Leo Trotzki: Ein ernster Fortschritt [Nach Unser Wort, 2. Jahrgang 1934, Nr. 3, 1. Februarwoche (Nr. 19), S. 1] Die Umwandlung von «Unser Wort» in ein Wochenblatt ist ein gewaltiger Erfolg nicht nur des revolutionären Flügels der deutschen Emigration, nicht nur der im Bau begriffenen neuen Partei des deutschen Proletariats, sondern auch der Vierten Internationale. Die Stärke von «Unser Wort» ist, dass es der nationalen wie der internationalen Aufgabe zugleich dient. Einige weise Leute, die vom Charakter unseres Jahrhunderts nichts gelernt haben, versuchen folgendermaßen zu reden: zuerst lasst uns die nationale Partei aufbauen und dann auf festem Fundament die Internationale errichten. Das klingt ungemein überlegt, ernst und solid, zeugt aber im Grunde von philisterhafter Kurzsichtigkeit. Die wiederauferstehende revolutionäre Arbeiterbewegung fängt die Geschichte nicht von vorne an, sie hat eine grandiose Vergangenheit, die in ihren Grundzügen für alle Länder gleichartig ist. Das Proletariat der ganzen Weit war jahrzehntelang in der Zweiten Internationale und den Gewerkschaften zusammengeschlossen. Nach dem Krieg sammelte sich die proletarische Weltvorhut unter dem Banner der Dritten Internationale. Nicht nur die Weltkrise, der Faschismus, die Kriegsgefahr, sondern auch der Zerfall der Komintern hat internationalen Charakter. Es ist klar, die fortgeschrittenen proletarischen Elemente aller Länder müssen unter der Wirkung ein und derselben allgemeinen Ursachen den Ausweg in ein und derselben Richtung suchen. Können sie in diesem Fall verzichten auf Anbahnung internationaler Beziehungen, gemeinsame Arbeit an den programmatischen und strategischen Fragen, Austausch der politischen Erfahrung, schließlich auf gegenseitigen praktischen Beistand schon bei den ersten Schritten ihrer Arbeit? Einige neunmalkluge Leisetreter gehen noch weiter und sagen: «Wir wollen unsere Reihen nicht spalten wegen solcher Fragen wie des Charakters des Sowjetstaates, der Strategie der Komintern usw., usw., wir wollen «einfach» den Arbeitern unseres Landes helfen, den Klassenkampf zu führen. So reden z. B. die Initiatoren der neuen Arbeiterpartei in den Vereinigten Staaten (SPLA, Muste und Co) daher. Ähnliche Ansichten entwickeln die Führer der schwedischen Unabhängigen Kommunistischen Partei (Kilboom u. a.), der britischen Unabhängigen Arbeiterpartei (Fenner Brockway u. a.) usw. Noch tiefer stehen in dieser Frage wohl die Verfasser der deutschen Broschüre «Neu beginnen!»- Kann man sich einen Arzt vorstellen, der sagte, ihm läge nichts an den Haupttheorien der Anatomie, der Physiologie, der Pathologie, er wolle sich wegen der neuesten Theorien über den Krebs oder die Malaria nicht streiten und zerwerfen, er ziehe vor, seine Kranken «einfach» zu heilen. So einem kläglichen Stümper würde ein denkender Arbeiter nicht das Leben seines Kindes oder sein eigenes anvertrauen. Kein Kapitalist andererseits wird den Bau großer Fabriken einem Ingenieur auftragen, dem die Grundtheorien der Technik nicht in Fleisch und Blut übergegangen sind. Nur im Bereich der Politik, sogar der «revolutionären» Politik, fährt das unwissende Quacksalbertum fort, anmaßend gegen die wissenschaftliche Methode aufzutreten. Mitunter fällt es schwer zu glauben, dass das Kommunistische Manifest vor 85 Jahren geschrieben wurde! Die strittigen Fragen, die heute die Weltarbeiterbewegung spalten, sind nicht episodischen, taktischen, sondern prinzipiellen, strategischen und eben dadurch internationalen Charakters. Wie groß auch die nationalen Besonderheiten dieses oder jenes Landes sein mögen, so bestimmen sie in unserer Epoche doch nur die Taktik, nicht die Strategie der Arbeiterklasse. Die Bedeutung der Taktik ist selbstverständlich gewaltig: in letzter Hinsicht löst alle Strategie sich in Taktik auf. Doch kann man keinen taktisch richtigen Schritt tun ohne strategischen Kompass in der Hand. Man kann sich nicht in der nationalen Umgebung orientieren, ohne die Weltumgebung theoretisch einzuschätzen, ohne aus der internationalen Erfahrung der Arbeiterklasse Schlüsse zu ziehen, ohne internationale Perspektiven, d.h. das Prcgramm der neuen Internationale zu zeichnen. Wenn die so tiefsinnigen Leute reden: «Beeilt euch nicht, jetzt ist noch nicht dir Zeit für die Vierte Internationale», so könnten sie ebenso gut sagen: «Beeilt euch nicht, jetzt ist noch nicht die Zeit für den Klassenkampf». Denn es handelt sich ja gar nicht um den Augenblick der formellen «Verkündigung» der neuen Internationale, sondern um den Aufbau der neuen Partei, nicht als eines isolierten nationalem Gebildes, sondern als Bestandteil der Internationale: Das kleine «Unser Wort» ist jetzt das einzige Organ auf dem weitem Felde der deutschen Arbeiterbewegung, das richtig, ernst, marxistisch die wechselseitige Abhängigkeit von Taktik und Strategie, von nationaler Partei und neuer Internationale begriffen hat. Eben darin liegt die Gewähr seines Erfolges. In einer Epoche des Verfalls, der Gärung, Verworrenheit kann politische Halbheit zuweilen gewaltige Erfolge erringen, die am meisten sie selbst erstaunen und blenden; doch diese Erfolge sind nicht verlässlich, verschwinden zusammen mit der politischen Konjunktur, die sie erzeugte. Die Erfolge von «Unser Wort» sind anderer Art: das sind Erfolge der Methode, des Systems, der marxistischen Klarheit. Solche Erfolge sind dauerhaft. Die Freunde von «Unser Wort» haben die Pflicht, alle Anstrengungen darauf zu richten, das wöchentliche Erscheinen des Blattes sicher zu stellen, seinen Inhalt reichhaltiger zu gestalten, sein Format zu vergrößern, den Vertrieb zu verbreitern, sein Eindringen in Deutschland zu erleichtern und neben «Unser Wort» die Herausgabe einer theoretischen Monatszeitschrift vorzubereiten zur Behandlung der Grundfragen unserer Epoche, d. h. des Programms der Vierten Internationale. Mit heißem Gruß für Redaktion, Mitarbeiter, Verwaltung, Leser und Freunde des wöchentlichen „Unser Wort". 21. Jan. 1934, L. Trotzki |
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