Leo Trotzki: Die Linke Opposition und die SAP [Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 746, International Institute of Social History, Amsterdam] Lieber Freund, Ich habe Ihren Brief vom 20. April erhalten, in dem Sie von Ihren Verhandlungen mit den führenden Genossen der SAP berichten. Ihre Mitteilungen ergänzen sehr gut die Resolution der letzten Konferenz der SAP in jenem Teile, wo vom Verhältnis mit uns die Rede ist. Bis zum 5. März machten uns die SAP-Führer den Vorwurf, wir hofften immer noch auf eine Wiedergeburt der KPD. Jetzt ist die Meinungsverschiedenheit durch den Gang der Entwicklung beseitigt. Wir halten den stalinistischen Apparat in Deutschland für todgeweiht und fordern zur Sammlung von Kadern für eine neue Partei auf. In Bezug auf die gegenseitigen Beziehungen zwischen uns und der SAP müsste sich die Frage somit darauf reduzieren, welches das Programm dieser neuen Partei sein wird, ihre Politik, ihr Regime. Es geht selbstverständlich nicht um allgemeine abstrakte Formeln, sondern darum, jene Erfahrung auf Papier festzuhalten, die in den letzten Jahren vor unseren Augen abgerollt sind, und an denen beide Organisationen, die Linke Opposition und die SAP, teilgenommen haben. Die grundlegenden Schlussfolgerungen dieser Erfahrung haben wir im Telegrammstil auf unserer Vorkonferenz im Februar d. J. festgelegt (gegenwärtig müssen wir an diesen Thesen Verbesserungen in der Frage unserer Beziehungen zur KPD anbringen). Seitens der SAP-Führer müssten wir Verbesserungen, Ergänzungen oder Gegenvorschläge programmatischen Charakters erwarten. In Wirklichkeit hören wir von ihrer Seite ein ganz anderes Argument. Ich muss gestehen, ich empfinde einige Schwierigkeiten in Bezug auf diesen Punkt, da von mir persönlich die Rede ist. Doch die Aufgaben der revolutionären Politik stehen über persönlichen Erwägungen; Man muss die Argumente in der Form nehmen, in der sie durch die möglichen Verbündeten oder möglichen Gegner vorgebracht werden. Die Linke Opposition ist nach den Worten der SAP-Führer zu sehr mit der „Persönlichkeit T.'s“ verbunden, hängt allzu sehr von ihm ab usw. … Die deutsche Sektion habe angeblich nichts ohne Anweisung T.'s unternommen usw. Die Konzentrierung einer Organisation um eine Person stelle eine große Gefahr dar usw. Vor allem möchte ich eine Richtigstellung in das Bild der inneren Beziehungen der linken Opposition hinein tragen. Ich werde nicht von der Vergangenheit sprechen, wo die deutschen Sektion sowohl schwere Meinungsverschiedenheiten als auch scharfe innere Krisen durchmachte, bei denen ich persönlich im besten Falle die Rolle eines Ratgebers von der Seite gespielt habe. Heute steht auf der Tagesordnung die Frage der neuen Partei in Deutschland. Die Linke Opposition ist die einzige Organisation, die offen vor aller Welt diese Frage diskutiert. Die Mehrheit der deutschen Reichsleitung geht mit dem Internationalen Sekretariat und mit mir in dieser Frage auseinander und führt energisch ihre Kampagne, wobei sie mich des „Sophismus“, der „Diplomatie" und aller übrigen Sünden anklagt, wie es sich bei einer Kampfdiskussion ziemt. Ich hoffe mit Bestimmtheit, dass die Diskussion mit der Ausarbeitung eines einheitlichen Standpunktes enden wird. Jedenfalls wird weder in der SAP noch in der KPD-O heute so offen und energisch gegen Walcher, Frölich oder Brandler-Thalheimer polemisiert, wie in der deutschen Sektion gegen mich und gegen das IS polemisiert wird. Vielleicht ist dies eine Anomalie? So kann nur jemand denken, das das innere Leben aller unserer Sektionen nicht kennt. Wahrhaftig, wir haben weder über Mangel an innerem geistigen Kampf noch über Überfluss an Achtung zur „Autorität“ zu klagen. Dies ist meiner Ansicht nach dadurch zu erklären, dass wir uns strenger als die übrigen Organisationen zu programmatischen Fragen und der Resumierung der internationalen strategischen Erfahrung verhalten; daraus ergibt sich eine kritischere und nörgelndere Einstellung des einen zum anderen. Ich gedenke durchaus nicht, die Linke Opposition so wie sie ist zu idealisieren. Die Schwäche einer Organisation, ihre ungenügende Verbindung mit den Massen schafft Bedingungen, unter denen ein übermäßiger Einfluss einzelner Personen möglich, sogar unvermeidlich ist. Hier ist jedoch das Heilmittel nur eine stärkere, mehr mit den Massen verbundene Organisation zu schaffen. Sind die Ausgangspositionen und Methoden der Linken Opposition im Wesen richtig, ist die Schaffung einer solchen Organisation gesichert ist oder zumindest vollständig erreichbar. Wir kommen folglich wieder zu den gleichen programmatischen, strategischen, taktischen und organisatorischen Fragen zurück. Was fürchten eigentlich die Genossen von der SAP? Den Einfluss einer bestimmten Person oder den Einfluss bestimmter Ideen, mit denen diese Person verbunden ist? In dieser Hinsicht fehlt noch die notwendige Klarheit. In der Konferenzresolution der SAP ist davon die Rede, dass die SAP in vielen Fragen mit der Linken Opposition und mit der KPD-O übereinstimmt. Vor allem springt die unbestimmte Formel „in vielen Fragen" in die Augen. Das ist nicht marxistisch. Die Resolution einer vor den fortgeschrittenen Arbeitern verantwortlichen Organisation muss klar und deutlich sagen, in welchen Fragen sie mit anderen Organisationen übereinstimmt, in welchen Fragen sie mit ihnen auseinandergeht. Ohne Klarheit und Bestimmtheit in Bezug auf Ideen gibt es keine revolutionäre Politik. Die Sache wird dadurch kompliziert, dass die Resolution gleichzeitig von einer Solidarität mit uns, Bolschewiki-Leninisten, und mit den Brandlerianern spricht. Das mindert außerordentlich den Wert der Solidaritätserklärung herab, denn uns trennen von den Brandlerianern unversöhnliche Meinungsverschiedenheiten. In den letzten ein-zwei Jahren lag der Schlüssel zur internationalen Lage in Deutschland. Im Rahmen der Taktik (nicht der Strategie) konnte es manchmal scheinen, die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns und den Brandlerianern seien nicht groß. Die proletarische Avantgarde Deutschlands hat indes den Schlüssel aus der Hand fallen lassen. An der Reihe ist jetzt Österreich. Doch das Problem der Österreich hat immerhin bloß episodische Bedeutung. Der Hauptschlüssel zu den Positionen des internationalen Proletariats liegt jetzt in der UdSSR. Unsere Einschätzung der Politik des bürokratischen Zentrismus und [der] durch ihn hervorgerufenen gewaltigen Gefahren ist den Genossen der SAP bekannt. Stimmen sie mit uns überein? Wenn ja, und sei es auch nur [im] Wesentlichen, wie können sie gleichzeitig mit den Brandlerianer übereinstimmen, die die Stalinsche Politik in der UdSSR (praktisch bedeutet dies: in der ganzen Welt) unterstützen und uns mehr als einmal „Konterrevolutionäre“ genannt haben? Es ergibt sich der Eindruck, als wollten die Führer aus der SAP, ohne sich über das Wesen der größten und einschneidendsten Frage auszusprechen, links von sich die Bolschewiki-Leninisten, rechts von sich die Brandlerianer haben, um, indem sie sich von beiden Flanken abstößt, ihre Selbständigkeit zu bewahren (das wäre kein Unglück) aber auch ihre Unbestimmtheit (und das ist sehr schlecht!). Eine solche Taktik mag sehr „geschickt“ aussehen. In Wirklichkeit wäre sie verderblich. Sie würde eine Fortsetzung der Seydewitzpolitik in einer neuen Lage bedeuten. Ich sage dies absolut nicht mit polemischen Absichten. Ich bin meinerseits bereit, alles zu unternehmen, um das gegenseitige Verständnis und die Annäherung mit den Genossen aus der SAP zu erleichtern. Doch die erste Bedingung dafür ist eine ehrliche politische Auseinandersetzung. Die SAP-Führer beschweren sich manchmal, die Linke Opposition stelle allzu „mechanisch“ die Frage der Politik des Zentrismus in China, des Anglorussischen Komitees, des Kominternkurses in Spanien, der Stalinpolitik in der UdSSR usw. Es geht indes nicht um irgendwelche willkürlichen Kriterien unsererseits oder um einzelne Glaubenssymbole. Es geht um ein und dieselbe Frage: um die Politik der führenden zentristischen Fraktion in den verschiedenen Ländern und unter verschiedenen Bedingungen. Wir haben die wichtigsten Ereignisse der letzten 10 Jahre hervorgehoben, um an deren Erfahrungen die Politik des Marxismus grell der Politik des Zentrismus entgegenzustellen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen wir selbstverständlich die lebendigen politischen Tatsachen und aktuellen Fragen. Aber zur Erziehung revolutionärer Kader bedarf es der Kontinuität des politischen Gedankens. Von der Erfahrung der Kuomintang, vom Kantoner Abenteuer, vom Block mit den britischen Streikbrechern usw. usw. führt die ununterbrochene Linie des Zentrismus zur deutschen Katastrophe. In der SAP wie auch in anderen Organisationen gibt es Tausende Arbeiter, denen diese Verbindung nicht klar ist, die nie die Politik Stalins in China, in Bulgarien, in Spanien studiert und durchdacht haben. Von diesen Genossen zu fordern, sie mögen rein formell die Richtigkeit unserer Positionen in den oben angeführten Fragen anerkennen, wäre selbstverständlich unvernünftig; man kann nicht durch einen Schlag eine lange propagandistische Arbeit ersetzen. Aber von den Führern, die die Initiative und Verantwortung einer selbständigen proletarischen Partei auf sich nehmen, haben wir ein Recht zu fordern, sie mögen sogleich ihr Verhältnis zu den Grundfragen der proletarischen Strategie festlegen, dabei nicht in einer allgemeinen abstrakten Form, sondern auf Grund der Tatsachen der lebendigen Erfahrung, die die heutige Generation des Weltproletariats durchgemacht hat. Aber auch in Bezug auf die Führer stellen wir die Frage nicht mechanisch. Wir sagen: „Ehe wir endgültig über unsere mögliche Zusammenarbeit entscheiden – wir würden wünschen, sie solle möglichst eng werden – muss erst geklärt werden, ob wir die Grundfragen der proletarischen Strategie in gleicher Weise ansehen. Hier unsere Auffassungen formuliert im Feuer des Kampfes in verschiedenen Ländern. Was steht ihr zu diesen Fragen? Wenn Ihr Euren Standpunkt zu ihnen noch nicht festgelegt habt, versuchen wir gemeinsam zu diskutieren, angefangen bei den einschneidendsten und unaufschiebbarsten politischen Aufgaben." In einer solchen Fragestellung liegt – ich wage es zu glauben – nicht der Schatten von Sektierertum. Für einen Marxisten kann es eine andere Fragestellung gar nicht geben. Hinzufügen muss man nicht, dass wir selbstverständlich zu praktischer Zusammenarbeit bereit sind, ohne auf die endgültige Bereinigung aller Streitfragen zu warten. Die Genossen der SAP halten die rascheste Zusammenberufung einer Konferenz aus allen vorhandenen kommunistischen Organisationen und Gruppen, die eine solche Einladung beantworten, für zweckmäßig. Wird eine solche Konferenz einberufen werden, so wird die Linke Opposition, wie ich glaube, an ihr teilnehmen, um dort ihren Standpunkt auseinanderzusetzen; doch von einer solchen Konferenz ernste Resultate zu erwarten für die Herstellung der kommunistischen Arbeit, wäre falsch. Ginge es um Hilfsaktionen für die Emigranten, die Verteidigung ihrer Interessen, oder um irgendeine einzelne politische Kampagne, könnte die Konferenz vielleicht in allen diesen Fällen praktische Bedeutung haben. Aber es geht doch um die Ausarbeitung der Grundlagen der revolutionären Politik für eine lange Periode. Solche Fragen wurden niemals durch buntgemischte Konferenzen im Wege der Improvisation gelöst. Im Gegenteil, eine politisch unvorbereitete, eilig zusammengerufene Konferenz würde in der Atmosphäre der Kopflosigkeit nur das ideologische Chaos vergrößern und auch die gegenseitige Erbitterung der verschiedenen Gruppen. Die führenden Zentren der deutschen revolutionären Bewegung werden in der nächsten Zeit unvermeidlich sich im Ausland niederlassen müssen. Einstweilen fühlen sich die ins Ausland geworfenen deutschen Genossen noch wie im Biwak. Sogar diejenigen unter ihnen, die theoretisch die Bedeutung der vor sich gegangenen Katastrophe begreifen, haben sich der neuen Lage psychologisch noch nicht angepasst. Auch in Deutschland leben die verschiedenen Gruppen noch nach dem Trägheitsgesetz des gestrigen Tages. Das betrifft auch die SAP, die zahlenmäßig stärkste, aber am wenigsten formierte unter allen oppositionellen kommunistischen Organisationen. Der linke Flügel des SAP hat in der Partei, obwohl seine Führer nicht einmal ein eigenes Organ hatten, die Mehrheit erobert und die Fraktion Seydewitz hinausgedrängt. Die Tatsache beleuchtet am allerbesten die allgemeine Entwicklungstendenz der SAP, in der wir von allem Anbeginne an eine „lebendige Strömung" sahen. Doch darf man die Augen nicht davor verschließen, dass die SAP in ihrer Masse auch heute ein kommunistisches Halbfabrikat darstellt. Inzwischen hat sich die Lage einschneidend geändert: auf der Tagesordnung stehen nicht unmittelbare Kampfaufgaben, sondern eine lange Vorbereitungsarbeit, dabei unter den Bedingungen der Illegalität. Je ungeformter eine Organisation in ideologischer Beziehung ist, umso geringeren Widerstand vermag sie den zersetzenden Faktoren entgegenzustellen (Enttäuschung, Müdigkeit, Repressalien, Agitation anderer Gruppen, usw.). Nur ideologisch gestählte Kader werden in der kommenden Periode den feindlichen Kräften widerstehen können! Die Linke Opposition, daran ist nicht im Geringsten zu zweifeln, ist bereit, entschieden alles zu machen, um das gegenseitige Verständnis mit der SAP zu erleichtern. Die technischen Formen für die Diskussion der strittigen oder ungelösten Fragen sind nicht schwer zu finden: ein Diskussionsbulletin, ein gemeinsames theoretisches Blatt, eine Reihe Konferenzen im Zentrum und in den verschiedenen Orten. Ich glaube, diese Fragen muss man eindringlich vor jedem Mitglied der SAP aufstellen. L. Trotzki Prinkipo, den 27. April 1933
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