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Leo Trotzki 19180101 Gespräch mit dem Vertreter des Pressebüros

Leo Trotzki: Gespräch mit dem Vertreter des Pressebüros

[„Iswestija“ Nr. 256, 20. Dezember 1917/2. Januar 1918. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 2. Москва-Ленинград, 1925]

Der Vertreter des Pressebüros besuchte heute den Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten und erhielt Erklärungen von ihm zu einigen Fragen der internationalen Politik.

Der Volkskommissar lenkte zunächst die Aufmerksamkeit der Sowjetpresse auf die Bacchanalien, die um die in Petrograd eingetroffene österreichisch-deutsche Delegation stattfanden. Zunächst einmal zum Zweck dieser Delegation. Dieser Zweck ist genau in den Waffenstillstandsbedingungen festgelegt, die seinerzeit zur allgemeinen Information veröffentlicht wurden. Die Mission der Delegation besteht darin, praktische Maßnahmen zu entwickeln, um den Austausch von Zivilgefangenen, nicht von Wehrpflichtigen, [sondern] von Geiseln, Invaliden usw. zu erleichtern, Maßnahmen für den direkten Austausch nicht über Schweden, sondern über eine neutrale speziell an der Front geschaffene Zone. Die zweitwichtigste Frage zur Entscheidung durch die Kommission sollte die Verbesserung der materiellen und moralischen Lage der Kriegsgefangenen auf beiden Seiten sein. Die Arbeit dieser Kommission hat nichts mit Friedensverhandlungen zu tun. Sie setzt die Waffenstillstandsverhandlungen nur fort, und die Ergebnisse ihrer Arbeit (Austausch ziviler Gefangener und Verbesserung der materiellen Situation von Kriegsgefangenen) behalten ihre volle Kraft, unabhängig davon, wie und ob die allgemeinen Friedensverhandlungen enden.

Was die Anzahl der Delegationsmitglieder betrifft, so wurde sie von der Presse extrem übertrieben. In der Tat kamen 25 Personen und mit ihnen etwa 30 Personen Dienst- und technisches Personal – im Allgemeinen also nicht mehr als 60 Personen. Diese Kommission hat keine diplomatischen Befugnisse, und alle Verhandlungen behalten bei aller Bedeutung ihres Werts für das Schicksal der Gefangenen rein geschäftsmäßigen Charakter.

Völlig unangebracht im Zusammenhang mit dem angegebenen Charakter der Kommission ist alles Gerede über Geheimdiplomatie. Der Zweck der Kommission und der zukünftige Ort ihrer Arbeit (Petrograd) wurden in den rechtzeitig veröffentlichten und in der Presse wiedergegebenen Waffenstillstandsbedingungen genau angegeben. Es ist lehrreich zu bemerken, dass der englische Radiotelegraph, der aufmerksamer als unsere bürgerliche Presse ist, die englische Presse recht genau über die Ankunft der Kommission in Petrograd zur Entwicklung einiger praktischer Fragen im Zusammenhang mit der Waffenstillstand gemäß den Bedingungen des Waffenstillstandes benachrichtigte. Die Arbeit der Kommission begann erst am Montagabend. Es ist ganz natürlich, wenn es noch keine Mitteilungen über diese Arbeiten gab. Gespräche über Geheimdiplomatie im Zusammenhang mit dieser Kommission sind daher völlig willkürlich.

Im Hinblick auf die Aufenthaltsbedingungen in Petrograd, telegraphische Verbindungen mit Brest-Litowsk usw. wurden in Petrograd die deutschen und österreichisch-ungarischen Delegierten ebenso behandelt, wie die russischen Delegierten in Brest-Litowsk behandelt wurden.

Bei den Hauptfriedensverhandlungen in Brest-Litowsk kam es zu einer zehntägigen Pause, die bekanntermaßen am 23. Dezember auslaufen wird. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Verhandlungen in Brest-Litowsk fortgesetzt werden. In vielerlei Hinsicht halten wir es in dem Stadium, das die Verhandlungen bereits erreicht haben, für angemessener, sie in einem neutralen Land fortzusetzen.

Abgesehen von den prinzipiellen Deklarationen, unserer und der Österreichisch-Deutschen, und der Antwort unserer Delegation verfügen wir nun über ein mehr oder weniger konkretes Projekt der österreichisch-deutschen Friedensbedingungen mit Russland. Dies ist kein Projekt eines Separatfriedens, sondern ein Projekt der Beziehungen, die nach den österreichisch-deutschen Regierungen zwischen Russland einerseits und Österreich und Deutschland andererseits im Fall eines allgemeinen Friedens geschaffen werden sollten; wir werden dieses von der Gegenpartei vorgeschlagene Dokument, Projekt am selben Tag veröffentlichen. Die Unannehmbarkeit der österreichisch-deutschen Friedensbedingungen ist nach dem Volkskommissar ganz offensichtlich. Die Sache dreht sich um das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen und um ihre Interpretation. Die Mittelmächte erkannten diesen Grundsatz in ihrer Erklärung an, aber in der Anwendung auf Polen, Litauen und Kurland und Teile von Livland und Estland, halten es Deutschland und Österreich-Ungarn für möglich, dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker einen völlig fiktiven Inhalt zu geben. So wie wir gestern die unabhängige Republik Finnland ohne Zwang anerkannt haben, sind wir bereit, die Unabhängigkeit der Republiken Polens und Litauens, die Unabhängigkeit Kurlands oder die Vereinigung dieser Länder mit anderen Ländern anzuerkennen, vorausgesetzt, dass eine solche Änderung der Staatsgrenzen oder staatliche Neubildung nur auf der Grundlage des eigenen freien Willen der interessierten Völker stattfindet. Der deutsche Entwurf der Friedensbedingungen in der Anwendung auf Russland verwandelt jedoch die Sache der Befragung der interessierten Bevölkerung in ein Ritual ohne praktischen Inhalt. Wenn die Diplomatie der gegnerischen Seite denkt, dass für uns der in unserer Erklärung verkündete Grundsatz eine bloße Formalität ist, dann ist dies ein zutiefst falscher Gedanke. Wir bezweifeln keinen Augenblick die gesellschaftlichen Sympathien der Oberen der besitzenden Klassen in Polen, Litauen und Kurland. Aber der wirkliche Wille dieser Länder wird für uns nicht durch die Abstimmung ihrer Gutsbesitzer, Kapitalisten und Bankiers bestimmt – allgemein nicht durch die Teile des Volkes, die das ganze arbeitende Volk unterdrücken. Wir wollen und fordern, dass die Frage des Schicksals Polens von den polnischen Arbeitern und Bauern gelöst wird – gleichzeitig in allen Teilen Polens.

Unsere Arbeiter haben wiederholt gemeinsam mit den Arbeitern des ehemaligen Königreichs Polen ihr Blut im Kampf gegen den Zarismus vergossen. Und wenn wir jetzt das Friedensprojekt von Österreich und Deutschland ablehnen, so liegt das nicht daran, dass wir Polen für Russland erhalten wollen, sondern weil wir wollen, dass das polnische Volk uns mitteilt, wie sein Staatsschicksal in Zukunft sein soll. Gleichzeitig muss er seinen Willen ohne Zwang und ohne jede Gewalt ausdrücken können. Wir zweifeln keine Minute daran, dass eine solche Aussage von den Arbeitern und Bauern Polens, Litauens und Kurlands ebenso wie von Deutschland und Österreich-Ungarn am energischsten und leidenschaftlichsten unterstützt wird. Nach diesem grausamen und sinnlosen dreieinhalbjährigen Gemetzel, einem Gemetzel, in dem die Völker so viel gelernt haben, ist der Gedanke, unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung den Polen, Litauern oder Letten eine offene oder verhüllte Diktatur eines fremden „Eroberers" aufzuzwingen, die sinnloseste, militaristischste und bürokratischste Utopie.

Wie aus der Luft gegriffen diese Art von Politik ist, zeigt sich daran, dass die deutsche Presse das deutsche Volk nicht über die Frage der Antworterklärung unserer Delegierten unterrichtet hat, in der unsere Auslegung des Prinzips der Selbstbestimmung gegeben ist. Es ist klar, dass die deutsche Diplomatie es für unbequem hält, der öffentlichen Meinung der deutschen Demokratie von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten, da die wichtigsten Umstände aus dem Bereich der Friedensverhandlungen vor letzterer verborgen werden. Wir bezweifeln jedoch nicht, dass auf die eine oder andere Weise die Wahrheit das deutsche Volk und die Völker Österreich-Ungarns erreichen wird und dass der Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung, den wir mit völliger Gewissenhaftigkeit auf die Völker Russlands anwenden, innerhalb der Grenzen der Mittelmächte eine breite Palette von Befürwortern finden wird und für die Regierungen dieser Staaten die Möglichkeit dieser absolut inakzeptablen Auslegung, die wir im Entwurf der österreichisch-deutschen Friedensbedingungen mit Russland finden, ausschließen wird.

Zur Frage der Politik unserer Verbündeten in Bezug auf die laufenden Verhandlungen antwortete der Volkskommissar, dass diese Politik immer noch unter dem Zeichen der größten Ratlosigkeit stehe.

In den herrschenden Kreisen Frankreichs halten sie es, soweit wir informiert sind, für notwendig, einem weiteren militärischen Zusammenstoß mit Deutschland und Österreich-Ungarn „standzuhalten“, um ihre Offensive abzuwehren, um Verhandlungen später zu eröffnen.

Es ist völlig offensichtlich, dass unter den Bedingungen, unter denen der Krieg an der Westfront geführt wird, eine neue Offensive das Bild aller früheren Offensiven mit der einen oder anderen Änderung wiederholen kann. Die Front wird sich ein paar Kilometer nach der einen oder anderen Seite bewegen, und das Kräfteverhältnis der Streitkräfte wird sich nur wenig verändern. Es werden nur ein paar hunderttausend Franzosen und Deutsche weniger auf der Welt sein. Danach sollten die „psychologischen" Bedingungen für Friedensverhandlungen günstiger sein. Dieser Aberglaube der herrschenden Kreise Frankreichs stellt sich als eine typische Linie dar. Im Kern läuft die Sache jedoch auf die Möglichkeit hinaus, die schreckliche Stunde der Gesamtbilanz zu verzögern.

Unsere Aufgabe ist klar: Wir verhandeln weiterhin auf der prinzipiellen Grundlage, die die russische Revolution aufgestellt hat. Wir ergreifen alle Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse dieser Verhandlungen zur Kenntnis der Volksmassen aller europäischen Länder gelangen trotz der wahrhaft demütigenden Zensur, die die Regierungen Europas für militärische und diplomatische Kommunikation errichtet haben. Wir bezweifeln nicht, dass die Verhandlungen selbst uns stärker und die imperialistischen Regierungen aller Länder schwächer machen werden.

Am Dienstag, dem 19. Dezember, um etwa ein Uhr nachmittags erhielt der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten den Besuch eines Vertreter des britischen Botschafters Buchanan und gab folgende Erklärung ab:

Der britische Botschafter hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass er einen Urlaub antritt, um seinen Gesundheitszustand zu verbessern. Die Frage dieses Urlaubs wurde schon vor der russischen Revolution beschlossen, aber nach den Ereignissen im Februar verschlechterte sich die Situation und der Herr Botschafter fühlte sich trotz des schlechten Gesundheitszustands (einer Nierenkrankheit) gezwungen, auf seinem Posten zu bleiben. Mehrere Monate nach der Revolution, machte er wieder einen Versuch, den Urlaub anzutreten, aber der damalige Außenminister, Herr Tereschtschenko, bestand in Verbindung mit der bevorstehenden Pariser Konferenz darauf, dass Buchanan seine Tätigkeit nicht unterbrach. Im Oktober warf Buchanan zum dritten Mal die Frage des Urlaubs auf, aber die Oktoberrevolution hielt ihn erneut auf seinem Posten fest. Gegenwärtig hat sich der Gesundheitszustand von Herrn Buchanan so stark verschlechtert, dass die Ärzte ihm befahlen, sofort zu gehen. Mit dem Botschafter werden einige englische Marine- und Landoffiziere, Mitglieder der Militärmission, abreisen. Gleichzeitig bat Kapitän Smith um eine Anordnung, dass das persönliche Gepäck aller abreisenden Passagiere keiner Grenzkontrolle unterzogen werden dürfe.

Der Volkskommissar fragte Kapitän Smith, ob die britische Regierung jenen diplomatischen Vertretern, die der Rat der Volkskommissare nach England oder über England senden würde, dasselbe Privileg gewähren würde. Kapitän Smith drückte seine Zuversicht aus, dass die britische Regierung den Agenten des Volkskommissariats nicht die gleichen Privilegien verweigern könne, aber auf Forderung Genosse Trotzkis verpflichtete er sich, diese Frage formell an den Botschafter zu richten und sofort dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten Antwort zu geben zu den entsprechenden Maßnahmen.

Eine Stunde später teilte Kapitän Smith über Telefon mit, dass der Botschafter den offiziellen Vertretern der Sowjetregierung, die nach England oder über England reisen, alle die Privilegien, die Herrn Buchanan gewährt werden, garantiert.

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