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Leo Trotzki 19390501 Die bonapartistische Staatsphilosophie

Leo Trotzki: Die bonapartistische Staatsphilosophie

[Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 7, Nr. 6-7 (97-98), Ende Juni – Anfang Juli 1939, S. 6]

Einer der Hauptpunkte in Stalins Bericht auf den 18. Parteitag in Moskau war zweifellos die von ihm bekanntgemachte neue Staatstheorie. Stalin wagt sich nicht aus angeborener Neigung, sondern gezwungenermaßen auf dieses gefährliche Gebiet. Noch vor sehr kurzer Zeit wurden zwei orthodoxe Stalinisten, die Juristen Krylenko und Pashukanis, entfernt und vernichtet, weil sie Ideen Marxens, Engels und Lenins über das allmähliche Absterben des Staates im Sozialismus wiederholten. Eine derartige Theorie konnte vermutlich von dem regierenden Kreml nicht angenommen werden. Schon so früh absterben? Die Bürokratie beginnt ja erst zu leben. Krylenko und Pashukanis sind doch offenbar «Strandräuber».

Die Wirklichkeit des Sowjetlebens.

Die Wirklichkeit des Sowjetlebens kann heute tatsächlich nur sehr schwer mit den Überresten der alten Theorie vereinbart werden. Die Arbeiter sind an die Fabriken, die Bauern an die Kollektiven gefesselt. Die Bewegungsfreiheit ist vollständig eingeschränkt worden. Es ist ein Kapitalverbrechen, zu spät zur Arbeit zu kommen. Als Verrat bestraft wird nicht nur jegliche Kritik an Stalin, sondern selbst der Mangel an natürlichster Pflichterfüllung, auf allen Vieren vor dem «Führer» niederzugehen. Die Grenzen werden von einem undurchdringlichen und in einem solchen Maßstabe bisher nirgends bekannten Wall von Grenzpatrouillen und Polizeihunden bewacht. Trotz aller Absichten und Vorsätze kann niemand das Land verlassen und niemand das Land betreten. Ausländer, die es vorsätzlich zustande gebracht haben ins Land zu kommen, werden weggeschafft. Der Geist der Sowjetverfassung, «der demokratischsten der Welt», besteht darin, dass jeder Bürger zu einer gewissen Zeit aufgefordert wird, seinen Wahlzettel für den einen und einzigsten von Stalin oder seinen Agenten ausgelesenen Kandidaten zu geben: Die Presse, das Radio, alle Einrichtungen der Propaganda, der Agitation und der nationalen Erziehung sind völlig in den Händen der herrschenden Clique. Während der letzten fünf Jahre sind nach offiziellen Ziffern, nicht weniger als eine halbe Million Mitglieder von der Partei ausgeschlossen worden. Wie viel erschossen, ins Gefängnis und ins Konzentrationslager geworfen oder nach Sibirien verbannt worden sind, wissen wir nicht ganz genau. Aber zweifellos teilen hunderttausende von Parteimitgliedern das Los von Millionen Nichtparteimitgliedern. Es dürfte äußerst schwer sein, in die Anschauungen dieser Millionen, ihrer Familien, Verwandten und Freunde die Idee einzutröpfeln, dass der Stalinsche Staat im Absterben sei. Er erwürgt Andersgeartetes, aber er gibt kein Zeichen des Absterbens. Stattdessen hat er den Staat in einem Maße ausgebaut, das bis jetzt in der Geschichte der Menschheit noch nicht da war.

Nach der heute gültigen Verordnung ist der Sozialismus verwirklicht worden. Nach dem offiziellen Text ist das Land auf dem Wege, den Kommunismus zu vollenden. Beria will die Zweifler eines Besseren belehren. Aber hier stellen sich die Hauptschwierigkeiten von selbst ein. Schenkt man Marx, Engels und Lenin Glauben, so ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft. Der Marxismus hat schon vor sehr langer Zeit alle anderen Definitionen des Staates als theoretische Fälschungen bezeichnet, die dazu dienen, die Profite der Ausbeuter zu verdecken. In diesem Falle: was bedeutet der Staat in einem Lande, wo die Klassen zerstört worden sind? De Weisen des Kreml haben sich über diese Frage schon mehr als einmal ihre Köpfe zerbrochen. Selbstverständlich gingen sie zuerst dazu über, alle diejenigen zu verhaften, die sie an die Marxsche Theorie des Staates erinnerten. Da dies allein nicht genügen konnte, war es notwendig, sich den Anschein einer theoretischen Erklärung für den stalinistischen Absolutismus zu verschaffen. Eine solche Erklärung wurde in zwei Raten herausgebracht. Vor fünf Jahren erklärten Stalin und Molotow auf dem 17. Parteikongress, dass der Polizeistaat notwendig war für den Kampf gegen die «Überbleibsel» der alten herrschenden Klassen und besonders gegen die «Splitter» des Trotzkismus. Diese Überbleibsel und Splitter, so sagten sie. waren zweifellos unbedeutend. Da sie aber besonders «toll» waren, verlangte der Kampf gegen sie höchste Wachsamkeit und Unbarmherzigkeit. Diese Theorie war unstreitig idiotisch. Warum sollte ein totalitärer Staat für den Kampf gegen «impotente» Überbleibsel geschaffen werden, wenn die Sowjetdemokratie sich als gänzlich hinreichend erwiesen hatte, die herrschenden Klassen selbst zu vernichten? Auf diese Frage ist nie eine Antwort erteilt worden. Aber selbst so musste die Theorie der Epoche des 17. Kongresses verabschiedet werden. Die letzten fünf Jahre sind im großen Ganzen dazu ausgenutzt worden, die «Splitter des Trotzkismus» zu zerstören. Die Partei, die Regierung, die Armee und das diplomatische Korps sind zum Weißbluten gebracht und enthauptet worden. Die Dinge gingen so weit, dass Stalin auf dem letzten Kongress gezwungen war, seinen eigenen Apparat zu beruhigen und zu versprechen, dass er in Zukunft solche Massensäuberungen nicht mehr vornehmen werde. Das ist natürlich eine Lüge. Der bonapartistische Staat wird in Zukunft genau so gezwungen sein, die Gesellschaft körperlich und geistig zu verschlingen. Das kann von Stalin nicht eingestanden werden. Er schwört, dass Säuberungen sich nicht mehr erneuern werden. Wenn dem so ist und wenn die «Splitter des Trotzkismus» gleichzeitig mit den «Überbleibseln» der alten herrschenden Klassen vollständig zerstört worden sind, dann ergibt sich die Frage: «Gegen wen richtet sich der Staat?» , Diesmal antwortet Stalin: «Die Notwendigkeit des Staates ergibt sich durch die kapitalistische Einkreisung und die von dort aus in das Land des Sozialismus überflutenden Gefahren. Mit der ihm eigenen Eintönigkeit eines Theologiestudenten wiederholt und wiederkäut er diese Idee immer und immer wieder: «Die Funktion der militärischen Unterdrückung innerhalb des Landes ist weggefallen und abgestorben. Die Funktion der militärischen Verteidigung des Landes gegen äußere Angriffe ist völlig erhalten geblieben.» Und weiter: «Was unsere Armee, unseren Spionagedienst anbelangt, so sind ihre Waffen nicht mehr nach dem Inneren des Landes gerichtet, sondern nach außen gegen den äußeren Feind.»

Stalin widerlegt seine alte Theorie.

Lasst uns um des Beweises willen annehmen, dass dies wirklich der Fall sei. Nehmen wir an, dass die Notwendigkeit der Erhaltung und Kräftigung des zentralisierten bürokratischen Apparates einzig und allein dem Druck des Imperialismus entspringt. Indes ist der Staat von Natur aus die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Andererseits ist es das Ziel des Sozialismus, die Herrschaft des Menschen über den Menschen in allen seinen Formen zu beseitigen. Wenn der Staat nicht nur erhalten, sondern gekräftigt und immer noch barbarischer wird, so bedeutet dies, dass der Sozialismus noch nicht vollendet ist. Wenn der bevorrechtigte Staatsapparat das Produkt der kapitalistischen Einkreisung ist, so bedeutet dies, dass in der kapitalistischen Einkreisung der Sozialismus in einem isolierten Lande nicht möglich ist. Indem Stalin versucht, seinen Schweif freizumachen, gerät er mit der Schnauze in die Falle. Indem er seine bonapartistische Herrschaft rechtfertigt, widerlegt er nebenbei seine Haupt-Theorie von der Errichtung des Sozialismus in einem Lande.

Stalins neue Theorie ist richtig, jedoch nur in dem Teile, in dem er seine alte Theorie widerlegt: überall sonst ist sie völlig wertlos. Für den Kampf gegen die imperialistische Gefahr muss natürlich der Arbeiterstaat, ein Heer, einen Generalstab, einen Spionagedienst usw. haben. Bedeutet dies jedoch, dass ein Arbeiterstaat Oberste, Generäle und Marschälle mit den dazugehörigen Gehältern und Vorrechten braucht? Am 31. Oktober 1920, zu einer Zeit, wo die spartanische rote Armee immer noch ohne einen Offiziersstab war, wurde eine besondere, die Armee betreffende Verordnung erlassen. In dieser hieß es: «Innerhalb der militärischen Organisation … gibt es Ungleichheit, die in einigen Fällen leicht verständlich und unvermeidlich, die jedoch in anderen Fällen vollständig unangebracht, übertrieben und verbrecherisch tat.» Der Schlusssatz dieser Verordnung lautete: «Ohne die unerreichbare Aufgabe der sofortigen Beseitigung aller und jeglicher Vorrechte in der Armee zu stellen, müssen wir systematisch danach trachten, diese Vorrechte auf ein striktes Minimum zu beschränken und so schnell wie möglich alle Vorrechte, die ganz und gar nicht durch die Erfordernisse der Militärtechnik bedingt sind und die nur das Gefühl der Gleichheit und der Kameradschaft in der roten Armee beleidigen, beseitigen.» Das war die Grundlinie der Sowjetregierung während jener Periode. Die heutige Politik nimmt eine diametral entgegengesetzte Richtung ein. Das Wachsen und das Erstarken der Militär- und Zivilkasten bedeutet, dass sich die Gesellschaft nicht nach, sondern von dem sozialistischen Ideal wegbewegt. Und zwar unabhängig davon, wer daran schuldig Ist: fremde Imperialisten oder einheimische Bonapartisten.

Dasselbe gilt für den Spionagedienst, in dem Stalin die Quintessenz des Staates sieht. Auf dem Kongress, auf dem die GPU-Agenten fast annähernd die Mehrheit bildeten, verlas er folgendes: «Der Spionagedienst ist unentbehrlich, um die Spione, die Mörder, die Strandräuber, die die ausländischen Spionagedienste in unser Land schicken, zu verhaften und zu bestrafen.» Es ist klar, dass niemand die Notwendigkeit eines Spionagedienstes gegen die Intrigen der Imperialisten leugnet. Aber das Wesen der Frage liegt in der Stellung, die die Organe des Spionagedienstes in Verbindung mit den Sowjetbürgern selbst einnehmen. Eine klassenlose Gesellschaft kann nicht verfehlen, sich durch Bande innerer Solidarität, zu binden. In seiner Rede verwies Stalin mehrere Male auf die Solidarität, die als «monolithisch» gepriesen wird. Jedoch benötigen Spione, Strandräuber, Saboteure einen Unterschlupf, ein sympathisierendes Milieu. Je größer die Solidarität in einer bestimmten Gesellschaft ist und je loyaler diese gegenüber dem bestehenden Regime ist, desto weniger Platz bleibt für antisoziale Elemente. Wie kann man jedoch erklären, dass in der UdSSR, wenn wir Stalin glauben wollen, solche Verbrechen begangen werden, die wir nirgendwo in der verfaulenden Gesellschaft finden. Nach alldem ist die Bosheit der imperialistischen Staaten an sich allein nicht genügend. Die Aktivität der Mikroben ist nicht so sehr durch ihre Bösartigkeit bestimmt, als durch den Widerstand, der sich ihnen in einem lebenden Organismus gegenüberstellt. Wie können Imperialismen in einer monolithischen sozialistischen Gesellschaft eine endlose Anzahl Agenten finden, die überdies die wichtigsten Stellen einnehmen? Oder um die Frage anders zu stellen: Wie kommt es, dass Spione und Saboteure fähig sind, in einer sozialistischen Gesellschaft Stellungen als Mitglieder und sogar Häupter der Regierung, als Mitglieder des Politbüros und der wichtigsten Posten in der Armee einzunehmen? Wenn schließlich die sozialistische Gesellschaft so wenig innere Geschmeidigkeit besitzt, dass man, um sie zu retten, auf einen allmächtigen, universalen und totalitären Spionagedienst zurückgreifen muss, dann müssen die Dinge sehr schlecht liegen, wenn an der Spitze dieses selben Dienstes ein Schuft wie Jagoda erscheint, der erschossen, oder wie Jeshow, der in Ungnade weggeschickt werden muss. Auf wen sich verlassen? Auf Beria? Die Totenglocken werden auch für ihn bald läuten.

In Wirklichkeit ist es wohl bekannt, dass die GPU nicht die Spione und die imperialistischen Agenten vernichtet, sondern die politischen Gegner der herrschenden Clique. Alles, was Stalin zu tun versucht, ist, sein eigenes Gefüge «theoretisch» zu untermauern. Doch welches sind die Gründe, die die Bürokratie zwingen, ihre wirklichen Ziele zu tarnen und ihre revolutionären Gegner als ausländische Spitzel zu bezeichnen? Die imperialistische Einkreisung erklärt die Gründe nicht. Sie müssen innerer Natur sein, d.h. sich aus der reinen Struktur der Sowjetgesellschaft ergeben.

Versuchen wir, einige ergänzende Beweise von Stalins eigenen Lippen zu finden. Ohne jeden Zusammenhang mit dem Rest seines Berichtes stellt er folgendes fest: «Anstatt der Funktion der Einschränkung hat sich selbst im Staate die Funktion des Schutzes des sozialen Eigentums gegen die Räuber und Veruntreuer des nationalen Eigentums offenbart». Das beweist, dass der Staat nicht nur gegen ausländische Spione, sondern auch gegen die einheimischen Räuber besteht. Und überdies ist die Macht dieser Räuber so groß, dass sie das Bestehen einer totalitären Diktatur rechtfertigt und selbst die Schaffung einer, neuen Staatsphilosophie bedingt. Es ist sehr einleuchtend, dass, wenn einer den anderen bestiehlt, es das grausame Elend und die offenkundige Ungleichheit ist, die den Diebstahl zur Regel innerhalb der Gesellschaft macht. Hier stoßen wir dicht auf die Wurzel der Dinge. Soziale Ungleichheit und Armut sind sehr bedeutende historische Faktoren, die durch sich selbst ein Bestehen eines Staates erklären. Ungleichheit bedingt immer einen Schutz; Vorrechte verlangen immer Schutz, und die Übergriffe der Enterbten verlangen Bestrafung. Das ist genau die Funktion des historischen Staates!

Was Stalin verschweigt.

Was den Aufbau der «sozialistischen» Gesellschaft betrifft, so ist in Stalins Bericht nicht das von Wichtigkeit, was er sagt, sondern das, was er mit Stillschweigen übergeht. Nach ihm wuchs die Zahl der Arbeiter und Zivilangestellten von 22 Millionen im Jahre 1933 auf 28 Millionen im Jahre 1938 an. Die obige Kategorie der Angestellten umfasst nicht nur die Commis der Konsumläden, sondern auch die Mitglieder des Rates der Volkskommissare. Arbeiter und Angestellte werden hier zusammengeworfen, wie das in den Sowjetstatistiken immer der Fall ist, um nicht die numerische Größe der Sowjetbürokratie, ihr schnelles Anwachsen und vor allem das rasche Steigen ihres Einkommens aufzudecken.

In den letzten fünf Jahren, die zwischen den zwei letzten Parteikongressen verflossen sind, ist nach Stalin das jährliche Gesamteinkommen der Arbeiter und Angestellten von 35 Billionen auf 96 Billionen angewachsen, d.h. um fast das Dreifache (wenn wir die Änderung der Kaufkraft des Rubels beiseite lassen). Aber wie sind diese 96 Billionen nun unter den verschiedenen Kategorien der Arbeiter und Angestellten verteilt? Davon kein Wort. Stalin sagt uns nur, dass der durchschnittliche Lohn eines Industriearbeiters, der sich im Jahre 1933 auf 1513 Rubel belief, im Jahre 1938 auf 3447 Rubel angestiegen ist. Die Statistik bezieht sich hier überraschenderweise nur auf die Arbeiter, aber es ist nicht schwer zu zeigen, dass vor her von beiden, Arbeitern und Angestellten, die Rede war. Es ist nur notwendig, das Jahreseinkommen (3417 Rubel) mit der Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten zu .vervielfachen, um das jährliche von Stalin erwähnte Gesamteinkommen (nämlich 96 Billionen Rubel) zu erhalten. Um die Lage der Arbeiter zu beschönigen, gestattet sich so der «Führer» die schäbigste Art der Gaunerei, vor der der gewissenloseste bürgerliche Journalist sich schämen würde. Wenn wir konsequenterweise die Änderung der Währungskaufkraft beiseite lassen, dann bedeutet das durchschnittliche Jahreseinkommen von 3417 Rubel nur, dass wenn man die Löhne der ungelernten und der qualifizierten Arbeiter, der Stachanowisten, Ingenieure, Fabrikdirektoren und Volkskommissare der Industrie zusammenwirft, wir einen Jahresdurchschnitt von weniger als 3.500 Rubel pro Person erhalten. Um wie viel ist der Lohn des Arbeiters, des Ingenieurs und des höchsten Personals in den letzten fünf Jahren angewachsen? Wie viel verdient ein ungelernter Arbeiter jährlich? Von all dem nicht ein Wort. Zu den Durchschnitts-Statistiken für Löhne, Einkommen usw. nahmen immer die tiefstehendsten Typen der bürgerlichen Apologeten ihre Zuflucht. In kultivierten Ländern ist diese Methode annähernd verabschiedet, seitdem sie nicht länger jemand betrügt. Jedoch ist sie in dem Lande, wo der Sozialismus vollendet ist und wo alle sozialen Beziehungen von einer kristallklaren Reinheit gezeichnet sein sollten, zur Lieblingsmethode geworden. Lenin sagte: «Sozialismus ist Buchhaltung». Stalin lehrt: «Sozialismus ist Bluff».

Nach alldem wäre es ein grobes Versehen, zu denken, dass die obige von Stalin genannte Durchschnittssumme alle Einnahmequellen der höchsten «Angestellten», d.h. der herrschenden Kaste einschließt. Tatsächlich erhalten die sogenannten verantwortlichen «Arbeiter» außer ihren offiziellen und verhältnismäßig bescheidenen Gehältern von den Schatzmeistern des Zentral-, oder der Lokalkomitees geheime Gehälter; zu ihrer Verfügung haben sie Automobile, (es existieren sogar besondere Pläne für die Produktion von Luxusautomobilen für den Gebrauch der «verantwortlichen» Arbeiter), fabelhafte Wohnungen, Sommerheime, Sanatorien und Spitäler. Um ihren Bedürfnissen oder ihrer Eitelkeit nachzukommen, werden alle Arten von «Sowjetpalästen» errichtet. Die besten Unterrichtsinstitutionen, die Theater usw. monopolisieren sie für sich. All diese enormen Einnahmen (es sind Staatsunkosten) sind natürlich nicht in den von Stalin erwähnten 96 Bilionen eingeschlossen. Und sogar Stalin wagt es nicht, die Frage aufzuwerfen, in welchem Verhältnis das legale Gesamteinkommen (96 Billionen) zwischen Arbeitern und Angestellten, zwischen ungelernten Arbeitern und Stachanowisten, zwischen dem oberen und dem unteren Drittel der Angestellten verteilt Ist. Es besteht kein Zweifel, dass der Löwenanteil des Zuwachses des offiziellen Gesamteinkommens den Stachanowisten, den Ingenieuren (Prämien) usw. zufällt. Wenn man mit Durchschnittszahlen operiert (deren Genauigkeit durchaus kein Vertrauen einflößt), wenn man Arbeiter und Angestellte in eine Kategorie zusammenwirft, wenn man die Spitzen der Bürokratie mit den Angestellten vermischt, wenn man Geheimfonds von mehreren Billionen verschweigt; wenn man vergisst, auf die Angestellten zu verweisen und die Arbeiter nur erwähnt, um ihren «Durchschnittslohn» zu bestimmen, so verfolgt Stalin damit ein einfaches Ziel: die Arbeiter zu betrügen, die ganze Welt zu betrügen und die ungeheuerlichen und stetig wachsenden Einkommen der privilegierten Kaste zu verbergen.

Ein Werkzeug für Räuber und Plünderer.

«Die Verteidigung des sozialistischen Eigentums gegen Räuber und Veruntreuer» bedeutet daher in neun von zehn Fällen die Verteidigung des Einkommens der Bürokratie gegen jegliche Eingriffe durch die unprivilegierten Schichten der Bevölkerung. Es würde auch nicht schlimm sein, hinzuzufügen, dass das geheime Einkommen der Bürokratie, ohne Grundlage in den Prinzipien des Sozialismus, noch in den Gesetzen des Landes nichts anderes als Diebstahl ist. Zu diesem legalisierten Diebstahl gibt es noch einen zusätzlichen illegalen Über-Diebstahl, vor dem Stalin gezwungen ist, seine Augen zu schließen, weil die Räuber seine stärksten Stützen sind. Der bonapartistische Staatsapparat ist daher ein Werkzeug zur Verteidigung der bürokratischen Räuber und Plünderer des nationalen Reichtums. Diese theoretische Formulierung kommt der Wahrheit viel näher. Stalin ist gezwungen, über die soziale. Natur seines Staates aus demselben Grunde zu lügen, aus dem er über den Lohn des Arbeiters lügen muss. In beiden Fällen tritt er als der Sprecher der bevorrechtigten Parasiten auf. In einem Lande, das durch die proletarische Revolution gegangen ist, kann man unmöglich Ungleichheit pflegen, eine Aristokratie schaffen und Vorrechte anhäufen, wenn man nicht über die Massen eine Sintflut von Lügen und eine immer ungeheuerlichere Unterdrückung bringt.

Veruntreuung und Diebstahl, die Haupteinnahmequellen der Bürokratie, bilden kein Ausbeutungssystem im wissenschaftlichen Sinne des Wortes. Aber von Standpunkt der Interessen und der Lage der Volksmassen sind sie unendlich schlimmer als jede «organische» Ausbeutung. Die Bürokratie ist keine besitzende Klasse im wissenschaftlichen Sinne des Wortes. Aber sie enthält in sich selbst in einem zehnfachen Maße alle Laster einer besitzenden Klasse. Es ist offensichtlich das Fehlen kristallisierter Klassenbeziehungen und ihr völliges Versagen auf den sozialen Grundlagen der Oktoberevolution, die dem Wirken der Staatsmaschine einen so krampfhaften Charakter verleihen. Wenn man den systematischen Diebstahl der Bürokratie fortbestehen lässt, dann ist der Apparat gezwungen, zu systematischen Akten der Straßenräuberei Zuflucht zu nehmen. Die totale Summe all dieser Dinge macht das System des bonapartistischen Gangstertums aus.

Wenn man glaubt, dass dieser Staat eines friedlichen «Absterbens» fähig sei, dann lebt man in einer Welt theoretischen Deliriums. Die bonapartistische Kaste muss zertreten, der Sowjetstaat regeneriert werden. Erst dann werden sich Aussichten.auf das Absterben des Staates eröffnen.

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