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Leo Trotzki 19350216 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 43-45. Der Eintrag ist mit 15. Februar datiert, es wird aber ein Zeitungsausschnitt vom 16. Februar verwendet]

15. Februar

Der Temps bringt einen äußerst sympathisierenden telegraphischen Bericht seines Moskauer Korrespondenten über die neuerlichen, den Kolchosbauern insbesondere auf dem Gebiet der Groß- und Kleinviehhaltung gewährten Vergünstigungen. Anscheinend sind auch noch weitere Konzessionen, die die kleinbürgerlichen Neigungen der Bauernschaft berücksichtigen sollen, in Vorbereitung. Es ist vorderhand schwer zu sagen, auf welcher Demarkationslinie der gegenwärtige Rückzug zum Stehen kommen wird. Es war aber unschwer, den Rückzug, der durch allergröbste bürokratische Illusionen der voraufgegangenen Zeitspanne verursacht worden ist, als solchen vorauszusehen. Das Bulletin der russischen Opposition hat angesichts der abenteuerlichen Methoden der Kollektivierung seit Herbst 1929 Alarm geschlagen. »In dem hektischen Charakter der aufeinander zeitlich nicht abgestimmten Maßnahmen sind für die nächste Zukunft Elemente der unausweichlichen Krise angelegt.« Alles Weitere ist bekannt: Die Vernichtung des Viehbestandes, das Hungerjahr 1933, die unermessliche Zahl der Opfer, eine Reihe politischer Krisensituationen. Gegenwärtig läuft der Rückzug auf vollen Touren. Gerade aus diesem Grunde sieht sich Stalin aufs Neue gezwungen, alle, die links von ihm stehen, niederzumetzeln.

Ihrem Wesen entsprechend, ist die Revolution gezwungen, von einem Bereich Besitz zu ergreifen, der größer ist als der, den sie zu halten vermag: ein Rückzug ist dann möglich, wenn Raum verfügbar ist, aus welchem man sich zurückzieht. Doch rechtfertigt dieses allgemeine Gesetz keineswegs die totale Kollektivierung. Ihre Ungereimtheiten waren nicht das Ergebnis eines elementaren Drucks der Massen, sondern einer bürokratischen Fehlkalkulation. Anstatt die Kollektivierung in Übereinstimmung mit den produktionstechnischen Versorgungsquellen zu lenken, anstatt den Umfang der Kollektivierung im Einklang mit der gesammelten Erfahrung in die Breite und Tiefe auszuweiten, begannen die erschrockenen Bürokraten die erschrockenen Bauern mit Peitschenhieben in die Kolchose zu treiben. Der Empirismus und die Beschränktheit Stalins traten am unverhülltesten in seinen Kommentaren zur totalen Kollektivierung zutage. Der gegenwärtige Rückzug vollzieht sich kommentarlos.

»Unsere Parlamentarier halten bereitwillig die Grabrede für den Wirtschaftsliberalismus. Erkennen sie denn nicht, dass sie damit das eigene Begräbnis vorbereiten helfen und dass das Parlament der freien Wirtschaftsform ins Grab folgen würde?«1

Bemerkenswerte Worte! Ohne es auch nur zu ahnen, setzen die »Idealisten« aus dem Temps ihre anerkennende Unterschrift unter eine der wichtigsten Thesen des Marxismus: die parlamentarische Demokratie ist nichts anderes als der Überbau über dem Regime des bourgeoisen wirtschaftlichen Wettbewerbs, sie steht und fällt mit ihm. Doch wird gerade durch diese Zwangsanleihe beim Marxismus die politische Stellung des Temps unermesslich stärker als die Position der Sozialisten und Radikalsozialisten, die bestrebt sind, die Demokratie dadurch zu erhalten, dass sie diesen Begriff mit einem »anderen« volkswirtschaftlichen Inhalt ausfüllen. Diese Phrasendrescher sehen nicht ein, dass die Verflechtung zwischen einem politischen Regime und der Volkswirtschaft dem Verhältnis zwischen Hauthülle und Muskelfaser, nicht aber dem Verhältnis zwischen Blechbüchse und Konservendoseninhalt entspricht. Schlussfolgerung: die parlamentarische Demokratie ist dem Untergang ebenso geweiht wie der marktwirtschaftliche Wettbewerb. Es fragt sich nur, wer das Erbe antreten wird.

1 Eingeklebter Zeitungsausschnitt, mit Bleistift unterstrichen. Anführungszeichen mit Tinte hinzugefügt

Le Temps, 16. Februar:

Nos parlementaires prononcent volontiers l'oraison funèbre du libéralisme économique. Comment ne sentent-ils pas qu'ils préparent ainsi la leur, et que si la liberté économique mourait le Parlement la suivrait dans la tombe?

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