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Leo Trotzki 19070600 Die Duma und die Revolution

Leo Trotzki: Die Duma und die Revolution

[Nach Die Neue Zeit, 25. Jahrgang 1906-07, 2. Band, Heft 38, Juni 1907, S. 377-385]

I.

Stolypin hat die Duma aufgelöst, und der Zar hat freundschaftliche Telegramme mit dem Verband der Pogromleute gewechselt. Die Taktik dieser Herrschaften ist fürwahr einfach.

Etwa vor einem Jahre fassten die „Moskowskija Wjedomosti", das Organ des reaktionären Adels, diese Taktik in folgenden Worten zusammen: Die Bevölkerung Russlands beträgt etwa 150 Millionen; an der Revolution beteiligen sich aktiv kaum mehr als eine Million; würde man selbst sämtliche Revolutionäre niederschießen und niedermetzeln, so würden in Russland immerhin noch 149 Millionen Einwohner verbleiben, – was für das Glück und die Größe des Vaterlandes vollkommen ausreichend sei.

Diese kannibalische Aufstellung übersteht eine sehr einfache Tatsache, die aber die Grundlage der Revolution bildet: die revolutionär tätige Million ist bloß das ausführende Organ der geschichtlichen Entwicklung.

Diese geschichtliche Tatsache will nun Herr Stolypin einer nochmaligen Prüfung unterwerfen.

Dieser russische Minister, der schon das zweite Jahr die Zügel der Regierung führt, hat sich als jener Mann mit den starken Nerven erwiesen, der dem bedrängten Lager der Reaktion nötig war. Er vereinigt in sich die rohe Brutalität des Sklavenbesitzers und den persönlichen Wagemut eines Rowdys mit den glatten Manieren eines Staatsmannes, wie ihn das parlamentarische Europa gebildet hat. Als Haupt des Gouvernements Saratow, wo die agrarischen Unruhen ihre höchste Entfaltung gefunden haben, hat Stolypin bei Ausbruch der konstitutionellen Ära die Exekutionen der Bauern persönlich überwacht und dabei nach dem Zeugnis der Dumadelegierten sich in Flüchen und Beschimpfungen der Bauern ergangen, die meiner anderen als der sklavischen Sprache unserer Heimat nicht wiederzugeben sind. Vom jämmerlichen und launischen Willen des Staatsoberhauptes, das im Brennpunkt zahlloser Intrigen steht, auf den Posten des Ministers des Innern berufen und dann zum Premierminister ernannt, hat Stolypin die Zuversicht des Ignoranten gezeigt, der nicht einmal eine Ahnung hat von den Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung, und die dreiste „Realpolitik" des Bürokraten getrieben, der noch wenige Tage zuvor unter persönlicher Assistenz die Bauern auskleiden und peitschen ließ im Interesse der sozialen Ordnung. In der ersten Duma stand er abseits, beobachtete die neue Situation und suchte mit dem scharfen Blicke des Barbaren unter der juridischen Umhüllung des Parlamentarismus die wirklichen Umrisse der sozialen Kräfte zu erspähen.

Die lyrischen Ergüsse der Kadetten in der ersten Duma ihr geschichtlich verspätetes Pathos, in dem unaufhörlich die Note der Feigheit zitierte, ihr theatralischer Appell an den Willen des Volkes, der mit dem Lakaiengeflüster in den Vorzimmern Peterhofs abwechselte, das alles konnte dem Draufgänger der Reaktion der russischen Gutsbesitzer nicht imponieren. Er lauerte auf den günstigen Augenblick, erfasste ihn und jagte die Deputierten aus dem Taurischen Palais. Aber nachdem die Fensterläden dieses Palais geschlossen und vernagelt waren, stand er plötzlich Angesicht zu Angesicht vor allen jenen geschichtlichen Problemen, die die Duma geschaffen hat. Die Aufstände in den Festungen wurden mit bewaffneter Hand niedergedrückt, gegen das furchtbare Überhandnehmen der terroristischen Akte wurden Feldgerichte errichtet. Aber vor der Agrarkrisis mit allen ihren verwickelten Erscheinungen stand Stolypin wie vor einer Sphinx.

Hinter dem Ministerium sammelte sich die geschlossene und durch die Protektion des Zaren mächtige Clique der titulierten Fronherren, deren Losung durch den Grafen Saltykow, einen aus ihrer Mitte, gegeben wurde: „Nicht einen Fußbreit unseres Landes, nicht ein Sandkörnchen unserer Felder, nicht einen Halm unserer Wiesen, nicht eine Reisigrute unserer Wälder." Zur Verfügung des Ministeriums standen liberale Bürokraten, offiziöse Gelehrte und Publizisten, die Stolypin zu einem billigen Preise dem Grafen Witte abgekauft hatte – und sie alle lockten wiederum Stolypin auf den Weg der Reformen und des Rechtsstaats.

Die ganze in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Duma entstandene Gesetzgebung, besonders die agrarische, ist das Ergebnis dieser verschiedenartigen Einwirkungen und Stimmungen. Es waren jämmerliche, in Stücke gerissene politische Ideen, Fetzen von Reformen, impotente bürokratische Anstrengungen, die nur eine neue Verwirrung in die soziale Hölle des russischen Dorfes hineinbrachten, wo die Wunden der staatlichen und kapitalistischen Ausbeutung unter den eisernen Sesseln eines Fronrechtes sich mit einem eiternden Brande überziehen.

Während der mächtige „Verband des russischen Volkes", der eine komplizierte Kette bildet, die vom Thron bis zum letzten der Hooligans reicht, die Wiederherstellung des alten Regimes in aller Form verlangte und als allein berechtigte Tätigkeit nur die Justiz der Kriegsfeldgerichte gelten ließ, wollte der Verband der Oktobristen, der sich auf die wenig zahlreichen und noch weniger aktiven Elemente des Großkapitals und der Großgrundbesitzer stützt, noch immer in der feldgerichtlichen Tätigkeit nur die Vorstufe des konstitutionellen Regimes erblicken. Jedoch vermochte der Verband der Pogromleute für das Ministerium nichts mehr und nichts Ernsteres zu leisten, als die Ermordung des liberalen Finanzfachmannes Herzenstein. Unterdes verlor der Verband der Oktobristen, der sich Stolypin, den Bruder, zum offiziellen Publizisten erkor und einen Beamten des Ministeriums des Innern zum Instruktor bekam, die letzten Reste des öffentlichen Vertrauens. Der Versuch, in der Provinz eine offizielle Presse großzuziehen, der eine Unsumme Geld kostete, scheiterte an der stummen Feindseligkeit der Bevölkerung. Um das Ministerium bildete sich eine Leere, aus der die gespenstischen Gestalten der Revolution drohten.

Die Schwierigkeit der Situation wurde dadurch noch nicht erschöpft. Als Stolypin noch Gouverneur von Saratow war, erhielt er regelmäßig aus dem Staatsschatzamt die zur Verwaltung nötigen Bezüge. Er brauchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen über die schwierige Finanzkünste, die es versteht, die Ausgaben zur Unterdrückung der lebenden Generation aus die Schultern der kommenden Geschlechter abzuladen. Jetzt, als Leiter der Staatspolitik, bekam er auf einmal die komplizierte Abhängigkeit von den Herren Mendelssohn, Clemenceau, Rouvier, Rothschild zu spüren.

Die Einberufung der Volksvertretung erschien unvermeidlich.

Die zweite Duma trat am 20. Februar zusammen. Die offizielle Taktik der Duma wurde durch das von den Kadetten gebildete Zentrum bestimmt, das, wenn es der Konterrevolution tätige Mithilfe leistete, die Rechte für sich hatte, und die Linke, wenn es seine träge Opposition bekundete.

In der ersten Duma hatten sich die Kadetten als die Wortführer der Nation gebärdet. Da die Volksmassen, mit Ausnahme des städtischen Proletariats, sich erst in einer chaotischen oppositionellen Stimmung befanden, und da die Wahlen von den Parteien der äußersten Linken boykottiert worden waren, so erschienen die Kadetten als die Herren der Situation. Sie vertraten das ganze Land: den liberalen Gutsherrn, den liberalen Kaufmann, den Advokaten, den Arzt, den Beamten, den Krämer, den Kommis, den Bauern. Obwohl die Leitung der Partei in den Händen der Gutsherren, der Professoren und der Advokaten verblieb, so wurde sie doch von der erheblichen Zahl altmodischer Radikaler der Provinz, die die Fraktion überfüllten, nach links gedrängt; es kam zum Wyborger Manifest, das nachher den liberalen Spießern so viele schlaflose Nächte bereitet hat.

In die zweite Duma kehrten die Kadetten in einer geringeren Anzahl ein, aber sie hatten nach der Erklärung von Miljukow den Vorzug, dass hinter ihnen nicht mehr der unbestimmt unzufriedene Einwohner, sondern der zielbewusste Wähler stand, der seine Stimme für die antirevolutionäre Plattform abgegeben hatte. Während die Hauptmasse der Grundbesitzer und die Vertreter des Großkapitals in das Lager der aktiven Reaktion übergingen, stimmten das städtische Kleinbürgertum, das kaufmännische Proletariat und der kleine Mann der Intelligenz für die linken Parteien. Die Kadetten behielten einen Teil der Grundbesitzer und die mittleren Schichten der Stadt. Links von ihnen standen die Vertreter der Bauern und der Arbeiter.

Die Kadetten bewilligten der Regierung das Militärkontingent und versprachen, das Budget zu bewilligen. Sie hätten auch ebenso gut für neue Anleihen zur Deckung des Staatsdefizits gestimmt und keinen Augenblick gezögert, die Verantwortung für die alten Schulden des Absolutismus zu übernehmen. Golowin, diese Jammergestalt, die am Präsidententisch die Niedertracht und Ohnmacht des Liberalismus zu verkörpern hatte, sprach nach der Auslösung der Duma den Gedanken aus, dass die Regierung doch eigentlich in dem Auftreten der Kadetten ihren Sieg über die Opposition hätte erblicken sollen. Dies stimmt vollkommen. Scheinbar gab es unter solchen Verhältnissen gar keinen Grund, die Duma aufzulösen. Dennoch wurde die Duma aufgelöst. Das beweist, dass es eine Kraft gibt, die stärker ist als die politischen Gründe des Liberalismus. Diese Kraft ist die innere Logik der Revolution.

Im Widerstand gegen die durch die Kadetten geleitete Duma kam das Ministerium immer mehr zum Bewusstsein der Macht. Hier sah es nicht mehr geschichtliche Aufgaben vor sich, die eine Lösung heischten, sondern politische Gegner, die es unschädlich zu machen hatte. Als Nebenbuhler der Regierung und als Prätendenten der Gewalt figurierte ein Häuflein Advokaten, die sich die Politik etwa als eine höhere Art von Gerichtsdebatte vorstellten. Ihre politische Beredsamkeit schwankte zwischen dem juristischen Syllogismus und der gewöhnlichen Phrase. In den Debatten über die Feldgerichte traten sich beide Parteien entgegen. Maklakow, der Moskauer Rechtsanwalt, in dem die Liberalen ihren Mann der Zukunft erblicken, unterwarf die Justiz der Feldgerichte und mit ihr die gesamte Politik der Regierung einer vernichtenden juristischen Kritik.

Aber die Feldgerichte sind doch kein juristisches Institut, antwortete ihm Stolypin. Sie sind ein Kampfesmittel. Sie beweisen, dass dieses Kampfmittel nicht rechtmäßig sei? Dafür aber ist es zweckmäßig. Das Recht ist nicht Selbstzweck. Wenn der Existenz des Staates Gefahr droht, so hat die Regierung nicht nur das Recht, sondern die Pflicht über das Recht hinaus, an die Quelle der Macht zu greifen.

Diese Antwort, die in sich nicht nur die Philosophie des Staatsstreichs, sondern auch die Philosophie des Volksaufstandes enthält, versetzte den Liberalismus in Bestürzung. Das ist ein unerhörtes Eingeständnis, schrien die liberalen Publizisten und bewiesen zum tausendsten Mal, dass das Recht über die Macht gehe.

Aber ihre gesamte Politik überzeugte das Ministerium vom Gegenteil. Sie wichen zurück. Schritt für Schritt. Um die Duma vor der Auflösung zu schützen, gaben sie alle ihre Rechte preis, eines nach dem andern, und lieferten damit den augenscheinlichen Beweis, dass die Macht über das Recht gehe. Auf diesem Wege musste die Regierung unbedingt zu dem Gedanken kommen, ihre Macht aufs Äußerste auszunützen.

Die Regierung hätte gern einen Pakt mit den Kadetten geschlossen, wenn sie um diesen Preis eine Beruhigung der Volksmassen erlangt hätte oder mindestens eine Beruhigung des Bauerntums und eine Isolierung des Proletariats. Aber das war gerade das Unglück, dass die Kadetten die Volksmassen nicht hinter sich hatten. Das Agrarprogramm der Arbeitsgruppe geht viel weiter als das der Kadetten. In einer ganzen Reihe der wichtigsten Fragen stimmte die Arbeitsgruppe mit den Sozialdemokraten. Die Kadetten mussten selbst einige Tage vor der Auflösung der Duma anerkennen, dass die Rechte eine viel sicherere Stütze des Zentrums bilde als die Arbeitsgruppe. Aber die Rechte konnte wieder nicht die Regierung ohne Beistand der Kadetten stützen. Zur Grundlage einer Vereinbarung zwischen Regierung und Kadetten konnte nur ein Programm genommen werden, das ein Kompromiss zwischen dem Regierungsprogramm und dem Programm der Kadetten dargestellt hätte, das sich auch ohne dies den Wünschen der gutsherrlichen Reaktion angepasst hätte. Ein solcher Kompromiss hätte aber nicht für einen Augenblick die Interessen des Bauerntums befriedigt. Im Gegenteil, es musste ihr Verlangen nach Land erst recht anfachen. Andererseits war eine Vereinbarung mit den Liberalen unmöglich ohne die Gewährung gewisser, wenn auch noch so sehr verstümmelter politischer Freiheiten. Die Massen wären also unbefriedigt geblieben, aber sie hätten die Möglichkeit der revolutionären Organisation erhalten; die Regierung wäre den gleichen Gefahren ausgesetzt geblieben wie zuvor, und sie hätte sich bloß die Hände durch das konstitutionelle Regime binden lassen; auf ihre Seite wäre der liberale Verbündete getreten, der ihr keineswegs helfen konnte, die Volksmassen zu beherrschen, aber sie bei jedem Schritt durch feine Expektorationen, seine Rücksichten und Bedenken störte. War das der Mühe wert? Offenbar nicht. Und darum löste Stolypin die Duma auf.

II.

Dass die Revolution zu ihrem Abschluss gelangt sei, dafür scheinen für die Liberalen keine Zweifel mehr zu bestehen. „Das Volk ist müde, die revolutionären Illusionen sind zerstört", so erklären diese Herren, die uns einladen, mit ihnen den Rechtsboden zu betreten, den es nicht gibt. Sie verstehen es nicht, dass die Revolution nicht durch vorübergehende psychische Stimmungen, sondern durch objektive soziale Widersprüche genährt wird. Solange das Barbarentum der agrarischen Fronverhältnisse und der Staatsordnung nicht liquidiert wird, kann die Revolution nicht zum Abschluss gelangen. Ihre Unterbrechungen bilden bis dahin nur Perioden einer inneren molekularen Tätigkeit. Die psychische Ermüdung der Volksmassen kann ein zeitweiliges Stocken der Revolution hervorrufen, aber keineswegs ihre objektiv bedingte Entwicklung hindern. Wer hat übrigens den liberalen Totengräbern der Revolution gesagt, dass die Volksmassen von den wenigen Jahren der Revolution mehr müde geworden sind als von den vielen Jahrzehnten des Elends und der Sklaverei?

Wir wollen allerdings nicht bestreiten, dass in einigen Schichten der städtischen Bevölkerung eine bedeutende Änderung der Stimmung eingetreten ist. Die Interessen der „reinen Kunst" und der „reinen Wissenschaft", die durch die politischen Leidenschaften zurückgedrängt worden waren, suchen wieder ihre Position zu erobern. Die dekadenten Dichter, die in den Oktobertagen revolutionäre Hymnen und Kantaten schrieben, kehren jetzt wieder zur Mystik und zur Theosophie zurück. In einigen Kreisen der intellektuellen Jugend lässt sich ein organisierter mystisch-ästhetischer Kultus des Eros wahrnehmen, der, wie es scheint, nicht immer platonisch bleibt. „Das Leben des Menschen", dieses pessimistische Drama von Andrejew, hat aus der Bühne einen Riesenerfolg. Es stieg die Nachfrage nach den mystischen Dramen von Maeterlinck und anderen. Andererseits florierte mehr denn je der niedrige Sinnenkultus der Café chantants. Die pornographische Literatur ergießt sich in weiten Strömen über den Büchermarkt, der unter den Bemühungen der Polizei von der revolutionären Literatur gesäubert wurde.

Das sind unzweifelhafte Symptome konterrevolutionärer Stimmungen. Man muss aber in Betracht ziehen, dass sie nur jene beschränkten Gruppen der bürgerlichen Intelligenz erfassen, die niemals ernste Faktoren des revolutionären Kampfes gewesen waren und auch niemals sein konnten. Je weniger Kraft und Bedeutung dieses Völkchen in den kritischen Momenten der Revolution zeigt, desto aufdringlicher ist seine Selbstüberhebung in den Zeiten des politischen Stillstands.

Wenn man aber von der „Ermüdung" des Proletariats spricht, so lässt man vollkommen außer acht die kolossale Energie, welche dieses Proletariat augenblicklich, ungeachtet der ungeheuren polizeilichen Schwierigkeiten, in seinen ökonomischen Kämpfen entwickelt. Die industrielle Krisis lässt den Arbeitern keine Zeit zur Beruhigung. Nur in der Textilindustrie des Zentrums Russlands lässt sich eine gewisse Belebung der Geschäftstätigkeit wahrnehmen. Im Allgemeinen aber wächst die Zahl der Arbeitslosen unaufhörlich. Viele Eisenhütten werden geschlossen, in den anderen wird die Produktion eingeschränkt. Im Zusammenhang damit entstehen bereits Arbeiterorganisationen, Arbeitslosenräte und entwickeln eine energische Tätigkeit. Stellenweise gelingt es ihnen, von der Gemeindevertretung die Organisation öffentlicher Arbeiten zu erzwingen, über die Sie ihre eigene Kontrolle errichten. Die Aussperrungen nehmen einen chronischen Charakter an. Eine noch nie dagewesene und allgemeine Erhöhung der Preise der notwendigen Lebensmittel drängt das Proletariat einerseits auf den Weg der Konsumgenossenschaften, andererseits zu einem Druck ans die städtischen Vertretungen. Die höchste Intensität erhält der Kampf in den Fabriken und Hütten. Das Proletariat leistet energischen Widerstand gegen die Bemühungen der vereinigten Kapitalisten, das Fabrikregime, wie es vor der Revolution war, wieder herzustellen. In den letzten Monaten ging über das Land eine neue Welle von Streiks, an denen selbst die rückständigsten Schichten des Proletariats teilnahmen.

Gewiss gibt es jetzt keine Organisationen, wie es die Arbeiterdelegiertenrate gewesen waren, die die Mehrheit des städtischen Proletariats vereinigt hatten. Aber die Arbeiterdelegiertenräte waren ihrem ganzen Wesen nach Organe der Organisation der Gesamtmasse des Proletariats, der allgemeinen Streiks und Ausstände. Solche Organisationen werden unfehlbar wieder erstehen, wenn die objektive Möglichkeit eines aktiven Auftretens der Arbeitermassen gegeben sein wird. Andererseits aber sind in der verflossenen Periode die ständigen Organisationen des Proletariats ungemein gewachsen und erstarkt, vor allem die Gewerkschaften. Und, was besonders wichtig ist, ihre Wirkung beschränkt sich nicht und kann sich unter den russischen Verhältnissen auch nicht auf die rein ökonomischen Kämpfe beschränken. Sie stellen eine revolutionäre Kombination der ökonomischen und politischen Kampfmethoden dar, vom allgemeinen Streik bis zum Wahlkampf unter dem Banner der Sozialdemokratie. Im Laufe des letzten Jahres gelang es den Gewerkschaftsverbänden, nach verschiedenen Richtungen hin die Fäden einer allgemeinen Landesorganisation zu ziehen. Es fand eine Konferenz statt, welche die Einberufung eines allgemeinen russischen Kongresses der Gewerkschaften vorbereitete. Also machte die Klassenorganisation des Proletariats, ungeachtet aller Polizeimaßregeln, ungeachtet aller Reibungen innerhalb der sozialdemokratischen Organisation, einen gigantischen Schritt vorwärts. Bei der nächsten Hochflut der Revolution werden die Gewerkschaften ihre sichersten Stützen abgeben.

Im Dezember 1905 hat die Revolution mit aller Entschiedenheit das Proletariat dem Absolutismus entgegengestellt und der Armee die Entscheidung über dass Schicksal der Staatsgewalt übertragen. Es zeigte sich, dass der Absolutismus noch über eine genügende Anzahl von Bajonetten verfügt, um den Aufstand der städtischen Arbeiter zu unterdrücken.

Gewiss gab es in der Armee selbst eine Reihe von Meutereien. Aber das war stets ein revolutionäres Auftreten der Minderheit. Es revoltierten die Matrosen, von der festländischen Armee die Artilleristen und die Pionierabteilungen, die aus den intelligentesten Soldaten, und zwar hauptsächlich aus Industriearbeitern bestehen. Die ungeheure Masse der bäuerlichen Armee zeigte Unentschlossenheit oder Passivität und ließ sich schließlich vom Absolutismus mit Hilfe der alten, automatisch wirkenden Organisation gefangen nehmen. Auf diese Weise fand die soziale und politische Rückständigkeit des Dorfes ihren Ausdruck in der Armee und hinderte die weitere Entwicklung der Revolution

Hier liegt der Schlüssel zum Schicksal der Revolution und nicht in der Stimmung der bürgerlichen Dekadenten, die zwischen dem schrankenlosen Revolutionarismus und dem aller beschränktesten Liberalismus hin und her schwanken und vom Nietzscheanismus zur christlichen Orthodoxie übergehen.

Die Rückständigkeit der Armee bremste die Revolution. Aber die allgemeine Wehrpflicht – das ist ja längst bekannt – macht die Armee zur bewaffneten Vertretung des Volkes. Die Stimmung der Armee kann hinter der Stimmung des Volkes eine Zeitlang zurückbleiben, aber schließlich setzt sich die Übereinstimmung der Interessen und die Gemeinsamkeit des Blutes doch durch. Die Regierung hebt jedes Jahr über 400.000 junge Leute aus, die russische Revolution dauert schon zwei Jahre, in drei bis vier Jahren wechselt der gesamte Bestand der Armee. Darum hängt der politische Charakter der Armee von jenem sozialen Reservoir ab, aus dem der russische Militarismus sein Menschenmaterial schöpft, das heißt hauptsächlich vom Bauerntum.

III.

Keiner einzigen der Grundbedingungen der agrarischen Entwicklung ist im heutigen Russland Genüge getan. Die Bauern haben weder Land noch Gleichberechtigung bekommen. Alle Reformen des Zarismus auf diesem Gebiet schrumpfen zu einem elenden Machwerk zusammen, das kaum die Oberfläche der wirtschaftlichen Krisis der Landbevölkerung streift.

Das Gesetz über den Austritt aus dem Gemeindeverband gibt den kräftigen Großbauern über die Kleinbauern ein gewaltiges Übergewicht. Es könnte zu einer Quelle des Bürgerkriegs in der Gemeinde selbst werden, wären nicht alle Beziehungen des Dorfes dem Bestreben unterworfen, sich in den Besitz des gutsherrlichen Landes zu setzen

Das Ministerium der Dumaauflösung bildete aus dem Kronland einen Fonds zum Verkauf an die Bauern. Das Ergebnis muss der Übergang vieler Parzellen aus den Händen der armen Kleinpächter in den Besitz der Großbauern sein.

Die Erweiterung der Tätigkeit der Bauernbank gehört ebenfalls in das Gebiet der agrarischen Kurpfuscherei der Regierung. Jene 3 Millionen Desjatinen, deren Verkauf nach 1906 von der Bank vermittelt wurde, gingen in das Eigentum der vermögenden Bauern über. Die verelendete Bauernmasse, deren unerträgliche Lage die Aufstände erzeugt, bekam nichts. Sie ist nicht einmal imstande, eine Anzahlung von 30 Rubel pro Desjatine zu leisten, geschweige den gesamten Preis des Bodens zu entrichten. Die Herabsetzung des Zinsfußes von 5¾ auf Prozent kann dem heruntergekommenen Bauern nicht helfen, der seinen Ofen mit dem Stroh seines Daches heizt.

Auf dem Gebiet der ständischen Rechte bleibt die entschiedenste Maßregel der Regierungsreformen noch immer die Beseitigung der Prügelstrafe. Die Veränderung des Passsystems und die Erleichterung für Bauern, in die Reihen der Tschinowniks und Mönche zu treten – Maßnahmen, die wir dem staatsmännischen Genie des Herrn Stolypin zu verdanken haben –, ergänzen würdig diese Emanzipationstätigkeit des Zarismus.

Andererseits sind die Errungenschaften, welche sich die Bauern durch die unmittelbare Anwendung der revolutionären Machtmittel erobert haben – vom Streik bis zum ökonomischen Terror –, klar und handgreiflich genug, um sie zu einer weiteren Praxis in der gleichen Richtung aufzumuntern.

Der Bauer errang Vorteile zweifacher Art: erstens als Pächter des gutsherrlichen Landes, zweitens als landwirtschaftlicher Lohnarbeiter. Ganze Gemeinden, manchmal ganze Gebiete fassten den Beschluss, das gutsherrliche Land nicht zu pachten und keine Arbeit beim Gutsherrn zu verrichten unter anderen als den durch Gemeindebeschluss festgesetzten Bedingungen. Es wurde ein Pachtmaximum und ein Lohnminimum festgesetzt, das streng eingehalten wurde. Diese Beschlüsse konnten um so leichter verwirklicht werden, als in vielen Fällen die terrorisierten Gutsherren bereit waren, ihr Land zu den billigsten Preisen in Pacht zu geben, um nur die Möglichkeit zu erhalten, ihre Wirtschaft zu liquidieren und nach der Stadt zu flüchten. Nach Aufstellungen, die selbstverständlich nur annähernd sein können, hat dass ökonomische Vordringen des Bauerntums gegen die Gutsbesitzer den Bauern im Laufe des Jahres 1906 etwa hundert bis hundertfünfzig Millionen Rubel eingebracht. Selbstverständlich kann auch das noch nicht das Bauerntum vor der Verarmung retten. Das jährliche Besitz der bäuerlichen Wirtschaft in ganz Russland erreicht nach verschiedenen Berechnungen einige Milliarden Rubel. Bei mittlerer Ernte bedeutet das nur ungenügende Ernährung, bei einer geringen Ernte – Hungersnot und Massensterben. Nun kommt aber zugleich mit der Dnmaauflösung die offizielle Mitteilung, dass dieses Jahr wieder in zehn Gouvernements eine Missernte zu erwarten ist.

Diese objektiven Tatsachen sprechen deutlich dafür, dass das Bauerntum gar keinen Grund hat, die revolutionäre Opposition zu verlassen, um in das Ordnungslager überzutreten. Umgekehrt, je mehr der Druck der gutsherrlichen Reaktion steigt, die nach ihrem Belieben die Politik des Absolutismus lenkt, eine desto größere Intensität muss die revolutionäre Energie des Bauerntums erleiden, bis wenigstens die elementaren Bedingungen einer normalen kapitalistischen Entwicklung des Landes geschaffen sein werden. So sehen wir denn, dass zugleich mit der Dumaauflösung Bauernunruhen in einer ganzen Reihe von Gouvernements ausgebrochen sind und die Gutshöfe wieder einmal in Rauch aufgehen.

Die Erfahrung mit der zweiten Duma zeigt aufs Neue, dass es aus den verworrenen sozialen und politischen Verhältnissen Russlands keinen Ausweg aus dem Boden des gesetzgeberischen Kompromisses gibt.

Die Duma bildete die Arena für den Kampf zwischen dem Liberalismus und der Sozialdemokratie um den Einfluss auf die Bauernmassen. In diesem Kampf erlitt der Liberalismus wieder eine verhängnisvolle Niederlage: es zeigte sich, dass der Boden der konstitutionellen Vereinbarung, den zu beschreiten er das Volk lockte, nur in der Einbildung der liberalen Illusionäre existiert. Die Auflösung der Duma ist der schlagende Beweis der Geschichte für die Unvermeidlichkeit einer offenen revolutionären Auseinandersetzung. Wenn der Liberalismus schon bei den letzten Wahlen das Visier seines Helmes lüften musste, um seine antirevolutionäre Fratze zu zeigen, und gezwungen war, in den „reifen" Schichten der Bevölkerung seine Stützen zu suchen, so wird er jetzt endgültig auf eine Wirkung auf die Volksmasse verzichten und folglich seiner geschichtlichen Rolle entsagen müssen.

Nicht der Liberalismus steht zwischen der zarischen Reaktion und dem Volke, sondern die Armee. Die Revolution stellt wieder in nackter Form die Frage: Auf welcher Seite sind die Bajonette der bäuerlichen Armee? Aber zugleich mit den Bauernunruhen zeigen die letzten Militärmeutereien auf den zwei Panzerschiffen in Sewastopol und unter den Pionieren in Kiew, in welcher Richtung sich die Ereignisse entwickeln werden. Die Stimmung der Armee kann aber nicht durch eine Enquete ermittelt werden, sie kann nur zutage treten in einem neuen revolutionären Aufstand der Volksmassen. Die Zeit und die Formen der kommenden Ereignisse jetzt bestimmen zu wollen, wäre eine unfruchtbare Beschäftigung. Bis jetzt hat die elementare Gewalt der Revolution uns noch immer überrascht durch ihre schöpferische Kraft und ihren Reichtum an Mitteln. Nicht wir, sondern sie schuf den revolutionären Kräften einen Ausweg; nicht wir, sondern sie zeigte den Weg zu den Organisationsformen des Kampfes. Ihre Kraft ist nicht erschöpft, sie ist gestiegen, sie birgt in ihrem Schoße noch größere Kämpfe als die bisherigen, größere Kampfesmittel, größere Probleme, größere Möglichkeiten – die Gefahr, die wir laufen, ist nicht die, sie zu überschätzen, sondern die, sie zu unterschätzen.

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