Leo Trotzki‎ > ‎1918‎ > ‎

Leo Trotzki 19180214 Bericht in der Sitzung des Allrussischen ZEK

Leo Trotzki: Bericht in der Sitzung des Allrussischen ZEK

14. Februar 1918

[„Protokolle der Sitzungen des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees". Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 17, часть 1. Москва-Ленинград, 1926, S. 107-111]

Genosse Trotzki beginnt seinen Bericht, indem er daran erinnert, dass das revolutionäre Russland jetzt nicht nur ein neues Leben aufbauen, sondern auch die vorrevolutionäre Ära bilanzieren und die Rechnung für die Geschichte des Zarismus und der bürgerlichen Koalition bezahlen muss. Und vor allem müssen wir für den Krieg bezahlen, der 3½ Jahre dauerte und ein Prüfstein für die wirtschaftliche Macht der Teilnehmer an diesem Krieg war. Als das wirtschaftlich schwächste Land musste sich Russland früher als die anderen Teilnehmer dieses Krieges erschöpfen. Wie andere Staaten auch hatte es ein gewisses militärisches Kapital – Mittel der gegenseitigen Vernichtung – und wenn der Krieg nicht lange angedauert hätte, wäre er vielleicht nicht über Russlands militärische Kräfte gegangen. Aber die gesamte vorherige Politik der Völker führte dazu, dass beide Seiten fast ein Gleichgewicht der Kräfte hatten, und deshalb musste sich der Krieg hinziehen. In diesem langwierigen Kampf konnten nur die gewinnen, deren Volkswirtschaft das im Lauf des Kampfes zerstörte Kriegskapital reproduzieren konnte, und die Schwächeren fielen unweigerlich zurück und wurden geschwächt. Der mächtigste Feind war Deutschland, das die rational organisierte machtvollste Industrie hat; Ihm ließ nicht nur Russland, nicht nur Frankreich, sondern sogar England den Vorrang. Und als die Friedensverhandlungen zwischen Russland und den Mittelmächten begannen, musste sich einfach das faktische Kräfteverhältnis zeigen, musste einfach die ungeheure Macht sichtbar werden, die Deutschland im vierzigmonatigen Kampf gezeigt hatte, ebenso wie die schreckliche wirtschaftliche Verwüstung, in der sich Russland jetzt befindet, und die Tatsache der Desorganisation seiner Armee. Und wenn wir uns nur auf diese Tatsachen stützen würden, wären wir natürlich in einem erbärmlichen Zustand – selbst wenn England gewinnen würde. Denn im modernen Kriege werden immer die Schwächsten zur Kasse gebeten, und wegen des ganzen historischen Laufs der Dinge musste Russland die am meisten geschwächte der sogenannten Großmächte sein. Unter diesem Gesichtspunkt sind alle Behauptungen der bürgerlichen Presse, wir wären in einer viel günstigeren Position gewesen, wenn unsere Verbündeten an den Gesprächen mit uns teilgenommen hätten, völlig unhaltbar. Das ist natürlich nicht wahr, denn zu diesem Zweck hätten wir zunächst den Krieg fortsetzen und weiterführen sollen, dabei hätten wir unsere wirtschaftlichen Kräfte immer mehr vergeudet, das Land wirtschaftlich und politisch desorganisiert. Auf diese Weise würden wir unsere Bedeutung in den bevorstehenden Friedensverhandlungen zunehmend schwächen, und schließlich würden die Kapitalisten aller Länder zusammen abrechnen und uns zwingen, für alle Schäden und Verluste zu bezahlen. Wir hatten daher eine einzige Möglichkeit, eine endgültige und entscheidende Niederlage zu vermeiden: unser Schicksal – das Schicksal der russischen Revolution – mit der Revolution in Westeuropa zu verbinden.

Genosse Trotzki gibt in wenigen Zügen alle Aktivitäten der russischen Friedensdelegation, die der Januarpause vorausgingen, wider und beweist, dass die Januarstreiks in Österreich-Ungarn und Deutschland die Stellung der russischen Revolution stärken und die innere Stärke des deutschen Imperialismus schwächen. – Vor der Abreise nach Brest-Litowsk haben wir auf der letzten Sitzung des III. Sowjetkongresses, an der wir teilgenommen haben, gesagt, dass wir uns nicht verpflichten können, nur einen wirklich demokratischen und gerechten Frieden zu unterzeichnen. Wir haben gesagt, dass die Revolution gezwungen sein könnte, auch eine offensichtlichen Gewaltfrieden zu unterzeichnen. Aber zu dieser Zeit brach in Westeuropa der Streik aus, und dank der Tatsache, dass uns übertriebene Informationen über Stockholm erreichten, konnte es scheinen, dass das deutsche Proletariat kurz vor dem Sieg stehe. In der Tat hatte die proletarische Bewegung in Deutschland lange Zeit nicht den gewaltigen Umfang gehabt, den sie damals erreichte. Dies stieß jedoch sofort die deutsche Bourgeoisie in die entgegengesetzte Richtung, und sie erkannte, dass das geringste Zugeständnis ihrerseits eine Kapitulation wäre, eine Todesurteil für das kapitalistische System Deutschlands. Der Streik wurde beendet, und die deutsche Delegation wiederholte ihre Forderungen mit völliger Unnachgiebigkeit und im gleichen Umfange. Ein Zugeständnis wurde nur im wirtschaftlich-rechtlichen Bereich gemacht, d. h. in einem Bereich, an dem die allmächtige deutsche Militärpartei relativ wenig interessiert ist. Die versteckte Kontribution, von der wir auf dem Dritten Kongress sprachen und die von uns auf die Zahl von acht und vielleicht zehn Milliarden geschätzt wurde, wurde von ihnen auf drei Milliarden reduziert. Darüber hinaus sprachen sie sich gegen die Dringlichkeit der Wiederaufnahme von Handelsverhandlungen aus.

Weiter spricht Genosse Trotzki von der verräterischen Rolle, die die Rada-Delegation während der Gespräche spielte, unterstützt von den heimtückischen Schlägen in den Rücken der Brester Delegation, mit denen die bürgerliche Presse die Rada unterstützt. Er sagt, dass einige der russischen Zeitungen im kritischsten Moment der Verhandlungen eine Nachricht von General Bontsch-Brujewitsch1 veröffentlichten, der die Situation der russischen Wirtschaft und den Zustand der Armee in einem sehr düsteren Licht malte. Dieses Telegramm wurde von allen deutschen Zeitungen nachgedruckt und stärkte die Positionen und Absichten der Annexionisten.

Genosse Trotzki weist die Anschuldigungen der deutschen Presse zurück, die Verhandlungen zu verschleppen, und beweist, dass nach der letzten zehntägigen Unterbrechung die gesamte Initiative zur Verschleppung der Verhandlungen bei den Delegationen der Mittelmächte lag, die auf die Beendigung des Streik einerseits und das Ende der separaten Friedensverhandlungen mit der ukrainischen Rada-Delegation andererseits warteten. Am 9. Februar, dem Geburtstag von Leopold von Bayern, wurde ein Friedensvertrag mit der ukrainischen Rada unterzeichnet, und General Hoffmann gab „mit deren Erlaubnis" (denn laut dem Vertrag wird Brest-Litowsk in die Grenzen der Ukraine eingegliedert) Salutschüsse gleichzeitig zu Ehren des Abschluss des Friedensvertrages, und zu Ehren des Geburtstags von Leopold von Bayern ab.

Danach waren alle Fragen geklärt, und die militärischen und territorialen Kommissionen waren nur die Ausgestaltung dessen, was vorher gesagt worden war. Zu den Argumenten unserer Militärexperten Altfalter und Lipski, die brillant bewiesen, dass die Forderung nach den Moonsund-Inseln und die Grenzlinie, die General Hoffmann auf der Karte gezogen hatte, Ausgangspunkt einer offensiven Politik und nicht defensiv wären, wie wenn die Moonsund- und andere Inseln in Russlands Händen blieben – konnten die deutschen Delegierten auf diese Argumente nur antworten, dass sie auf diese Forderungen nicht verzichten könnten. Auch in der politischen Kommission war das Leitmotiv von Graz' Bericht die Phrase: „Die Kommission kam zu keiner Verständigung". Danach musste die russische Delegation nur noch diese Erklärung abgeben, die zeitnah in den Zeitungen veröffentlicht wurde. Genosse Trotzki erzählt von dem starken Eindruck, den diese Erklärung nicht nur auf die Vertreter der Delegationen der Mittelmächte, sondern auch auf jene deutschen Soldaten machte, die sich damals in Brest-Litowsk befanden. Nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die Offiziere sagten: „Wir sind keine Räuber", „wir können nicht nach Russland verlegt werden", „demnach hat man uns betrogen", usw. Genosse Trotzki behauptet, dass eine Offensive nicht unter allen Bedingungen als ausgeschlossen betrachtet werden sollte. Er sagt nur, dass alle Faktoren, die die deutschen Imperialisten zu Friedensverhandlungen zwangen und sie bis zum heutigen Tag davor abhalten, anzugreifen, nicht nur ihre Bedeutung behalten, sondern umgekehrt durch Friedensverhandlungen in Brest verstärkt wurden. Und deshalb glaubt Genosse Trotzki, dass es ohne zu zögern möglich sei, unsere leidende Armee zu demobilisieren, sie wieder in die tägliche Arbeit zu entlassen, um Arbeitsdisziplin zu etablieren und eine Arbeitsbeziehung zwischen ihren einzelnen Elementen herzustellen. Und wenn wir auf der einen Seite eine stillschweigende und vielleicht nicht nur eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den Imperialisten der Mittelmächte und den Ententemächten haben, wenn wir eine Verschwörung des Weltimperialismus gegen die russische Revolution haben,2 so haben wir auf der anderen Seite, mit all unseren Taktiken in Brest-Litowsk die Beziehung zu unseren natürlichen Verbündeten – zu den Arbeitern Frankreichs, Englands, Deutschlands, Österreichs und Amerikas – unterstützt und verstärkt. Der Protest der alliierten Botschafter gegen die Annullierung der Kredite usw. schließt den Ring des Weltimperialismus um uns. Aber die Weltrevolution, der Aufstand des Proletariats Westeuropas, wird natürlich diese Verschwörung zerstören und die Welt für immer von Verschwörungen der Unterdrücker gegen die Unterdrückten befreien.3

Schlusswort

Genosse Trotzki erhält das Schlusswort. Er widerspricht seinen Gegnern und sagt, dass die deutsche Delegation zu Beginn der Friedensverhandlungen sehr vorsichtig eine Maske getragen und versucht habe, sich nachgiebiger zu verhalten. Ihr weiteres Verhalten ist nicht darauf zurückzuführen, dass sie angeblich den „Respekt" vor der Sowjetmacht wegen deren innenpolitischen Schritten verloren hätten. Das Programm, das die deutsche Delegation ankündigte, war im Wesentlichen eine Wiederholung des am 19. Juli angenommenen Reichstagsprogramms, aber die Militärkaste in Deutschland rebellierte dagegen, die einen besonderen Heiligenschein trägt, denn zu der Zeit, als Deutschland von einer ganzen Welt von Feinden umgeben war, war es die Militärkaste, die alle kapitalistische Technologie und Wissenschaft der Verteidigung unterwarf und die gesamte kapitalistische Wirtschaft mobilisierte. Sie hat bei den Friedensverhandlungen ihren ganzen Einfluss in die Waagschale geworfen und das hat die bürgerlichen Versöhnler zum Schweigen gebracht. Im Gegenteil hasst die deutsche bürgerliche Presse uns jetzt aus tiefstem Herzen, denn sie hat begriffen, dass man nicht mit billigen Phrasen mit den Bolschewiki Übereinstimmung erzielen kann, dass ihr in diesem Fall keine Maske hilft. Genosse Trotzki erläutert einige Episoden seiner Gespräche mit den Delegationen der Mittelmächte und beweist, dass unsere Delegation nicht eine Minute lang „Sich dem Bösen nicht Widersetzen" predigen wollte. Im Gegenteil, sowohl Graf Czernin als auch von Kühlmann haben das vollkommen verstanden, ihnen wurden in angemessener Weise erklärt, dass die russische Revolution vom verantwortungsvollsten Arbeiter bis zum einfachen revolutionären Soldaten eher bluten als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der föderativen Republik zulassen werde. Wir wissen, dass der Kaiser immer fünf oder sechs ausgewählte Korps hat, und dass man mit ihrer Hilfe eine Offensive organisieren kann; aber wenn wir die russische Revolution nicht vor dieser Offensive sichern können, dann können wir die besten Bedingungen für die Verteidigung schaffen, und zu diesem Zweck suchen wir mit unserer Taktik vor allem die Augen des deutschen Proletariats zu öffnen.4

1 Der Text der Erklärung Bontsch-Brujewitschs konnte nicht gefunden werden.

2 Gerüchte über ein Abkommen zwischen Deutschland und England auf Kosten Russlands hielten sich sehr hartnäckig und wurden von vielen prominenten Persönlichkeiten der Partei und Regierung, einschließlich des Genossen Trotzki, als sehr zuverlässig angesehen. Gerade auf der Grundlage der Annahme der Zuverlässigkeit dieser Gerüchte glaubte Genosse Trotzki, es sei noch notwendig, mit der Unterzeichnung des Friedens zu warten, denn im Falle des Bestehens eines solchen Abkommens würden keine Erklärung und keine Zugeständnisse der Sowjetregierung etwas ändern.

3 Nach dem Genossen Trotzki sprachen eine Reihe von Rednern, darunter Martow und Blum, die die Innenpolitik der Sowjetregierung kritisierten. Indem sie der Erklärung der Sowjetdelegation vom 10. Februar zustimmten, behaupteten sie, die Sowjetregierung müsse sich im kommenden Kampf auf das ganze Volk stützen, den Bürgerkrieg stoppen und eine Politik verfolgen, die „sich nicht in einer Klasse abkapselt".

4 Nach dem Bericht des Genossen Trotzki wurde eine Resolution verabschiedet, die Genosse Swerdlow im Namen des Präsidiums vorschlug

Kommentare