hände besitzen, sind des Wahlrechts beraubt. Wir müssen sie zur Beteiligung an den Abstimmungen heranziehen. Sie können ihre Stimmen den Bevollmächtigten größerer Betriebe übertragen oder eigene Bevollmächtigte wählen, die natürlich nicht in die offiziell bestimmten Kollegien eintreten werden, denen jedoch offizielle Bevollmächtigte trotz alledem die Möglichkeit geben werden, auf den Ausgang der Kampagne Einfluss zu nehmen, indem sie ihre Stimmen bei der Bestimmung der Wahlmänner berücksichtigen. Dasselbe gilt für die Eisenbahnarbeiter, die Arbeitslosen, die Handelsangestellten, die Hilfsarbeiter, die Fuhrleute und die Dienstboten. Alle Stimmen müssen registriert werden; die fortgeschrittensten Arbeiter müssen die Masse zur Ausarbeitung von Instruktionen für ihre Bevollmächtigten und Wahlmänner zur Weiterleitung an den Abgeordneten aufrufen, und zu diesen Instruktionen müssen Unterschriften gesammelt werden, die weit über die Arbeiter der mit „Rechten" versehenen Industriebetriebe hinausgehen. Eine solche Kampagne kann nicht nur auf die proletarischen Massen beschränkt werden. Das Kleinbürgertum, die Intelligenz und die Studentenschaft müssen in Gestalt ihrer linken Elemente zur Stimmabgabe für die sozialdemokratischen Abgeordneten verpflichtet werden. Je weiter wir diese Kampagne entwickeln, desto weniger werden wir von dem demokratischen Wohlwollen irgendwelcher Kadetten abhängen. Welche Bedeutung können die wohlmeinenden Petitionen für das Proletariat durch die Literatengruppe des „Towarischtsch", an die Kadetten gerichtet, gewinnen – gegenüber dem Druck des gleichen Proletariats auf die Kadetten? Wir müssen die Masse mit einer selbständigen und durch nichts beschränkten Agitation um die Sozialdemokratie zusammenschließen — nicht um die „Opposition" im Allgemeinen, sondern um unsere Partei. Dann werden die Pforten der Duma vor den Vertretern des Proletariats geöffnet. Wir werden den kadettischen Wahlmännern zehntausende, hunderttausende für uns abgegebener Stimmen entgegenstellen – und mögen die Kadetten danach sechs Kutler schicken. Sollen sie das wagen! Wir werden sehr gelassen zusehen können, wie die liberalen „Volksvertreter", mit dem Rücken zu den Volksmassen gewandt, zu den Sesseln der Duma schleichen. Und sollte es sich herausstellen, dass wir aus Petersburg keinen einzigen Abgeordneten schicken, dann werden unsere Wahlmänner ihre Instruktionen einem Sozialdemokraten übergeben, der von einem anderen Ort gewählt wurde. Wie klein auch die sozialdemokratische Dumafraktion sein möge, die Arbeitermassen werden mit uns vereint sein, und jeder unserer Abgeordneten wird, wie ich im Organ der Drucker schrieb, von sich sagen können: „In meinem kleinen Finger habe ich mehr Stimmen des Volkes als zehn adelige oder bürgerliche Abgeordnete zusammen.“ Ich ziehe Schlussfolgerungen: 1. Um die Gefahr reaktionärer Wahlen, wo eine solche Gefahr besteht, zu bannen, reicht ein Wahlabkommen rein praktischen Charakters vollkommen aus. Um zusammen mit den Kadetten Krusewan zu vertreiben, muss man nicht von einer einheitlichen Wahlplattform phantasieren. Mehr noch: Es besteht keinerlei Notwendigkeit, unsere Kritik an den Kadetten zu mildern. 2. Besser ein Übereinkommen im zweiten als im ersten Stadium. Aber besser ein Übereinkommen im ersten Stadium als Krusewan. 3. Je breiter und tiefer der Wahlkampf, desto leichter eine vorläufige Berechnung der Kräfte, desto geringer das Risiko, falls man ein Übereinkommen bis zum zweiten Wahlstadium aufschiebt. 4. Um zum Teil wenigstens die empörende Ungleichheit des Wahlrechts zu paralysieren und dem Proletariat in der Duma, wenn keine Vertretung, so doch einen Einfluss zu garantieren, der seiner Kraft in irgendeiner Weise entspricht, gibt es für uns nur einen Weg: Ausweitung des Wahlkampfes über die offiziellen ständischen Grenzen hinaus, Druck auf die liberalen Wahlmänner durch die Kraft der rechtlosen und der nur mit halben Rechten versehenen Volksmassen, die um die Fahne unserer Partei vereint sind. Ein Übereinkommen mit den Liberalen auf der Grundlage einer allgemeinen Plattform wäre deshalb unsererseits ein bereitwilliger Selbstmord. A Nascha revoljuzija, SPb 1906, isd. [Edition] N. Glagolewa. 1„Bis zum 9. Januar“ (20. Dezember 1904 und 20. Januar 1905) 2„Die Konstitution der ,Oswoboschdenzy'“ (1906) 3 „Herr Peter Struve in der Politik“ (2. Februar 1906) B Ich erwarte mit Ungeduld eine Auswahl des zu diesem Thema geschriebenen Artikels „Ergebnisse und Aussichten“ in dem soeben zitierten Buch. Allerdings glaube ich nicht, dass mein verehrter Rezensent sich für diese Arbeit interessieren wird. C Nach Vollendung dieser Zeilen erinnerten wir uns, dass Herr Petrunkewitsch auf Grund der Dumagesetze (und besonders infolge von Herrn Kamyschanski) nicht in die zweite Duma gewählt werden kann: Wir haben natürlich nicht den individuellen, sondern den Gesamt-Petrunkewitsch im Auge. D Kursiv von der Zeitung selbst, da sie sich anschickt, legislativ tätig zu sein. E Im gleichen Artikel. |
Leo Trotzki > 1907 >