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Leo Trotzki 19371030 Neunzig Jahre Kommunistisches Manifest

Leo Trotzki: Neunzig Jahre Kommunistisches Manifest

Vorwort zur ersten Ausgabe des Manifests in Afrikaans-Sprache.

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 2 (Januar 1938), S. 29-33]

Es ist kaum zu glauben, dass uns nur noch zehn Jahre vom hundertjährigen Jubiläum des «Manifests der Kommunistischen Partei» trennen! Dies genialste aller Manifeste der Weltliteratur erstaunt noch heute durch seine Frische. Seine wichtigsten Teile machen den Eindruck, als seien sie gestern geschrieben. Wahrlich, seine jungen Verfasser (Marx war 29, Engels 27 Jahre alt) verstanden so weit vorauszublicken wie noch niemand vor und wohl auch niemand nach ihnen.

Bereits im Vorwort zur Ausgabe von 1872 erklärten Marx und Engels, dass sie trotz Veraltens einiger zweitrangiger Stellen des Manifests sich nicht für berechtigt hielten, den ursprünglichen Wortlaut abzuändern, da das Manifest in den 25 verflossenen Jahren zu einem historischen Dokument geworden war. Seitdem sind weitere 65 Jahre vergangen. Einzelne Teile des Manifests sind noch tiefer in die Vergangenheit getaucht. Wir wollen uns bemühen, in diesem Vorwort in gedrängter Form festzustellen, welche Gedanken des Manifests bis zum heutigen Tag voll gültig blieben und welche heute ernster Änderung oder Ergänzung bedürfen.

1. Die materialistische Geschichtsauffassung, von Marx kurz vorher begründet und im Manifest mit vollendeter Meisterschaft angewandt, hat die Probe der Ereignisse und der gegnerischen Kritik völlig bestanden und bildet heute eines der wertvollsten Werkzeuge des menschlichen Denkens. Alle andern Deutungen des Geschichtsprozesses haben jede wissenschaftliche Bedeutung eingebüßt. Man kann mit Gewissheit sagen, dass man heutzutage nicht nur kein revolutionärer Kämpfer, sondern ganz einfach kein politisch gebildeter Mensch sein kann, wenn man sich nicht die materialistische Geschichtsauffassung zu eigen gemacht hat.

2. Das erste Kapitel des Manifests beginnt mit den Worten: «Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen». Diese These ist als bedeutendste Schlussfolgerung aus der materialistischen Geschichtsauffassung selber sofort Objekt des Klassenkampfs geworden. Die Theorie, die an die Stelle des «Allgemeinwohls», der «nationalen Einheit» und der «ewigen Moralweisheiten» als bewegende Kraft den Kampf der materiellen Interessen setzte, hatte besonders heftige Attacken seitens der reaktionären Heuchler, liberalen Doktrinäre und idealistischen Demokraten auszustehen. Später gesellten sich zu ihnen, diesmal aus der Arbeiterbewegung selbst heraus, die sogenannten Revisionisten, d.h. die Vertreter einer Überprüfung («Revision») des Marxismus im Sinne der Klassenzusammenarbeit und Klassenversöhnung. Schließlich betraten in unserer Zeit die verachtenswerten Epigonen der Komintern (die «Stalinisten») praktisch denselben Weg : die Politik der sogenannten «Volksfront» ist nichts weiter als die Leugnung der Gesetze des Klassenkampfs. Indes ist grade die Epoche des Imperialismus, die alle sozialen Gegensätze auf die Spitze trieb, der höchste theoretische Triumph des «Kommunistischen Manifests».

3. Die Anatomie des Kapitalismus als eines bestimmten Stadiums in der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft gab Marx in vollendeter Form im «Kapital» (1867). Doch schon im «Kommunistischen Manifest» sind die Grundlinien der spätem Analyse mit festem Griff gezogen: der Wert der Arbeitskraft auf Grund ihrer Reproduktion, die Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalisten, die Konkurrenz als Grundgesetz der gesellschaftlichen Beziehungen, der Untergang der Mittelklassen, das heißt des städtischen Kleinbürgertums und der Bauernschaft, die Konzentration des Reichtums in der Hand einer immer kleineren Anzahl von Besitzern auf dem einen Pol, die zahlenmäßige Zunahme des Proletariats auf dem andern, die Vorbereitung der materiellen und politischen Bedingungen des sozialistischen Regimes.

4. Auch die These des Manifests von der Tendenz des Kapitalismus, das Lebensniveau der Arbeiter zu senken und sie sogar in Pauper zu verwandeln, wurde heftig bombardiert. Gegen die «Verelendungstheorie» erhoben sich Pfaffen, Minister, Publizisten, sozialdemokratische Theoretiker und Gewerkschaftsführer. Sie entdeckten ohne Unterlass den steigenden Wohlstand der Werktätigen, wobei sie die Arbeiteraristokratie für das Proletariat ausgaben und eine Augenblickstendenz als die allgemeine hinnahmen. Indessen hat selbst die Entwicklung des mächtigsten, nämlich des nordamerikanischen Kapitalismus Millionen von Arbeitern in Pauper verwandelt, die auf Kosten staatlicher, gemeindlicher und privater Wohltätigkeit ernährt werden.

5. Entgegen dem Manifest, das die Handels- und Industriekrisen als eine Reihe wachsender Katastrophen darstellt, behaupteten die Revisionisten, die nationale und internationale Entwicklung der Trusts werde erlauben, den Markt zu kontrollieren und allmählich die Krisen zu überwinden. Das Ende des letzten und der Beginn dieses Jahrhunderts zeichneten sich tatsächlich durch eine so stürmische Entfaltung des Kapitalismus aus, dass die Krisen nur «gelegentliche» Atempausen zu sein schienen. Aber diese Epoche ist unwiederbringlich vorbei. Zuguterletzt war auch in dieser Frage das Recht auf Seiten des Manifests.

6. «Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.» In dieser knappen Formel, die den Führern der Sozialdemokratie als ein publizistisches Paradoxon erschien, ist im wesentlichen die einzig wissenschaftliche Theorie vom Staate enthalten. Die von der Bourgeoisie geschaffene Demokratie ist keine leere Hülse, die man – wie Bernstein und Kautsky gleichermaßen meinten – friedlich mit einem beliebigen Klasseninhalt füllen kann. Die bürgerliche Demokratie vermag nur der Bourgeoisie zu dienen. «Volksfront-Regierungen, ob mit Blum oder Chautemps, Caballero oder Negrin an der Spitze, sind «nur ein Ausschuss, der die gemeinsamen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.» Wenn dieser «Ausschuss» die Geschäfte schlecht verwaltet, so jagt ihn die Bourgeoisie mit einem Fußtritt zum Teufel.

7. «Jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf.» Die «Organisation der Proletarier zur Klasse» ist damit ihre Organisation «zur politischen Partei». Einerseits die Tradeunionisten und andererseits die Anarchosyndikalisten sind dem Verständnis dieser historischen Gesetze lange ausgewichen, und noch heute versuchen sie es. Die «reine» Gewerkschaftlerei hat heute in ihrer Hauptzufluchtsstätte, den Vereinigten Staaten, einen vernichtenden Schlag erhalten. Der Anarchosyndikalismus erlitt in seiner letzten Zitadelle, Spanien, eine nicht wieder gutzumachende Niederlage. Das Manifest behielt auch hier recht.

8. Das Proletariat kann die Macht nicht im Rahmen der von der Bourgeoisie aufgestellten Gesetze erobern. «Die Kommunisten… erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.»

Der Reformismus suchte diese These aus der Unreife der damaligen Bewegung und der ungenügenden Entfaltung der Demokratie zu erklären. Das Schicksal der italienischen, deutschen und so manch anderer «Demokratie» zeigt, dass «Unreife» gerade die Gedanken der Reformisten selber auszeichnete.

9. Zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft ist es notwendig, dass die Arbeiterklasse in ihrer Hand die Macht sammle, die imstande ist, alle politischen Hindernisse auf dem Wege zur neuen Ordnung beiseite zuschieben «Das als herrschende Klasse organisierte Proletariat», das eben ist die Diktatur. Zugleich ist es auch die einzig, wirkliche proletarische Demokratie. Ihre Breite und Tiefe hängen von den konkreten geschichtlichen Umständen ab. Je größer die Anzahl der Staaten, die den Weg der sozialistischen Revolution betreten, desto freier und geschmeidiger werden die Formen der Diktatur sein, umso breiter und tiefer die Arbeiterdemokratie.

10. Die internationale Entwicklung des Kapitalismus bedingte den internationalen Charakter der proletarischen Revolution, «Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung.». Die weitere Entwicklung des Kapitalismus hat alle Teile unseres Planeten, die «zivilisierten» und die «unzivilisierten», so eng miteinander verknüpft, dass die sozialistische Revolution vollkommen und endgültig zu einem Weltproblem wurde. Die Sowjetbürokratie versuchte, in dieser fundamentalen Frage das Manifest zu liquidieren. Die bonapartistische Entartung des Sowjetstaates ist eine mörderische Illustration für die Falschheit der Theorie vom Sozialismus in einem Lande.

11. «Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.» Anders gesagt: der Staat stirbt ab. Übrig bleibt die aus der Zwangsjacke befreite Gesellschaft. Das eben ist der Sozialismus. Der umgekehrte Vorgang, das unerhörte Anwachsen des staatlichen Zwangs in der USSR, bezeugt, dass die Gesellschaft sich vom Sozialismus entfernt.

12. «Die Arbeiter haben kein Vaterland.» Diese Worte des Manifests wurden von den Spießern nicht selten als Agitationsphrase aufgefasst. In Wirklichkeit geben sie dem Proletariat die einzig denkbare Richtschnur in der Frage des kapitalistischen «Vaterlands». Der Verstoß gegen diesen Grundsatz durch die zweite Internationale hatte nicht nur die vierjährige Brandschatzung Europas, sondern auch den heutigen Stillstand der Weltkultur zur Folge. Angesichts des nahenden neuen Krieges, dem der Verrat der dritten Internationale den Weg ebnet, bleibt das Manifest auch heute noch der verlässlichste Ratgeber in der Frage des kapitalistischen «Vaterlands».

Wie man sieht, gibt das kleine Werk der beiden jungen Verfasser in den wichtigsten und brennendsten Fragen des Befreiungskampfes auch weiterhin unersetzliche Hinweise. Welch anderes Buch kann sich in dieser Hinsicht auch nur entfernt mit dem Kommunistischen Manifest messen? Das bedeutet aber keineswegs, dass das Manifest nach 90 Jahren beispielloser Entwicklung der Produktivkräfte und mächtiger sozialer Schlachten nicht auch der Korrekturen und Ergänzungen bedürfte. Das revolutionäre Denken hat mit Götzendienerei nicht gemein. Programme und Prognosen werden im Lichte der Erfahrung, die für das menschliche Denken die oberste Instanz ist, überprüft und verbessert. Der Korrekturen und Ergänzungen bedarf auch das Manifest. Jedoch können diese Korrekturen und Ergänzungen – wie es dieselbe geschichtliche Erfahrung bezeugt – nur dann mit Erfolg vorgenommen werden, wenn sie von der dem Manifest zugrunde liegenden Methode ausgehen. Wir wollen versuchen, dies an den wichtigsten Beispielen nachzuweisen.

1. Marx lehrte, dass keine gesellschaftliche Ordnung von der Bühne abtrete, bevor sie nicht alle Möglichkeiten ihrer Entfaltung erschöpft habe. Das Manifest geißelt den Kapitalismus, weil er die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt. Allein, diese hemmende Wirkung war zu jener Zeit wie in den folgenden Jahrzehnten nur relativ: hätte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage organisiert werden können, ihr Wachstumstempo wäre weitaus höher gewesen. Diese theoretisch unanfechtbare Behauptung ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Produktivkräfte bis zum Weltkrieg im Weltmaßstab weiter anwuchsen. Erst mit den letzten zwanzig Jahren setzte trotz den modernsten Errungenschaften von Wissenschaft und Technik die Epoche des direkten Stillstands und sogar Verfalls der Weltwirtschaft ein. Die Menschheit beginnt vom angehäuften Kapital zu zehren, und der kommende Krieg droht, die eigentlichen Grundlagen der Zivilisation auf lange Zeit hinaus zu zerstören. Die Verfasser des Manifests rechneten damit, dass der Kapitalismus lange vor seiner Verwandlung aus einem verhältnismäßig reaktionären in ein absolut reaktionäres Regime in die Brüche gehen werde. Diese Verwandlung geschah endgültig erst vor den Augen der gegenwärtigen Generation und machte unsere Epoche zur Epoche der Kriege, der Revolutionen und des Faschismus.

2. Marx-Engels' Fehler hinsichtlich der historischen Zeiträume entsprang einer Unterschätzung der dem Kapitalismus innewohnenden ferneren Möglichkeiten und andrerseits einer Überschützung der revolutionären Reife des Proletariats.

Die Revolution von 1848 schlug nicht in eine sozialistische um, wie das Manifest erwartet hatte, sondern eröffnete Deutschland die Möglichkeit einer grandiosen kapitalistischen Blüte. Die Pariser Kommune zeigte, dass das Proletariat ohne gestählte revolutionäre Partei an seiner Spitze der Bourgeoisie die Macht nicht entreißen kann. Indes, die folgende lange Periode des kapitalistischen Aufschwungs brachte nicht die Herausbildung einer revolutionären Vorhut mit sich, sondern umgekehrt die bürgerliche Entartung der Arbeiterbürokratie, die ihrerseits zum Haupthindernis der proletarischen Revolution wurde. Diese «Dialektik» konnten die Manifestverfasser von sich aus keineswegs vorausahnen.

3. Der Kapitalismus ist für das Manifest das Reich der freien Konkurrenz. Das Manifest spricht wohl von einer wachsenden Konzentration des Kapitals, aber zieht daraus noch nicht den notwendigen Schluss auf das Monopol, das zur vorherrschenden Form des Kapitals unserer Epoche und zur wichtigsten Voraussetzung der sozialistischen Gesellschaft geworden ist. Erst später, im «Kapital», konstatierte Marx die Tendenz zur Verwandlung der freien Konkurrenz ins Monopol. Die wissenschaftliche Charakteristik des Monopolkapitalismus gab Lenin in seinem «Imperialismus».

4. Vorwiegend auf das Beispiel der «industriellen Revolution» in England gestützt, stellten sich die Manifestverfasser den Liquidierungsprozess der Mittelklassen allzu gradlinig als eine restlose Proletarisierung von Handwerk, Kleinhandel und Bauernschaft vor. In Wirklichkeit haben die Elementarkräfte der Konkurrenz diese ihre zugleich fortschrittliche und barbarische Arbeit bei weitem .nicht beendet. Das Kapital hat das Kleinbürgertum viel schneller ruiniert als proletarisiert. Außerdem richtet sich die Politik des bürgerlichen Staats schon längst bewusst darauf, die kleinbürgerlichen Schichten künstlich zu erhalten. Das Wachstum der Technik und die Rationalisierung der Großproduktion erzeugten eine organische Arbeitslosigkeit und verhinderten so ebenfalls die Proletarisierung des Kleinbürgertums. Gleichzeitig damit bewirkte die Entfaltung des Kapitalismus eine außerordentliche Zunahme des Heers der Techniker, Verwalter, Handelsangestellten, mit einem Wort, des sog. «neuen Mittelstands». Infolgedessen bilden die Mittelklassen, deren Verschwinden das Manifest in so kategorischen Worten behauptet, selbst in einem so hoch industrialisieren Lande wie Deutschland rund die Hälfte der Bevölkerung. Allein, die künstliche Erhaltung der längst überlebten kleinbürgerlichen Schichten lindert keineswegs die sozialen Gegensätze, sondern umgekehrt, gibt diesen ein besonders krankhaftes Gepräge. Mit dem permanenten Arbeitslosenheer ist sie eine der bösartigsten Fäulniserscheinungen des Kapitalismus.

5. Zugeschnitten auf eine revolutionäre Epoche, enthält das Manifest (am Ende des zweiten Kapitels) zehn Forderungen, die der Periode des unmittelbaren Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus entsprechen. Im «Vorwort» von 1872 erklärten Marx und Engels diese Forderungen für teilweise veraltet und jedenfalls von zweitrangiger Bedeutung. Die Reformisten bemächtigten sich dieser Äußerung, um sie in dem Sinne auszulegen, dass die revolutionären Übergangslosungen für immer dem sozialdemokratischen «Minimalprogramm» Platz gemacht hätten, das bekanntlich über die Grenzen der bürgerlichen Demokratie nicht hinausging. In Wirklichkeit gaben die Verfasser des Manifests ganz genau die daran vorzunehmende Hauptkorrektur an, und zwar: «Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen». Die Korrektur war, mit anderen Worten, gegen den Fetischismus der bürgerlichen Demokratie gerichtet. Dem kapitalistischen Staat stellten Marx und Engels später den Staat vom Typus der Kommune entgegen. Dieser «Typus» nahm in der Folgezeit die viel bestimmtere Form der Sowjets an. Heute kann es kein revolutionäres Programm geben ohne Sowjets und ohne Arbeiterkontrolle. In allem übrigen haben die zehn Forderungen des Manifests, die in der Epoche der friedlichen parlamentarischen Wirksamkeit «archaisch» erschienen, heute vollkommen ihre aktuelle Bedeutung wiedererlangt. Hoffnungslos veraltet ist hingegen das sozialdemokratische «Minimalprogramm».

6. Zur Begründung der Hoffnung, dass «die deutsche bürgerliche Revolution nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann», beruft sich das Manifest auf die, verglichen mit dem England des 17. und dem Frankreich des 18. Jahrhunderts weiter fortgeschrittenen allgemeinen Bedingungen der europäischen Zivilisation, und auf das bedeutend höher entwickelte Proletariat. Der Irrtum dieser Prognose lag nicht nur in der gesetzten Frist. Die Revolution von 1848 ließ bereits nach einigen Monaten erkennen, dass gerade unter entwickelteren Verhältnissen keine der bürgerlichen Klassen mehr die Revolution zu Ende führen kann: die Groß- und Mittelbourgeoisie ist zu eng mit dem Grundbesitz verbunden und durch Furcht vor den Massen zusammengeschweißt, das Kleinbürgertum ist zu geteilt und in seinen führenden Spitzen zu stark von der Großbourgeoisie abhängig. Wie es die gesamte spätere Entwicklung in Europa und Asien zeigte, kann die bürgerliche Revolution isoliert überhaupt nicht mehr verwirklicht werden. Die völlige Säuberung der Gesellschaft vom feudalen Gerümpel ist nur unter einer Bedingung denkbar, nämlich, wenn das Proletariat, vom Einfluss der bürgerlichen Parteien befreit, imstande ist, an die Spitze der Bauernschaft zu treten und seine revolutionäre Diktatur aufzurichten. Somit verflicht sich die bürgerliche Revolution mit der ersten Etappe der sozialistischen Revolution, um im weiteren Verlauf in ihr aufzugehen. Die nationale Revolution wird damit ein Glied der internationalen Revolution. Die Umgestaltung der ökonomischen Grundlagen und aller gesellschaftlichen Beziehungen bekommt permanenten (ununterbrochenen) Charakter.

Für die revolutionären Parteien der zurückgebliebenen Länder Asiens, Lateinamerikas und Afrikas ist es eine Lebensfrage, klar den organischen Zusammenhang der demokratischen Revolution mit der Diktatur des Proletariats und dadurch mit der internationalen sozialistischen Revolution zu begreifen.

7. Das Manifest zeigt, wie der Kapitalismus die rückständigen und barbarischen Länder in seinen Strudel reißt, aber sagt nichts über den Kampf der Kolonial- und Halbkolonialvölker für ihre Unabhängigkeit. Insofern Marx und Engels meinten, die sozialistische Revolution «wenigstens der zivilisierten Länder» sei Sache weniger Jahre, war für sie die Frage der Kolonien von selbst entschieden, nicht kraft einer selbständigen Bewegung der unterdrückten Völker, sondern kraft des Sieges des Proletariats in den kapitalistischen Mutterländern. Die Fragen der revolutionären Strategie in den Kolonial- und Halbkolonialländern sind daher im Manifest überhaupt nicht angeschnitten. Indes verlangen diese Fragen nach selbständigen Lösungen. So bleibt zum Beispiel das «nationale Vaterland», das für die Entwicklung der kapitalistischen Länder das schlimmste geschichtliche Hemmnis darstellt, ganz offenkundig in den zurückgebliebenen Ländern, die ihre unabhängige Existenz erst erkämpfen müssen, noch ein verhältnismäßig fortschrittlicher Faktor. «Die Kommunisten unterstützen überall», so lautet das Manifest, «jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände.» Die Bewegung der farbigen Rassen gegen die imperialistischen Unterdrücker ist eine der wichtigsten und mächtigsten Bewegungen gegen die bestehende Ordnung und erfordert daher volle, unwidersprochene, rückhaltlose Unterstützung seitens des Proletariats der weißen Rasse. Die revolutionäre Strategie der unterdrückten Völker entwickelt zu haben, ist zur Hauptsache Lenins Verdienst.

8. Der am meisten veraltete Teil des Manifests – nicht dem Inhalt, aber dem Gegenstand nach – ist die Kritik der «sozialistischen» Literatur der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (3. Kapitel) und die Bestimmung der Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen Parteien (4. Kapitel). Die im Manifest aufgezählten Strömungen und Parteien wurden von der 1848er Revolution oder der nach ihr einsetzenden Konterrevolution so radikal hinweg geräumt, dass man heute selbst ihren Namen im historischen Wörterbuch nachsuchen muss. Jedoch ist das Manifest auch in diesem Teil uns heute wohl viel näher als der vorhergehenden Generation. In der Blütezeit der zweiten Internationale, als der Marxismus ungeteilt zu herrschen schien, konnten die Ideen des vormarxschen Sozialismus als endgültig der Vergangenheit angehörig betrachtet werden. Nicht so heute. Die Zersetzung der Sozialdemokratie und der Komintern erzeugt auf Schritt und Tritt die unglaublichsten ideologischen Rückfälle. Das altersschwache Denken kehrt gleichsam in die Kindheit zurück. Auf der Suche nach rettenden Formeln entdecken die Propheten der Verfallsepoche wieder die Lehren, die der wissenschaftliche Sozialismus längst begraben hatte. Was die Oppositionsparteien anbetrifft, so haben hier die verflossenen Jahrzehnte die tiefsten Veränderungen gebracht, nicht nur in dem Sinne, dass die alten Parteien längst von neuen abgelöst wurden, sondern auch darin, dass der Charakter der Parteien selbst und ihre Beziehungen zueinander sich unter den Bedingungen der imperialistischen Epoche radikal geändert haben. Es heißt darum, das Manifest durch die wichtigsten Dokumente der ersten vier Kominternkongresse, die grundlegende Literatur des Bolschewismus und die Beschlüsse der Konferenzen der Vierten Internationale zu ergänzen

Weiter oben erinnerten wir daran, dass nach Marx eine Gesellschaftsformation nie untergeht, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist. Allein, auch eine überlebte Gesellschaftsordnung macht der neuen nicht widerstandslos Platz. Der Wechsel gesellschaftlicher Ordnungen setzt die erbittertste Form des Klassenkampfs, die Revolution voraus. Erweist sich das Proletariat aus dem einen oder andern Grunde außerstande, mit kühnem Stoß die überlebte bürgerliche Ordnung zu stürzen, so bleibt dem Finanzkapital im Kampf um seine wankende Herrschaft nichts anderes übrig, als das von ihm ruinierte und demoralisierte Kleinbürgertum zur Pogromtruppe des Faschismus zu machen. Die bürgerliche Entartung der Sozialdemokratie und die faschistische Entartung des Kleinbürgertums sind miteinander verbunden wie Ursache und Wirkung.

Heute leistet die Dritte Internationale mit viel größerer Skrupellosigkeit als die Zweite in allen Ländern die Arbeit des Betrugs und der Demoralisierung der Werktätigen. Mit Prügeln gegen die Vorhut des spanischen Proletariats ebnen die entfesselten Söldlinge Moskaus nicht nur dem Faschismus den Weg, sondern nehmen ihm auch ein Gutteil seiner Arbeit ab. Die lang andauernde Krise der internationalen Revolution, die immer mehr zur Krise der menschlichen Kultur wird, ist im Grunde auf die Krise der revolutionären Leitung zurückzuführen.

Als Nachfolgerin einer großen Tradition, dessen kostbarstes Glied das Manifest der Kommunistischen Partei ist, bildet die Vierte Internationale neue Kader zur Lösung der alten Aufgaben heran. Theorie ist verallgemeinerte Wirklichkeit. Im ehrlichen Verhalten zur revolutionären Theorie kommt das leidenschaftliche Streben zum Ausdruck, die soziale Wirklichkeit umzuformen. dass im Süden des schwarzen Kontinents unsere Gesinnungsgenossen zum ersten mal das Manifest in die Afrikaans-Sprache übertrugen, ist mit eine Bestätigung dafür, dass das marxistische Denken heute nur unter dem Banner der Vierten Internationale lebendig ist. Ihr gehört die Zukunft. Am hundertsten Jahrestag des Kommunistischen Manifests wird die Vierte Internationale als die entscheidende revolutionäre Kraft unseres Planeten dastehen.

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